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Wolfram Pfreundschuh
Kultur, das ist der Sinn und Geist, den Menschen ihren Produkten und ihren Lebensverhältnissen geben, ihre durch sie selbst geschaffene individuelle und gesellschaftliche Natur und Lebensäußerung, Substanz des menschlichen Reichtums, die jede Kultur ausmacht, Sinn, wie er von und für Menschen geäußert ist und diese auch begeistert und worin sie sich auch als Mensch erkennen, erzeugen und anerkennen. Als solches ist Kultur nichts abgeschlossenes Ganzes und hat daher auch keinen Begriff, sondern lediglich Worte, die dies beschreiben als Momente des Lebens. In der bürgerlichen Kultur aber erscheint dieser Sinn abgetrennt von den gesellschaftlichen Lebensprozessen - nicht als ihr Erzeugnis, als Produkt ihres gesellschaftlichen Zusammenwirkens und Zusammentragens, sondern als Verhältnis, das die Menschen nur unmittelbar und ausschließlich für sich und unter sich finden und haben (siehe zwischenmenschliche Verhältnisse) und worin sie sich als das wahrnehmen, als was sie sich darin wahrhaben. Reichtum und Vielfalt der Erkenntnis, welche die Menschen in der bürgerlichen Kultur haben, besteht aus einer ungeheuren Aufsammlung von Wahrnehmungen.
Jede Wahrnehmung ist zunächst eine Beziehung zu ihrem Gegenstand, Element der Erkenntnis, - und diese ist lebendige Gewissheit der Menschen, in der sie eins sind mit sich und ihrem Gegenstand, unmittelbare wie mittelbare Wahrheit ihres Lebens, Lebensidentität, Lebensäußerung und Lebensgenuss in einem: Sinnlichkeit und Leidenschaft. Jede Wahrnehmung ist also eine Form der Erkenntnis, eine Empfindung, in welcher zugleich gefühlt wird, was ihren Gegenstand ausmacht, wie er geschaffen und beschaffen, was er für den Menschen, was seine menschliche Substanz ist. Diese wird im Gefühl so wahrgehabt, wie sie für den Menschen ist, was dem Menschen für sein Leben gegenständlich wirklich und wirksam ist, was in ihm wirkt und sich in seinem Leben so gegenständlich bewahrheitet, wie er sich zugleich durch die Empfindung in seinem Gegenstand bewahrheitet. So wird in der Empfindung gegenständliches Leben als das wahrgenommen, was es für das Befinden des Menschen ist und in den Gefühlen der Menschen vergegenständlicht sich dieses zugleich wie eine innere Wahrheit des menschlichen Lebens schlechthin als das, was Menschen vom Leben unter bestimmten Lebensbedingungen wahrhaben. Was sie von ihren Sinnesäußerungen gegenständlich empfinden ist zugleich ein Sinn, der ihr Leben selbst auch in ihnen ausfüllt. Doch das Leben, das als eigenes empfunden wird, und das, was die Menschen ausfüllt, ist nicht identisch: Der gegenständlich empfundene Sinn ist nicht unmittelbar der gefühlte. Die Vermittlung von beiden ist Gegenstand und Mensch in einem, Subjekt und Objekt, wovon weder das eine noch das andere unterscheidbar sind. Objektive Bestimmungen sind in der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbar subjektiv, weil die Verhältnisse darin auf einer objektiv subjektiven Sache, auf einer widersprüchlichen Allgemeinheit beruhen: Geld. In der Form von Kapital bestimmt sich dieses Verhältnis als Verhalten der Geldverwertung, als Entfaltung der Selbstbezogenheit des Geldes durch das, was sie Menschen hierfür an Lebensprozessen einbringen. Dieses Verhältnis macht in der Reinform vorwiegend Dienstleistungsgesellschaften aus, soweit sie sich durch Exportwirtschaft erhalten und entfalten können.
