Kulturkritik-Sendung vom 09. 05. 2008 auf Radio Lora


Der bayerische Staat rüstet gegen soziale Bewegungen

Zeitdauer: 60 Minuten - Datenumfang ca. 50 MB

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Bayern voran: Der bayerische Staat rüstet gegen soziale Bewegungen.

Sind Organisationsformen einer Widerstandskultur nötig?

I. Der Neuentwurf des bayerischen Versammlungsgesetzes soll bis Juli 2008 verabschiedet werden.

Die Änderungen zum bisher gültigen Bundesgesetz betreffen (laut ver.di-Flugblatt) folgendes:

Eine massive Einschränkung der Demonstrationsfreiheit – z.B.
> Bereits zwei Personen, die sich laut unterhalten, können als Versammlung gewertet werden.
> Bereits Fahnen, Anstecker, einheitliche Schilder können nach willkürlicher Entscheidung der Polizei gegen das neu erfundene „Militanzverbot“ verstoßen und mit einer Geldbuße bis zu 3000 Euro belangt werden.
> Versammlungsleiter und Ordner werden zum verlängerten Arm der Polizei gemacht. Selbst Ordner müssen ihre persönlichen Daten angeben und können von Behörden und Polizei als „ungeeignet“ und „unzuverlässig“ abgelehnt werden.
> Versammlungen können nach Gutdünken von der Polizei in Übersichtsaufnahmen gefilmt werden, die Aufnahmen beliebig lange aufbewahrt werden.
> Zum Verbot einer Versammlung soll es ausreichen, wenn „Rechte Dritter unzumutbar beeinträchtigt werden“, womöglich z. B. von Verkehrsteilnehmern und Kauflustigen…

Ein Eindringen des Staates bei Veranstaltungen in Räumen – z.B.
> Versammlungsleiter von Veranstaltungen in geschlossenen Räumen müssen im Vorfeld und vor Ort ihre persönlichen Daten an die Polizei weitergeben. Die Polizei kann den Versammlungsleiter als „ungeeignet“ ablehnen.
> Der Polizei muss der Zutritt gewährt werden und ein „angemessener Platz“ eingeräumt werden – sonst sind bis zu 3000 Euro Bußgeld zu zahlen. Nur die Einsatzleitung der Polizei muss sich den Veranstaltern zu erkennen geben.
> Selbst nicht öffentliche Versammlungen (z. B. Streikversammlungen) können davon betroffen sein.

Aufzeichnung SAV-Ansprache auf der Demo

So ein Sprecher der SAV auf der ersten Demonstration gegen den Neuentwurf eines bayerischen Versammlungsgesetzes. Tatsächlich soll hier auf die Schnelle bis Juli noch ein Gesetz durchgepeitscht werden, das es in sich hat. Staatlicher Willkür werden alle Möglichkeiten eröffnet und den sozialen Initiativen ein gewaltiger Riegel vorgeschoben: Wer sich versammeln will, muss immer erst mal fragen, ob er genehm ist, bekommt polizeiähnliche Aufpasserfunktionen zugewiesen und wird empfindlich bestraft, wenn er dem nicht Folge leistet. Der Entwurf offenbart einen neuen Verstand der Staatsgewalt, der an andere Zeiten erinnert.

Herr Mühldorfer von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes beschreibt das so:

Aufzeichnung1 Seidl-Villa

Der Landtagsabgeordnete der SPD und Spezialist für Verfassungsrecht Roland Ritter meint zu diesem Gesetzesentwurf:

Aufzeichnung2 Seidl-Villa

II. Interview mit Hedwig

Auch die Gewerkschaft ver.di hat mit ihren Aktionen und Flugblättern in kürzester Zeit viel Öffentlichkeit zum Neuentwurf eines bayerischen Versammlungsgesetzes erreicht. Über 100 Gruppierungen und Aktivistinnen und Aktivisten haben sich hierbei schon namentlich zusammengeschlossen. Es scheint, dass sich hieraus ein breiter Widerstand entwickeln könnte.

Ich sprach mit der Initiatorin von ver.di, Hedwig Krimmer:

Aufzeichnung Interview

Hedwig, Du warst hierbei sehr engagiert. Wie schätzt Du die Stimmung in der Bevölkerung und bei den Arbeitnehmern insgesamt ein?

