Rafael Capurro: "Einführung in die Angeletik"
“Hermeneutik im Rückblick
Zu Beginn des Artikels Hermeneutik im Historischen Wörterbuch der Philosophie schreibt Hans-Georg Gadamer folgendes:
"Hermeneutik ist die Kunst des hermeneuein, d.h. des Verkündens, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens, Hermes hieß der Götterbote, der die Botschaften der Götter den Sterblichen ausrichtet. Sein Verkünden ist offenkundig kein bloßes Mitteilen, sondern Erklären von göttlichen Befehlen, und zwar so, daß er diese in sterblicher Sprache und Verständlichkeit übersetzt. Die Leistung der H. besteht grundsätzlich immer darin, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen "Welt" in die eigene zu übertragen. Das gilt auch von der Grundbedeutung von hermeneia, die "Aussage von Gedanken" ist, wobei der Begriff der Aussage selber vieldeutig ist, Äußerung, Erklärung, Auslegung und Übersetzung umfassend. Die Aristotelische Schrift Peri hermeneias, ein Teil des Organon, ist gar keine H., sondern eine Art logische Grammatik, die die logischen Strukturen des apophantischen Logos (des Urteils) untersucht und alle anderen Arten des Logos, bei denen es nicht nur auf das Wahrsein ankommt, ausschließt. Die H. als Kunst gehört nach Platon nicht allem Ausdruck von Gedanken zu, sondern allein dem Wissen, das anweist, wie das des Königs, des Herolds usw. In der Epinomis steht die H. in einer Reihe mit der Mantik - offenbar als eine Kunst, die den Götterwillen erklärt, im klaren Doppelsinn von Mitteilen und Gehorsamfordern. Im späteren Griechischen kann dann hermeneia freilich sehr wohl "gelehrte Erklärung" und hermeneus "Erklärer" wie "Übersetzer" heißen. Aber es ist doch bezeichnend, daß die "Kunst" der hermeneia, die H., an die Sakralsphäre gebunden war, in der ein autoritativer Wille Maßgebliches dem Hörenden eröffnet. Davon ist in dem heutigen wissenschaftheoretischen Bewußtsein nichts mehr lebendig, auch wenn die Hauptformen, in denen H. ihre Ausbildung fand, die juristische Auslegung der Gesetze und die theologische oder philologische Auslegung heiliger oder klassischer Texte, den ursprünglich normativen Sinn durchaus noch implizieren. Wenn wir heute von H. reden, stehen wir dagegen in der Wissenschaftstradition der Neuzeit." (Gadamer 1974, 1061-1062)
Diesem Zitat folgt eine hier in geraffter Form wiederzugebende historische Darstellung ausgehend von der theologischen Hermeneutik, deren Hauptproblem das der allegorischen Interpretation oder des "Hintersinns" (hyponoia) war. Höhepunkt dieser Tradition war die von Cassian systematisierte Methode des vierfachen Schriftsinns. Die Reformation suchte mit einem neuen Methodenbewußtsein einen objektiven Sinn der Schrift, jenseits der Verzerrungen durch die kirchliche Tradition. Zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich eine allgemeine Auslegungslehre als Teil der Logik. Aber erst Schleiermacher löste die Hermeneutik von der biblischen Anwendung ab. Der normative Sinn eines Textes tritt zurück, zugunsten der Auffassung von Verstehen als kongenialer Wiederholung. Ferner löst Schleiermacher die Hermeneutik vom Schriftlichen ab. Das Gespräch als Begründung des Verstehens tritt in den Vordergrund. Die Hermeneutik wird zur Grundlage aller historischen Geisteswissenschaften. Die Idee der psychologischen Interpretation bildet dann den Ausgang für Diltheys Auffassung des Erlebnisbegriffes und der Geisteswissenschaften. Das sich daraus ergebende Problem der Relativität historischer Sichtweisen suchte man, von Max Weber bis Karl Jaspers, mit Hilfe von Weltanschauungstypologien zu meistern. Vor diesem Hintergrund würdigt Gadamer Heideggers philosophische Radikalisierung der Hermeneutik, die einen ersten Ausdruck in der Vorlesung von 1923 Hermeneutik der Faktizität (GA 63) fand. Im Gegensatz zu Husserls Wesensontologie legte Heidegger die Existenz selbst als Verstehen und Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten aus. Verstehen war dann nicht mehr ein Verhalten unter anderen, sondern die Grundbewegtheit menschlichen Daseins.
Heideggers Hermeneutik bildete wiederum den Ausgang für Gadamers eigene Wege. Dazu zählen seine Betonung des unaufhebbaren Beitrags des Interpreten im Verstehensprozeß und der unhintergehbaren Rolle der Sprache, die, nach eigenem Verständnis, in der Nähe von Wittgensteins "Sprachspielen" steht. Hermeneutik läßt sich dementsprechend nicht bloß als Teilgebiet der Logik auffassen. Aussagen sind Antworten auf vorausgehende Fragen. Ihr Sinn ist nicht von der Motivationsgeschichte - wissenschaftstheoretisch ausgedrückt: vom context of discovery - zu lösen. Damit bindet Gadamer die Hermeneutik an die Tradition der Rhetorik. Zugleich faßt er den Begriff der Sprache so weit auf, daß er alle menschlichen Ausdruckweisen umfaßt. Sprache meint letztlich die "kommunikativ erfahrene Welt selbst als eine offene Totalität" (Art. Herm., Sp. 1071). Die philosophische Arbeit als Arbeit am Begriff ist insofern wesentlich hermeneutisch, als die Weltauslegungen in "Begriffsworte" gefaßt werden, deren Sinn aber wandelbar bleibt. Gadamer schließt seine Ausführungen mit Hinweisen auf Habermas' Kritik am Universalitätsanspruch der Hermeneutik sowie auf den Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Psychoanalyse bei Paul Ricoeur und Jaques Lacan. Für Gadamer bleibt die Ausweitung der Hermeneutik auf die Praxis unerläßlich, deren Sinn aber nicht ausgeführt wird."
Aus:
http://www.capurro.de/hermwww.html#II.%20Hermeneutik%20ist%20die%20Kunst%20des%20hermeneuein