In dieser Beziehung ist es gleichgültig, was Menschen wirklich sind, soweit sie sich als gegenseitige Objekte ihres Subjektseins genügen können. Doch dies Identische von Subjekt und Objekt ist eine doppelte Bestimmung, worin sie sich weder als Objekt noch als Subjekt erkennen können: Sie erscheinen sich darin als Träger wie Erzeuger ihres Schicksals, als für sich selbst geschaffene Konstruktion (siehe Konstruktivismus) und müssen sich daher auch als Selbsterzeugnis ertragen. Dies macht die Fremdbestimmung (siehe Entfremdung) ihres Erkenntnisvermögens, macht die Unerkennbarkeit ihrer menschlichen Beziehungen in ihren sachlichen Verhältnissen aus: Ihre zur Sache gewordene Menschlichkeit erscheint unmittelbar als die Vernunft ihrer Sachlichkeit. Was sie von ihren Beziehungen wahrnehmen ist nicht das, was sie darin wahrhaben. Ihre eigene praktische und sinnliche Existenz ist ihnen darin entzweit in Empfindungen, die keine Gefühle haben und Gefühle, die sie nur für sich empfinden können. Es ist die Lebensform des Geldbesitzes, der subjektive Kern des Geldverhältnisses, dass ihnen ihre eigene Sinnlichkeit nur vermittelt begegnet. Ihre Wahrnehmung vermittelt sich in ihrer Selbstwahrnehmung, in der sie ihre Gefühle haben, in der ihre abstrakte Sinnlichkeit auf sie als Selbstgefühl zurückkommt.
So erleben sie ihre Wahrnehmung als einen Sinn für sich, den sie nur außer sich als das gewinnen können, was sie darin wahrhaben: Selbstgefühl durch andere, durch zwischenmenschliche Beziehungen, in denen sie empfinden, was sie dort für sich finden und sich in dem fühlen, was sie dort von sich erkennen können, sich als Mensch unter Menschen vermittelt, sich selbst als Mittel ihres Verhältnisses, als Mensch, der zugleich Mitteil des Menschseins ist, als Teil menschlicher Anwesenheit schlechthin, in der sich zwar Menschen mitteilen, aber nicht wirklich konkret sind. Unter Menschen sind sie Teil einer Menge, die sich in Masse bewegt, und finden für sich, was sich von ihnen darin in Bewegung hält. Sie sehen ausdrücklich von sich ab, wenn sie unter Menschen sind und tragen doch durch ihre eigene Anwesenheit ihren Anteil am Menschsein. So ist ihre abstrakt bezogene Sinnlichkeit, der abstrakt menschliche Sinn ihrer Wahrnehmung zugleich auch konkret als sinnliches Dasein ihres anwesenden Menschseins. Dies macht ihre Form und ist die Substanz der Formbestimmung ihrer Beziehung, die Realabstraktion von Sinn: Körper. Und seine Ausdehnung als Raum macht den Umfang der körperlichen Anwesenheiten aus.
Die Begriffssubstanz der bürgerlichen Kultur ist der Raum, seine Größe ist die Ausdehnung menschlicher Anwesenheit darin, menschliche Dichte, menschliche Nähe ohne Sinn, Menschenmasse als Massenmensch. Die Menschen relativieren sich darin als Menschen, reduzieren sich auf das Menschsein, wie es ihnen in der Wahrnehmung einer bestimmten Masse als gesellschaftlicher Mensch erscheint. Ihre Selbstwahrnehmung, sofern sie sich als darin bestimmte Form der Erkenntnis bewahrt, wird davon beherrscht, ihr körperliches Sein zum Träger ihres gesellschaftlichen Seins (siehe Körperfetischismus). Hiervon sind alle Momente der bürgerlichen Kultur bestimmt und hierin entfaltet sich die Logik der Kultur bis hin zu allen ihren selbständigen seelischen Ausprägungen.