1. Nach den Vorlagen zur Änderung des bayerischen Versammlungsrechts werden bisher unantastbare Bürgerrechte schlichtweg ausgelöscht, wie z.B. die Freiheit, sich überall frei treffen und diskutieren zu können, ohne dass der Staat hierbei in irgendeiner Weise mitbestimmt, mithört oder gar restriktiv eingreifen kann. Nach dem Neuentwurf kann die Polizei nach Gutdünken, also nach rein subjektiver Einschätzung der zuständigen Personen, selbst bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, ja, sogar nicht öffentlichen Versammlungen (z. B. Streikversammlungen) den Versammlungsleiter ablehnen und die Versammlung von „verdeckten Ermittlern“ beliebig belauschen lassen, in Übersichtaufnahmen filmen und auf diese Weise ein vollständiges Raster politisch aktiver Menschen erstellen. Das ist nicht nur ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte auf ungehinderte Meinungsäußerung und freie politischer Betätigung, sondern per Mitbestimmung über die Versammlungsleitung auch eine Einwirkung in die Inhalte der Diskussionen.

Wie müsste man sich bei Ratifizierung eines solchen Gesetzes Veranstaltungen der Gewerkschaften vorstellen. Seht Ihr da eine Einflussnahme auf gewerkschaftliche Versammlungsfreiheiten und auf die Rechte der Arbeitnehmer? Werden Diskussionen zu Euren Aktivitäten und Forderungen selbst schon zu einer Mutprobe für die Beteiligten?

2. Bisher bestand das Demonstrations- und Versammlungsrecht auch darin, Plätze in geeigneter Nähe zum Adressaten zu wählen. Nach der Neuvorlage soll es zum Verbot einer Versammlung ausreichen, wenn „Rechte Dritter unzumutbar beeinträchtigt werden“, womöglich z. B. von Verkehrsteilnehmern und Kauflustigen. Was bedeutet das für die gewerkschaftliche Arbeit. Ist die nicht immer auch im Konflikt mit den Interessen des Kapitals? Könnten gewerkschaftliche Auseinandersetzungen dadurch erschwert werden, dass sie die „Rechte Dritter“ beeinträchtigen?

3. Neu erfunden ist ein sogenanntes Militanzverbot nach freiem Ermessen der Polizei. Was die Polizei als militant bezeichnet, hat man bereits schön öfter, besonders in den Verfahren zum Widerstand gegen den G8-Gipfel erfahren. Personen wurden willkürlich an der Teilnahme an diesem Widerstand gehindert, weil sie schon mal auf ähnlichen Veranstaltungen waren und schon auf den Verdacht hin, dass eine Kugelschreiberkappe aus Silberpapier eine Bombe sein könnte wurde jemand über die Dauer der Veranstaltung hinweg festgehalten. Die Tätigkeit der Rechtsanwälte wurde schon mit dem bestehenden Recht massiv eingeschränkt.

Die Verschärfung dieses Rechts zugunsten der Polizei wird kaum Terroristen treffen können. Sie verschiebt doch vor allem den Maßstab der Willkürlichkeit bei der Kontrolle ganz gewöhnlicher Bürgerbegehren. Was denkst Du, haben die Gesetzgeber hiermit vor?

4. Selbst Ordner müssen ihre persönlichen Daten vor einer Versammlung bzw. Veranstaltung der Polizei oder den Behörden überlassen. Auch sie können abgelehnt werden oder per Bußandrohung zum Einschreiten gegen die Teilnehmer der Versammlung gezwungen, also als Arm der Staatsgewalt missbraucht werden. Glaubst Du, dass sich noch Leute freiwillig als Ordner melden, wenn sie mit 3000 Euro Strafe bedroht sind, wenn sie sich nicht auf Polizeigeheiß gegen ihre Kollegen und Kolleginnen verhalten?

5. Es wird ja behauptet, dass die Pläne für eine neue Fassung des Versammlungsrechts vor allem für die Bekämpfung der Neofaschisten nötig sei. Wie wird das bei ver.di gesehen?

6. Die Verschärfung des Versammlungsrechts in Bayern wird vielleicht auch bundesweit Schule machen. Die Tendenz geht ja allgemein zu einer restriktiven Politik gegen soziale Bewegungen. So ist auch am letzten Mittwoch im April der Plan zur Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats vorgestellt worden, der nicht nur als Analyseinstrument, sondern auch als ”Entscheidungszentrum” und Machtbündelung der Staatsgewalt konzipiert ist. Bestehen innerhalb der Gewerkschaften schon bundesweite Überlegungen, ob und wie man diesen Restriktionen entgegenwirken kann.

