Entnommen aus "Die Auflösung der Irrenhäuser" von Josef Zehentnauer, Patrizia d'Onofrio, Francesco Tullio und Lorenzo Torisini © 1983, Verlag der Arbeitsgruppe Psychologie München, ISBN 3-924074-00-3

Die Therapeutische Gemeinschaft

In einer therapeutischen Gemeinschaft haben Patienten und Klinikmitarbeiter (also Schwestern~ Pflegers Ärzte, Psychologen usw;) möglichst gleiche Rechte, die Meinung eines jeden sog gleichermaßen beachtet werden, von !edem wird maximale Toteranz gegenüber dem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft erwartet, In häufigen Diskussionen und Versammlungen werden die alltägltcheh Probleme des Zusammenlebens und die Schwierigkeiten außerhä~ der Klinik aufgegriffen und erörtert; das Ziel Ist eine Wledereingliederung des Patienten in das soziale Geflecht.

Wie viele andere Formen der Gruppenpsychotherapie entstand die therapeutische Gemeinschaft nach dem 2. Weltkrieg in England. Es war zumindest anfangs ein Versuch, eine psychiatrische Klinik nicht nur als Verwahranstalt für Psycho-Patienten zu benutzen~ sondern mit Hilfe der Gemeinschaft aller Patienten und Klinikmitarbeiter ein seelisch gestörtes Gemeinschafts-Mitglied wieder "fit" zu machen.

Seit 1950 wurden in England und Nordamerika viele Versuche unternommen, therapeutische Gemeinschaften durchzuführen, etwa In Prlvatklinlken oder in sogenannten offenen oder halboffenen Abteilungen traditioneller psychlatrischer Anstalten; außerdem entstanden eine Reihe anderer "Rehabilitatlons"-Einrichtungen, beschützende Werkstätten, Nachtkliniken und ähnliche Institutionen. So wurden die Fundamente einer Psychiatrie geschaffen, die sich später als Sozial-Psychiatrie bezeichnete und mit deren Hilfe abwelchend ~ Menschen auch außerhalb der Irrenhausmauern behandelt und erforderllchenfalls unter Kontrolle gehalten werden konnten.

Gewiß waren in den englischen oder amerikanischen Konzepten elner therapeutischen Gemeinschaft einige Elemente zu finden, die deutlich gegen die traditionelle Irrenhaus-Psychiatrie gerichtet waren, aber letztendlich wurde ein Patient lediglich "fit gemacht", um wieder unauffällig leben und arbeiten zu können, In einer Gesellschaft, deren Grundsätze und Regeln nicht in Frage gestellt wurden.

Bei den englisch-amerikanischen Versuchen mit der therapeutischen Gemeinschaft fehlte meist die politische Reichweite ~ die Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen. In Gorizia aber wurde die Auseinandersetzung mit den Problemen des Patienten über die Anstaltsmauern hinausgetragen, die sozialen Verhältnisse außerhalb des Irrenhauses wurden angegriffen.

Sehr viel weniger bekannt als Gorizia sind die Versuche in Nocera Superiore (bei Salerno), eine therapeutische Gemeinschaft aufzubauen. Ähnlich wie in Gorizia scheiterten auch diese Aktivitäten an der mangelnden Unterstützung durch die Gemeindeverwaltung.

Aber es gab auch sehr viel vorsichtigere und bescheidenere Nachahmungen der englischen Erfahrungen: In nicht wenigen italienischen Kliniken oder Anstaltsabteilungen wurden Versuche unternommen, die gröbsten Mißstände ein wenig zu lindern und den "neuen" Zustand dann mit dem stolzen Ausdruck "comuniti~ terapeutlca" zu schmücken. "Auch äußerst banale Änderungen In der Organisation, kleine Verbesserungen im Stationsleben der Patienten ~ bescheidene Vergnügungen, die den Patienten zugestanden wurden, erhielten das Prädikat eines therapeutischen Vorgehens; wenn ein kleines Orchester für Patienten aufgebaut wurde, reichte das manchmal schon aus, um von einer therapeutischen Gemeinschaft zu sprechen." (2) Die Italienische Nachkriegspsychiatrle war verkrustet, ratlos, ohne Per­spektiven, denn während der über 30 Jahre dauernden faschistischen Herrschaft konnten keine neue Gedanken verwirklicht werden. So überlebten die Irrenhäuser und mit ihnen die Psychiater das Ende des Krieges und die ersten Nachkriegsjahre meist ohne einschneidende Änderungen. So ist das begeisterte Interesse an den ausländischen Erfahrungen verständlich: vor allem am Konzept der therapeutischen Gemeinschaft, der englischen Anti-Psychiatrie von Laing und Cooper etc., der Territorlalpsychiatrie in Frankreich, weniger an der französischen institutlonalisierten Psychotherapie.