Siehe

Zum Thema siehe auch  => Psychologie  => Kritik



Psychologie und Kritik

 

Es gibt wahrscheinlich keine Wissenschaft, deren Gegenstand so ungeklärt ist wie der der Psychologie. Als Psyche promenieren dort alle möglichen Vorstellungen in der Gestalt gegensätzlichster Kategorien, als sei ihr Hauptproblem, was denn nun eigentlich schick ist: das Luststreben oder das Realitätsvermögen, das angemessene Verhalten oder die "gute Gestalt", das Verarbeitungsmuster oder die "Ordnung der Liebe" usw. Nur in einem ist man sich offensichtlich einig: Mit Seele hat das alles nichts zu tun. Das wäre ja dann auch nicht wissenschaftlich, vielleicht eher Religion, eine Theologie über den "Atem Gottes", welcher die durch ihn belebten (animierten) menschlichen Wesenszüge erklären soll. Ursprünglich war Psychologie ja auch ein Denkbereich der Philosophie, in welcher der theologische und humanistische Aspekt der Seele noch nebeneinander um ihre Verweltlichung im Subjektwerden des Menschen bedacht wurden. Aber die Anforderungen an die Wissenschaft wurden immer praktischer, das Seelische immer weltlicher und so sollte die Wissenschaft auch einen objektiven Begriff für das Subjektive finden, mit dem man es auch handhaben kann.

Aber dies ist nicht unproblematisch, ist es doch ein Subjekt, das ihn "finden" muss, und Psyche kein einfacher Gegenstand wie eine Sache, die schon von vornherein objektiv erkennbar wäre. Als Gegenstand der Wissenschaft muss Psyche überhaupt erst mal als Objekt erkannt und erkennbar sein. Das macht das Problem, das sich leider sehr wenige PsychologInnen explizit vorgeknöpft haben. Aber mit der Aufkärung schien das wie von selbst lösbar zu sein, hantiert sie doch mit einem Verhältnis von Natur und Geist. Zumindest in ihrer Naturform ließ sich daher Psyche schließlich gegenständlich begreifen, nachdem S. Freud ihre naturhafte Assoziationen bei der Beobachtung "hysterischer Anfälle" bemerkt hatte. Die Psyche wurde zur Inkorporation der Natur im Menschen, wie auch Konflikt mit ihr: Trieb und Schicksal.

Als Wissenschaft der Aufklärung spricht die klassische Psychoanalyse daher von einem Befriedigungsstreben, das aus dem natürlichen Befriedigungserlebnis des Säuglings an der Mutterbrust entwachsen und welches die Psyche begründen würde, einem Streben, "das Erinnerungsbild eines Befriedigungserlebnisse wiederherzustellen" (Freud in der Traumdeutung). Alle kulturellen Leistungen allerdings stünden hiergegen im Widerspruch, verlangen sie doch "Umwege zur Wunscherfüllung". Das seelische Streben sei demnach die hiervon unterschiedene subjektive Kraft, die sich immer der Realität, die von Freud mit Kultur und Zivilisation gleichgesetzt wurde, unterwerfen müsse. Hierdurch müsse es verschiedene "Schicksale" der Sozialisation, Phasen unterschiedlichster Körperinteresse (oral, anal, phallisch) durchlaufen und würde erst durch die kulturelle Initialisation in der Ursprungsfamilie, dem Ödipuskomplex, zu einer erwachsenen Identität kommen. Diese habe dann ein "Ich", welches das Luststreben mit den diesen äußerlichen kulturellen Anforderungen zu versöhnen verstünde.

Und das war dann für ein kritisches Verständnis auch das wesentliche Problem mit der PSA, wird sie doch in dem daraus erklärten "Psychischen Apparat", der aus Es, Ich und Über-Ich bestünde, zu einer kulturaffirmativen Theorie. Das allerdings ist sie schon in ihrer Grundlegung von Psyche überhaupt, kann die "Wiederherstellung eines Befriedigungsstrebens" doch nur konservativ begriffen werden.

Aber sie ist dennoch zweifellos für lange Zeit eine der prägnantesten Erfahrungswissenschaften gewesen, hat die Selbsterfahrungen zumindest des Bürgertums ziemlich genau beschrieben, allerdings eben nur als Selbsterfahrung, also introspektiv, und daher auch auf sich selbst nur zurückgeführt. in ihrer Individualität totalisiert, letztlich in einem subjektiven Zirkel erklärt.