7. Welche Möglichkeiten seht Ihr von ver.di, dieses und ähnliche Gesetzgebungen zu verhindern? Kann es sein, dass auch Streik zu einer politischen Widerstandsform werden könnte?

8. Wie ist die Zusammenarbeit der Gewerkschaft mit der linken Opposition in den Parlamenten?

III. Soziale Bewegungen und Staat

Die Behörden sollen eigentlich nur regeln, was dem Erhalt der gesellschaftlichen Verhältnisse dienlich ist. Vor zwei Jahren war das Versammlungsrecht und sein Vollzug deshalb auch noch Sache der Bundesbehörden, soweit dies nicht die Angelegenheiten der Kreisverwaltung, also die Feststellung der bestimmten Lokalität der öffentlichen Ordnung, betraf. Mit der neu aufgetanen Möglichkeit, dass dieses Gesetz durch die Länder selbst verfasst werden kann, hat sich das allgemeine Gesetz in seinen Bestimmungen und in seiner Durchsetzung regionalisiert. Kein Bundesrichter kann mehr Revisionen gegen die Landesgerichte annehmen können. Das werden besonders die Länder nutzen, denen das allgemeine Recht zu locker und unspezifisch ist. Bayern hat dies als erstes Bundesland in Angriff genommen.
Aber mit der Regionalisierung des Versammlungsrechts werden wesentliche Teile des Grundgesetzes relativiert und mit Durchführungsanforderungen überlagert, die dem Grundrecht oft widersprechen. Aber weil sie als eine bloßes Durchführungsrecht nun erscheinen, müssen sie nicht mehr die ursprüngliche Beachtung im Kontext zum Grundrecht behalten. Das Gewaltmonopol des Staates wird somit auf die Regionen übertragen und zugleich überregional freigeschaltet, angeblich, weil die öffentliche Ordnung durch militante Extremisten bedroht sei. Begründet wird das nicht näher, weil sich keine Begründung nachweisen ließe. Das ist das eigentlich Absonderliche: Der Staat gibt sich ängstlich gegen ein paar angebliche Extremisten.
Was er aber wirklich fürchtet ist das Aufkommen einer allgemeinen Widerstandsbereitschaft, eine Vervielfachung des Aufbegehrens dadurch, dass es sichtbar wird und einen Flächenbrand bewirken kann. Und das macht den Kern der neuen Gesetze aus: Sie sollen Angst machen vor dem Aufmucken der Bevölkerung, Angst vor Strafe und Angst vor Registrierung. Und es soll die Durchführungsorgane selbst ermächgtigen, dass ihnen praktisch Naheliegende auch ohne weitere Aufwände und Bedenken zu vollziehen.
Der Staat weiß offensichtlich schon besser als seine Bürger, was die Zukunft noch bringen wird. Er weiß, dass er ihnen noch viel Geld abziehen muss, um seine Schulden, bzw. die Zinsen hierfür zu zahlen, und dass das den Burgfrieden der Nation nicht fördert. Der Staat richtet sich mit zunehmender Verschuldung immer mehr gegen die Interessen seiner Bürger, die nicht nur in ihrer ökonomischen Existenz durch die Interessen des Kapitals bedrängt sind, sondern nun auch in ihrer sozialen Existenz durch die Beschränkung der Staatsausgaben prekarisiert werden. Immer mehr Menschen geraten an den Rand ihrer Gesellschaft, besonders Kinder, Alte, Kranken und Schwache, aber auch die Berufstätigen, die sich mit ihnen befassen, z.B. sozial engagierte Dienstleister, Betreuer, Ärzte, Krankenschwestern usw.,. Das Sozialwesen dieser Gesellschaft ist aus den Fugen. Ein allgemeines Aufbegehren würde es selbst an den Rand seines Fortbestehens bringen und eine wirkliche gesellschaftliche Wende erfordern.

