Das Christentum ist die Religion eines sozialen Erlösungsglaubens, der im Neuen Testament ausgebreitet ist. Der gerechte Gott des Alten Testaments, der prinzipiell als sittlicher Ersatz des bürgerlichen Rechts fungiert, wird durch den barmherzigen Gott des Neuen Testaments sozialverträglich, das heißt: mit den Anforderungen der bürgerlichen Kultur kompatibel. Die daran geknüpften Gebote der Nächstenliebe resultieren aus der Befreiuung der Erbschuld durch die Selbstaufopferung des Gottessohns am Kreuz, das zum Symbol christlicher Schuld und Finalität geworden ist. Die Nächstenliebe wird durch dieses Schuldverhältnis zur bürgerlichen Form der Menschenliebe (siehe auch Liebe), die zur Grundlage bürgerlicher Sozietät geworden ist. Was das bürgerliche Recht nicht einforndern kann, das fordert der Glaube an Jesus Christus: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst". Das ist die gedoppelte Selbstliebe, wie sie in der bürgerlichen Kultur allgemein ist: Die Beziehung auf andere in Relation zur Selbstbezogenheit; die Vermittlung seiner Selbstbeziehung auf andere (siehe zwischenmenschliche Verhältnisse). Die Formbestimmung der Menschen zum Mittel des Überlebens in unwirtlicher Welt ist daher für Christen unerkennbar, weil selbstverständlich. In diesem Verständnis von sozialer Liebe unterscheidet sich das Christentum wesentlich vom Judentum, das dem eine erkennende Liebe entgegenhält, das ist menschliche Erkenntnis von Gottes Gebotenheit im anderen Menschen, dem jede sittliche Persönlichkeit auch einzeln verpflichtet ist, gleichgültig, wie sie sich selbst hierin vermittelt. Dieser Unterschied im Liebesverständnis stellt die Schaftsnatur des christlichen Herdenmenschen auch ganz in einen Gegensatz zum Juden, dessen Liebe intellektuell wirkt und eher der Oberschicht zugeordnet wird. Im Judenhass ist daher meist auch der Hass auf "Höheres" und auf Intellektualität eingeschmolzen, der sich auch propagandistisch von Populisten zu einer vermeintlichen Systemkritik nutzen lässt, die sich äußerst Systemkonform umsetzt. Vielleicht rührt von da her auch die Trägheit der christlichen Kirchen gegenüber dem Faschismus. In sich haben Christen vor allem ein widersinniges Verhältnis zur Erkenntnis. War ihre Erbschuld aus dem alten Testament darin begründet, dass die Menschen das Paradies verlassen mussten, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten und somit dem Bösen gefolgt sind, so sind sie zugleich hiervon durch den Kreuzestod erlöst, haben also ihre Erlösung hinter sich (im Unterschied zu den Juden). Durch die Leidensgeschichte von Jesus Christus wird ihnen die Vertreibung aus dem Paradies zur Hinwendung auf das Paradies als Reich Gottes, so sie ihr Leben ihm weihen und dieses als Lebensschuld, als allseitiges Schuldgefühl von übermenschlicher Größe und Wucht eingestehen. Das macht Christen prinzipiell nur beschränkt verantwortlich für ihr Leben, Denken und Fühlen und belässt ihr Erkenntnisvermögen in ihrem Vermögen zur Schuldbekenntnis gegenüber dem Schmerzensreichen und dem übermenschlich Liebenden. Da sie sich durch die Liebe Gottes erfüllt glauben, müssen sie ihre Liebe selbst nicht erfüllen. Die Kritik Nietzsches am Christentum bezieht sich hauptsächlich auf dessen Widersinnigkeit und Selbstbetrug. Von da her stellte er einen weltlichen Übermenschen dem Gottessohn entgegen, den er allerdings in einem widersinnigen Geschichtsverständnis unterbrachte. | ![]() |