Sie ist schon in ihrem Ansatz ein Unding. Und dennoch hatte sie kritische Momente dadurch, dass sie Kultur mit Lusterfahrungen konfrontierte, Erfahrungen aufnehmen und denkbar machen konnte und hie und da Protest erwecken konnte, wenn sie ihn nicht gleich mit Widerstandsanalyse wieder zunichte machte. Aber viele PsychologInnen und PhilosophInnen (so auch ein Großteil der Vertreter der "Kritischen Theorie") hielten sie für eine Wissenschaft menschlicher Subjektivität. Eine ganze politische Position, die man heute unter Neomarxismus oder Freudomarxismus subsumiert, erwuchs daraus und bemühte sich, den Gegensatz dieser (psychischen) Subjektivität mit einer Objektivität, zu welcher Kultur als "Überbau bürgerlicher Produktionsverhältnisse" gemacht wurde, nach den Vorlagen von Karl Marx zu erklären. Man sprach dann von einem "subjektiven Faktor" und einem objektiven, den Produktions- und Lebensverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Teilweise entstand so - besonders unter Hinzunahme der radikal naturalistischen Theorie von Wilhelm Reich - die Konfrontation von naturalisiertem Subjektivismus der Individuen und einem vollständig entäußerten Objektivismus einer Gesellschaft, mit der mensch nichts mehr zu schaffen hatte. Ein Teil der RAF nahm dies als Grundlage (SPK: "Aus der Krankheit eine Waffe machen").

Wie immer man dies auch heute sehen mag: Die Diskussion des "subjektiven Faktors" erbrachte zumindest viele Erkenntnisse über die Wirkungen einer entäußerten Gesellschaftlichkeit der Menschen auf die einzelnen Individuen. Antiautoritäre Kinderläden entstanden, worin nicht nur eine ekelhafte Libertinage getrieben wurde, wie das heute gerne dargestellt wird. Kinder konnten darin einen Teil ihrer Konflikte zum ersten mal wirklich unter sich austragen und zu einer sehr viel differenzierteren Haltung zueinander finden, als das auch heute noch in städtischen oder religiösen Kindergärten möglich ist. Psychische Probleme konnten zum Teil in einem Umfang auf die kulturelle Identität der Menschen zurückgeführt und hierdurch von ihr emanzipiert werden, als es heut überhaupt noch der Vorstellung nach anstünde. Eine antipsychiatrische Bewegung wäre heute undenkbar, sind doch auch die Psychopharmaka bei gleichen Wirkstoffen (also Blockaden der Synapsen) so exakt in ihrer Tiefenwirkung abgestimmt, dass sich die Empfindung eigener Wirklichkeit praktisch "nicht mehr lohnt". Außerdem ist diese Wirklichkeit oft so unerträglich geworden, dass jede psychiatrische Anstalt hiergegen gemütlich wirkt, sich sozusagen als "Krankheitsgewinn" herausstellt. 

In der Auseinandersetzung um die kritische Theorie trat Klaus Holzkamp als Subjektwissenschafter auf, der die geschilderten Probleme darin auflöste, dass er Subjektwissenschaft als Erfahrungswissenschaft  zu installieren gedachte, die sich von der Psychoanalyse darin unterschied, dass sie die Lebensbedingungen der Menschen zur Erfahrungsgrundlage machte und alle zivilisatorischen Elemente als erfahrungsimmanent ansah und nicht im Antagonismus zu menschlichen Trieben (wie z.B. die Freud'sche Auffassung von Kultur dies impliziert). Dies erschien ja auch konsequent, war dadurch doch der subjektive Zirkel der Introspektion zumindest dem Verfahren nach aufgelöst. Er  verstand seine Grundlegungen zur Psychologie als Minimalkonsens, der zur Diskussion des Psychischen nötig sei eben als minimalistische "phänomenanalytische" Strukturaussagen, die sich wissenschaftslogisch belegen ließen.

Zur Phänomenanalyse allerdings braucht man keine Lebensbedingungen. Hier kann vermittelst eines Kunstgriffs über Phänomenologie eine im wahrsten Sinn des Wortes fantastische Brücke geschlagen werden, indem Bedingungen selbst phänomenal begriffen werden, also wie formallogische Aussagen, die im Nachhinein durch ihr empirisches Ausmaß der Begründung dessen dienen, was sie überbrücken (normalerweise baut man Brücken, weil etwas zu überbrücken ist).