Die politischen Funktionäre des Staatswesens reagieren nicht nur auf Probleme, die der Staat mit der Ausführung seiner allgemeinen Funktionen hat, die er z.B. für Gesundheit, Soziales, Verkehr, Arbeit usw. erfüllen muss. Sie machen ihre Gesetzesvorlagen und politische Abwägungen auch im Hinblick auf kommende Ereignisse, soweit sie schon überschaubar sind. Und das wissen die sogenannten Volksvertreter schon jetzt sehr gut: Die Zumutung der Belastungen durch das sogenannte „Allgemeinwohl“, also die steuerliche und soziale Belastung der Menschen, wird nicht ab- sondern zunehmen. Die sozialen Probleme, die Gewalt auf der Straße, die Isolation und Deprivation der immer ärmer werdenden Menschen enthalten ein Konfliktpotential, das er wirklich fürchten muss. Die Aufstände in den Pariser Vororten sind nicht als Einzelfälle zu verstehen; sie betreffen auch hierzulande schon – wenn auch noch nicht in französischem Ausmaß - die Befindlichkeit ganzer Bevölkerungsschichten.
Von daher ist der Entwurf des bayerischen Versammlungsgesetzes ein Vorstoß, hinter dem sich auch ganz allgemeine politische Interessen verbergen und wahrscheinlich längst überregional abgesprochen sind. In Bayern wird deren Machbarkeit geprüft. Und Bayern wird damit nicht allein bleiben. Zugleich wird parallel hierzu auf Bundesebene die Errichtung eines „Nationalen Sicherheitsrats“ vorbereitet. Hier soll die Staatsgewalt dann überregional organisiert und der Einsatz von sogenannten polizeilichen Hilfsorganen betrieben werden, zu denen dann auch die Bundeswehr gerechnet wird. Der Staat plant damit bereits die Inhaftnahme eines Teils seiner Bevölkerung, nämlich den Teil, der sich gegen seinen sozialen Ausfall zur Wehr setzen muss.

Den Politikern, Beratern und Strategen des Staats steht die zusammenbrechende Volkswirtschaft und die Finanzwirtschaft und die uneinholbare Staatsverschuldung vor Augen und sie wissen, dass wertlos zirkulierendes Kapital nur dann noch wertmäßig realisiert werden kann, wenn es aus dem Geld der Bevölkerung herausgezwungen wird, wenn also die drohende Inflation durch Mehraufwendungen ausgeglichen wird. Die Staatsverschuldung stellt eigentlich nur Geld dar, was an Steuern nicht eingebracht wurde, um die Kosten für die gesamte gesellschaftliche Reproduktion zu tragen, was also Kapital ist, das nicht real zur Kapitalverwertung eingesetzt wurde, was an Aufwand hierzu schlicht nicht bezahlt worden war. Die Staatsverschuldung stellt den Teil des Mehrwerts dar, der nun der gesamten Bevölkerung im Nachhinein der Produktion noch mal erneut in Rechnung gestellt wird, um den Kapitaleinsatz überhaupt zu verbilligen und so dem Fall der Profitrate des Kapitals entgegen zu wirken.
Die Summe der Staatsverschuldung ist real auf viele Generationen hinweg nicht einzulösen. Auch die Tricks, mit denen die Politik versucht, die Staatsausgaben und Sozialleistungen für die Bevölkerung zu mindern, können daran nichts ändern. Die Rente mit 67 oder 77 oder 87 wird zwar einige Rentenausgaben mindern, weil die Menschen natürlich weiterhin nur immer weniger Arbeit finden und vorzeitig in einen billigeren Ruhestand gehen müssen. Aber die Bürokratie und die Aufwendungen zur Durchsetzung der Staatsgewalt gegen sozialen Widerstand werden diesen seltsamen Gewinn aufbrauchen. Es wird daher auf hundert Jahre hinaus sicher niemandem wirklich besser gehen, solange derlei Staatsfinanzierung und Politik fortbesteht.
