"Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition der toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen." (MEW 8, S. 115) ÄIm Unterschied zu einer wirklichen Schuld ensteht das Schuldgefühl durch eine Selbstbezichtigung aus dem Gefühl, einer verlorenen Wirklichkeit, ihr nicht genügt zu haben, sich darin selbst nicht wirklich eingebracht zu haben, weil die sich durch ihre Verpflichtungen notwendig macht, als Lebenspflicht aufkommt und durch deren Erfüllung auch die Lebensnotwendigkeiten befriedet. Es ist das Selbstgefühl eines Mangels, einer objektiv scheindenden Vorstellung von einer Selbstverwirklichung, der man nicht dienlich sein muss, um ihren Zwecken nützlich zu sein. Mit einem Schuldgefühl befindet sich ein Mensch in der Unangemessenheit einer Selbstwahrnehmung, die sich von ihm nicht wirklich umsetzen lässt, weil ihre Lebenswirklichkeit nur die Form einer abstrakten Notwendigkeit, eine bloße Formbestimmung ist. Ein Schuldgefühl ist objektiv nur dadurch begründet, dass ihm eine idealisierte Pflicht vorausgeht, ist also ein objektives Gefühl von Schuld, in welchem sich eine Lebensnotwendigkeit des Zusammenlebens (siehe z.B. Familie) reflektiert. Allerdings setzt dies voraus, dass diese einem Menschen einen Sinn abverlangt, den er nicht hat, den er aber haben soll, um für sie zu bestehen, und die ein Mensch als eigenen Sinn verspürt, als lebenden Sinn für sich beurteilt, weil er sich ihr aus eigener Notwendigkeit gebeugt hatte. Es handelt sich hierbei um einen Übersinn: ein Sinn, der geteilt wird, ohne Sinn zu sein; um einen Sinn, den man nur durch anderes oder für anderes hat. Gegen ihn fühlt man sich so, als ob man sich an seinem Leben und Lieben verschuldet hätte (siehe auch Familiensinn), weil man gegen eine höhere Absicht verstoßen habe, die aber nichts als eine blanke Notwendigkeit des Lebens ist. In den zwischenmenschliche Verhältnissen, worin Leben in seiner Form verbindlich geworden ist, indem es darin geborgen sein soll, also in den Räumlichkeiten einer Lebensburg, verlangt die Geborgenheit selbst eine Sicherheit, die nicht nur existenziell bzw. der Existenz entsprechend verlangt ist, sondern einer inhaltlichen Genugtuung, die den Eigenschaften einer Anwesenheit in diesen Verhältnissen entspricht. Verpflichtend ist darin daher nicht die Form des Existierens, wie es in den gewöhnlichen Verhältnissen der bürgerlichen Kultur nötig ist, sondern der inhaltliche Mangel, den diese Lebensform aufwirft. Es ist der Mangel, der aus der Isolation dieser Verhältnisse ergeht und der sich durch die Verdichtung ihrer Inhalte als deren Ungenügsamkeit gegen ihre Lebensform herausstellt. In der Verdichtung verlangt diese Form weit mehr, als in ihrer Realisation unter diesen Bedingungen möglich ist. Was sich darin nur vermitteln kann ist eine Formbestimmung, die formelle Aufhebung von Isolation, die formelle Anerkennung ihrer substanziellen Einzigartigkeit, die Unvollständigkeit der Fähigkeiten, die nötigen Beziehungen auch wirklich zu bergen, die Lebensbergung überhaupt sicher zu stellen. Im Grunde wird das Leben in dieser Form dahin getrieben, sich selbst zu verbergen. Die darin formulierte Lebenspflicht beruht auf der unentwegten Bearbeitung der in ihrer Trennung sich aufhebenden Lebensbezüge, aus der die Notwendigkeit zur Herstellung einer Symbiose ergeht, in der sich vereint, was sich als Leben behaupten lässt und behaupten muss (siehe auch Lebenspflicht). Familie ist die mächtigste, weil unmittelbar natürlich wirksamste Lebensstruktur, die ihren natürlichen Schutz für das Verhältnis der Generationen zugleich als gesellschaftliche Notwendigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft in der Bergung und Verborgenheit der Beziehungen abgesondert hat. Sie ist hier der Privatraum persönlicher Fürsorge, auf der das Sozialverhalten der Generationen beruht und worauf sie sich verlassen müssen, um einander leben lassen zu können, auch wenn ihre Beziehungen jeden anderen Sinn verloren hat. Die seelische Fürsorge ist mit der Fürsorge für Leib und Leben identisch geworden und hat alles, was darin in Beziehung geraten ist, zur familiären Liebesmacht verkehrt, zu einem Familiensinn, dem die Familie verpflichtet ist und in dem daher auch alles durch Liebesschuld aufgehoben ist. Obwohl diese nur durch die familiären Persönlichkeiten befolgt werden kann, ist sie ein Regulativ, von dem das Leben der Einzelnen abhängig ist, weil es für ihren Zusammenhalt sorgt. Im Prinzip dieser Fürsorge bemächtigt sich der von der Gesellschaft abgetrennte Lebensinhalt, der hier quasi eine Ersatzgesellschaft gefunden hat, eine Gesellschaft, die auf Schuldigkeiten gegen das Leben beruht und daher Lebensschuld als Liebesverhältnis veräußert, dem sich die Menschen liebend gerne entziehen würden, wenn sie darin nicht ihr ganzes Leben verwirklicht erkennen müssten. Solange ein Sinn zweifelsfrei bestünde, wäre ein Mensch an seinem Leben wirklich schuldig und könnte seine Schuld in seinem Tun auch wirklich und ursächlich erkennen. Bei einem Sinn aber, den er nicht hat, steht er in einer Schuld, die auch keinen Sinn macht, gegen die also nichts zu tun ist. Das vor allem macht die Stärke und Gewalt, die Macht von Schuldgefühlen aus. |
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