So gerieten diese "Minimalaussagen" zu einem Maximalkonzept, worin die Unterschiede von Psyche und Subjektivität gänzlich verschwanden, folgerichtig auch die von Wissenschaftsmethodik, Erkenntnistheorie, Psychologie und Philosophie. Und vor allem war mit solchen Strukturaussagen das Problem erst so richtig entstanden, wie diese überhaupt Psyche als Form von Subjektivität erklären wollen. Sie müssten eigentlich einen Prozess der Formentwicklung erklären, den Subjektivität durchläuft, also eine Formbildung, welche unabhängig von ihrem Inhalt zu begreifen ist: Formbestimmung. Es wäre tatsächlich ein gutes wissenschaftliches Resultat, wenn Psyche als Formbestimmung begriffen wäre, - nicht unbedingt als "psychische Struktur", aber doch als psychische Notwendigkeit in einer Welt, welche den Menschen ihr Leben zu einer Form macht, die nicht die ihre, also sie bestimmend ist. Die müsste dann aber zugleich etwas anderes sein, als Subjektivität als solche sein kann. Als solche Form wäre Psyche das Gegenteil von Subjektivität, nämlich Selbsterleben als formalisierte Wahrnehmung.

Nach Holzkamp findet die Entwicklung der Subjektivität unmittelbar im Wahrnehmungsprozess statt als "Struktur der unmittelbaren Erfahrung". Sie hat demnach eine allgemeine, quasi ontische Grundlage, deren Verselbständigung zu erklären wäre als Verselbständigung von Erfahrung. Doch Holzkamp begreift Wahrnehmung als Phänomen, und zwar nicht wie Hegel in der "Phänomenologie des Geistes", sondern als Struktur der Erfahrung schlechthin, welche subjektive Tätigkeit "selbstgesetzter Aufgaben" enthält. Dies macht seine Auffassung von Subjektivität aus, wie sie von Leontjew formuliert war als "Aneignung der gesellschaftlich-historischen Erfahrung durch den Menschen". Es sei daher "das Problem der Vermittlung zwischen Ontogenese und der Aneignung in der individuellen Entwicklung einer Klärung" zuzuführen (KH "Sinnliche Erkenntnis, S. 188). Dies war für ihn nun die Verbindung zum sogenannten dialektischen Materialismus, wie er von Marx begründet worden sei (gemeint ist wohl der historische Materialismus). Leontjew habe im wesentlichen das marxistische "Aneinungskonzept" im "Hinblick auf seine psychologische Implikationen entfaltet". Was sich bei Marx auf die historische Dimension menschlichen Handelns bezog in einer Gesellschaft von Individuen unterschiedlichster Fähigkeiten als gesellschaftliche Totalität ihres gegenständlichen Verhaltens, war bei Leontjew allerdings nur noch die Reproduktion der "historisch gebildeten Eigenschaften und Fähigkeiten des Individuums". "Die geistige, die psychische (!) Entwicklung einzelner Menschen ist demnach (!) das Produkt (!) eines besonderen Prozesses " der Aneignung " den es beim Tier nicht gibt". (Leontjew zit. nach Holzkamp)

Psychologie wird als Theorie allgemeinmenschlicher Subjektivität im Verhalten gegenständlicher Produktion zu einer Gesellschaftswissenschaft, die zugleich nur zu untersuchen hat, wie sich diese gesellschaftliche Tätigkeit in den Individuen nachvollzieht, sprich: widerspiegelt. Das ist ein ziemlich überdimensioniert aufgestelltes Konzept mit minimalster Gegenständlichkeit, dessen "Witz" ist, die individuelle Aneignung von Gegebenheiten gesellschaftlicher Produktion gleichzusetzen, indem ihre Strukturen identifiziert werden.

Natürlich kann man damit nicht kritisch auftreten. Bis dahin handelt es sich um eine strukturelle Theorie der Anpassung, wie sie im Behavourismus auch vorliegt, allerdings jetzt unter dem Schirm des kritischen Anspruchs der Aufklärung: Der Mensch müsse vor allem als ein mündiges Subjekt in seinen Verhältnissen auftreten können. Dies allerdings würde Psychologie unnötig machen. Es könnte dem Klienten solcher Psychologie ja auch einfach nur mit Wissen und Bewusstsein erläutert werden, was die Verhältnisse seines Leidens zusammenhält und ihm entfremdet. Aber Psyche selbst wird hier dem Bewusstsein gleichgesetzt, die Welt der Gefühle und Selbstbezogenheiten zum Arsenal eines allgemeinen Wissens gemacht. Kritische Psychologie wird zum Werkzeug einer "mündigen Anpassung", indem sie als Psychologie antritt, als Subjekt einer Beratung und Therapie, die Subjektivität kritisch objektiviert, vernünftig macht. Die kritische Psychologie will also dem Menschen dabei behilflich sein, eine kritische Beziehung zu seiner Gesellschaft zu finden, indem sie die Gesellschaftlichkeit seiner Widersprüche in ein Verhalten transformiert, das sie durch sich schon wissentlich überwunden hat. Sie besteht damit aus dem dürftigen Resultat, dass sie ihren Gegenstand, die Psyche nicht als Widerspruch einer zwischenmenschlichen Wirklichkeit in den Selbstgefühlen und Wahrheitsfragen der Menschen, sondern durch Haltung und Verhalten angeht. Sie trägt dazu bei, dass Gegebenes angeeignet wird, indem sie behauptet, dass diese Aneignung dem gesellschaftlichen Verhalten der Menschen in der Produktion gleichzustellen wäre. Diese Absurdität war ja schon damit gesetzt, dass Subjektivität, Geist und Psyche mit menschlicher Tätigkeit überhaupt schon gleichgesetzt worden war.