Im Gegenteil: Der Großteil der Bevölkerung wird immer stringenter von den Eliten abgeschottet, ihre Bildung und Ausbildung frühzeitig minimiert zugunsten einer Auslese, die dann extrem befördert wird. Die Renten und Sozialleistungen werden real noch so weit verknappt werden, wie es öffentlich noch darstellbar oder auch zu verheimlichen ist.
Der Staat ist wirklich und voll und ganz pleite. Das müssen wir uns klar machen. Er kann nicht mal mehr die Zinsen für seine Schuldverpflichtungen zahlen. Und von daher ist er zum eilfertigen Büttel des internationalen Finanzkapitals geworden. Nur dort kann er sich weiterhin seinen Fortbestand als Träger kapitalistischer Verhältnisse sichern, - solange eben, wie er sich als braver Schuldner verhält, und das heißt: Solange er seine Bevölkerung zu immer mehr Verzicht und Abgaben zwingt, um den Wert auf dem Finanzmarkt abzuführen, der als Ertrag aus den Staatsanleihen erwartet wird. Nur so kann er seine Anlagen weiterhin sichern und einer Geldentwertung, einer Inflation entgehen. In dieser Hinsicht handelt er wie eine Aktiengesellschaft, die vor allem auf den Spekulationswert ihrer Anlagen achten und alles tun muss, um die Erträge über dem Zinsniveau zu halten.
Derweil setzt der deutsche Staat auf eine Karte, die er noch hat: Die Entwicklung von Technologie, Pharmazie und Rüstungsindustrie zum Export. Während ein großer Teil unserer alltäglichen Gebrauchsgegenstände von chinesischen Arbeitskräften zu Billiglöhnen von maximal 200 Dollar pro Monat gefertigt ist, machen die Deutschen noch gute Geschäfte mit dem Verkauf von Hochtechnologie. Dazu benötigt man vor allem eine gute technologische Elite und einige Handlanger. Die Prosperität solcher Geschäfte bedeutet für das System Aufschwung, für die Masse der Beschäftigten einen Angleich an die Weltlage der Lohnabhängigen und Handlanger. Die Regierenden träumen daher jetzt von amerikanischen Verhältnissen, von einer Rüstungsindustrie, die in einer unaufhörlichen Waffenproduktion prosperiert, z.B. indem sie einen Raketenschutz für Europa errichtet – so wie es von der Regierung bereits vorgestellt ist. Der Glaube an die kapitalistische Ordnung ist zum Glaube an eine Weltordnung der Militärmächte geworden. Die Bundeswehr hat unter der Hand eine neue Bedeutung bekommen, wie auch die Rüstungsindustrie. Frau Merkel hat dies inzwischen öffentlich verkündigt. Das sogenannte Abschirmungssystem hat als FRONTEX bereits Namen und Struktur und Auftrag bekommen. Es sorgt auf allen Ebenen der zivilen und militärischen Möglichkeiten für eine Abschottung gegen die Armut der Menschen, deren Zahl immer größer wird. Die neue Weltordnung, wie sie von den amerikanischen Neocons durchgesetzt werden soll, ist längst als Ausweg aus dem Elend der kapitalistischen Verwertungsagonie auch in Deutschland angekommen.

IV. Internationale und regionale Widerstandskultur

Die Nationalpolitik ist ganz allgemein wahnsinnig geworden. Das geschieht weltweit und verbreitet allerhand Schrecken und Kriege. Existenzen werden durch Kapitalfiktionen verwettet und Kulturen zerstört. Noch wird versucht, ein Kapital, das für Mensch und Natur längst zu einer tödlichen Falle geworden ist, auf den Finanzmärkten und den Institutionen der Nationalstaaten zu retten. Die Staatsgewalten rüsten sich weltweit auf und bedrängen die Bevölkerung dieser Welt mit ihren absurd gewordenen Finanzproblemen, die allesamt nurmehr auf der Aufhäufung einer ungeheueren Masse von fiktivem Kapital beruhen. Wenn die Finanzblasen, die der Aktienmarkt seit über 10 Jahren nun schon bewegt, zugleich platzen sollten, dann können keine Wetten mehr eingelöst und damit das darin gebundene Geld wirklich wertlos werden und es droht der vollständige Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Das weiß man. Umso heftiger werden die Erhaltungskämpfe des Systems sein.
Es muss uns daher auch im Protest gegen die administrativen Anmaßungen des Staats und der Staatsgewalt klar sein, dass die repräsentative Demokratie und der bürgerliche Staat nicht selbst der wesentliche Grund für diese Politik der Angst ist. Das bürgerliche System ist überhaupt am Ende. Es konnte noch im 20. Jahrhundert nach dem Niedergang des deutschen Faschismus restaurativ für das Kapitalverhältnis agieren. Jetzt hat es hierfür keine Grundlagen mehr. Jetzt dreht es durch und sucht nach weiteren Mitteln, nach allen Formen der Kontrolle und Restriktion gegen seine Bürger und gegen die zukünftigen Generationen, die dem Staat als letzte verbliebene Bürgschaft für das Kapital verblieben sind. Das Kapital bestimmt die Menschen, wie ein Lehensherr seine Leibeigenen, funktioniert inzwischen de facto wie eine Feudalherrschaft. Es kann daher der Protest gegen die Staatsfunktionäre für sich nicht ausreichen, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.
So irrsinnig die Selbstrettungsversuche des Kapitals und seiner Administrationen auch sind: Auf der anderen Seite stehen immer in Wirklichkeit vor allem die Menschen, ihr Leben und ihre Kulturen. Wir können uns jederzeit unserer Funktion als Faustpfand des Staats für das Kapital widersetzen, wenn es gelingt, unser Leben auch nur zu einem Teil gegen die Macht des feudal bestimmten Kapitals, gegen den Besitz der Lizenzen, Immobilien, Banken usw. zu begründen. Wir haben alle Chancen dieser Welt, wenn wir uns von den tödlichen Kräften der Versteinerung und Verwahrlosung des Finanzwesens abwenden und eine Lebensproduktion auf der Basis unserer eigenen Lebensmöglichkeiten erreichen.
Mit den heute verfügbaren Mitteln ist dies einfacher denn je. Das Kapital selbst stößt lebenswichtige Industrie ab und rationalisiert zunehmend nur noch die Finanzmärkte und Staatshaushalte. Diese haben mit dem menschlichen Leben nichts mehr im Sinn. Sie beziehen hierzulande ihre Macht nur noch zu einem kleinen Teil aus der organischen Produktion, aus der Herstellung von Lebensmitteln und Gebrauchsgüter. Ihre Macht begründet sich vor allem als rein rechtliche und politische Gewalt eines fiktiven Besitzstandes, dem Besitzstand der Grundrente, dem Besitz an Boden, Immobiliern, Intelligenz, Infrastrukturen und einem ungeheuerlich gewordenen Gealtmonopol, den Besitz von Gegebenheiten also, die nicht aus Arbeit entstanden oder längst amortisiert sind. Weil ihr Besitz nicht mehr in das wirkliche gesellschaftliche Leben eingeht können sie ihr sogenanntes Recht auf Dauer nur mit Gewalt halten. Ihr Recht ist lediglich der Titel, ihr Handeln ist lediglich die Spekulation. Und zur Verschleierung der Gewalt, die sie hierzu benötigen, nutzen sie alle Reize einer Kultur der Massenevents.
Aber wo die Kultur der Reichen und Schönen, der Autoindustrie, der Erlebenskulte und der Volksarenen nicht mehr läuft, da zerfällt vieles in Staub und Asche, das heute noch alles Leben zu bestimmen scheint. Sobald die Menschen ihre Hoffnungen nicht mehr in diese Welt der Selbsttäuschungen setzen, werden sie anfangen, wirklich neue Gesellschaftsformen zu suchen und werden sie auch finden. Wer die Staatsverschuldung, die Börsenspekulation, den Sozialstaat usw. als einen „toten Hund“ begriffen hat, dem wird es nicht genügen, gegen all dies nur zu protestieren und dem nachzutrauern. Auch wenn wir uns dagegen verhalten müssen, so geht es im Wesentlichen nicht um ein bloß politisches Dagegenhalten. Es geht hauptsächlich darum, den bestehenden Verhältnissen das abzuringen, was zum Leben und Überleben der Menschheit auch wirklich taugt. Es geht um die Kultur eines Widerstands, der auch in der Lage ist, die Mittel der Lebenserzeugung und –erhaltung in die eigene Hände zu nehmen, sie zu Organisieren und einzusetzen. Es geht um eine Widerstandskultur, in welcher eine neue gesellschaftliche Kultur sich entwickeln kann, eine Kultur gegen jede Form eines Besitzstandes, der sich als Macht gegen die Menschen behauptet.
Diese Kultur kann sich nicht jenseits der bestehenden Verhältnisse entwickeln. Sie muss deren lebende Potenzen unmittelbar und direkt für die Menschen an Ort und Stelle ihres Lebens gewinnen. Die regionalen Ressourcen sind die Basis eigener Lebensproduktion und Reproduktion und stehen bereits längst in weltweiter Beziehung. Der Schein, dass sie nur von höheren Kompetenzen zu betreiben sind, nur vom Kapital der lokalen und internationalen Industrie und Kapitalwirtschaft genährt werden, verfliegt schnell, wo sich Kommunen dagegen zur Wehr setzen, sich regionale und überregionale Vertragswirtschaften bilden, die das Lebensinteresse der Menschen auch wirklich erfüllen.
In unserer nächsten Sendung am 14 Juni soll es um Organisationsformen von Widerstandskulturen gehen, die auch als globale Widerstandskultur vorstellbar sind.
Das wars für heute. Die Musik war von Holger Burner, der sie uns selbst überlassen hat. Und die Sendung kann auf der Website Kulturkritik.net weiterhin je nach Bedarf gehört oder gelesen werden. Also dann, bis zum Juni.
Redebeitrag auch auf http://versammlung.blogsport.de/



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