Aber wo sich alles so einig ist, ist ja eigentlich keine Kritik möglich. Wie soll man davon sich noch unterscheiden, wie soll darin noch ein Bruch nachzuvollziehen sein? Das Kunststück geht nun erst richtig los.

Holzkamp führt erst mal die "bedeutungsbezogene Wahrnehmungsweise" ein, welche durch eine "sachlogische Adäquanz der Tätigkeitsvollzüge" (KH, S. 191) im Verhältnis zur Wahrnehmung entsteht. Hieraus entstünden "funktionale Systeme" im Wahrnehmungsrozess, die "dispositionelle Voraussetzungen für die immer adäquatere Wahrnehmung von gegenständlichen Bedeutungen" sind. So erreicht der Mensch seine "volle Gesellschaftlichkeit" durch " die individualgeschichtliche Reproduktion der historisch gewordenen, in den materiellen Produkten menschlicher Arbeit verkörperten gesellschaftlichen Erkenntnis- und Tätigkeitsmöglichkeiten des Menschen auf einer bestimmten geschichtliche Entwicklungsstufe". Obwohl auf diese Weise schon zum Gewohnheitstier runtergemacht, wird "der Mensch" zudem noch durch die Auswirkungen des Tauschwerts auf seine Wahrnehmung belästigt " wohl vor allem deshalb, dass hier noch "kritische Psychologie" entstehen kann. Zu den "Gegenstandsbedeutungen" kommen nämlich auch noch Generalisierungen der Wahrnehmung hinzu, die sie zu "Dimensionen personaler Bedeutungsmomente" bringen, welche "die interpersonale Wahrnehmung bestimmen" (S. 197). Da in der "bürgerlichen Gesellschaftsstruktur" ganz besondere "Gesellungseinheiten" bestünden, kann man das Ganze nämlich jetzt mal durch die "Marxsche Kritik der politischen Ökonomie" betrachten (S. 203). Und wo landen wir dann also? Natürlich dort, wo alle ihn finden, wenn sie ihn denn suchen: Im Warenfetischismus, der als Vorlage beliebigster Interpretationen für Geisteswissenschafter schon länger Gang und Gebe war (207). Und was lernen wir daraus? Dass die Wahrnehmung durch das Kapitalverhältnis "dimensioniert" wird (233f).

Der Warenfetischismus zieht sich wie eine Zauberformel durch alle kritischen Theorien, die ihre Kritik nicht im Verhältnis zu ihrem Gegenstand gefunden haben und sich von daher Anleihen bei einer vorhandenen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt nehmen, die hierbei allerdings zeugleich verkommt. Es scheint, als wüsste niemand mehr, dass die Marx'schen Aussagen zum Warenfetischismus aus der Analyse der Wertform kommen, worin die Geldform als Verkehrung der relativen Wertform reflektiert und in Analogie zu bürgerlichem Selbstverständis gebracht wird. Doch Wissenschaft sollte sich nicht durch Selbstverständnisse begründen. Sie muss ihren kritischen Verstand schon noch selbst entwickeln. "Kritische Praxis" kann nicht in der Psychologisierung der Kritik der politischen Ökonomie entstehen, sondern in der Überführung der inneren Problematik der Menschen in eine äußere, damit das "unglückliche Bewusstsein zum Bewusstsein eines Unglücks" (Marx) werde. Das bleibt die Grundlage menschlicher Emanzipation - und daran geht Holzkamp vollkommen vorbei. Er überträgt lediglich eine im Grund systemkonforme Wahrnehmungstheorie in eine bestehende Kritik der politischen Ökonomie, die darin selbst nur zu einer Aufklärung über die ganz objektivistisch gefassten Widersprüche einer bürgerlichen Gesellschaft verkommt, die sich darin nicht stören, nicht mal irritieren lassen wird.

Wolfram Pfreundschuh