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Rubrik Psychiatrie: Die Auflösung der Irrenhäuser in Italien

von Josef Zehentbauer

Erschienen: 1998
Mitte der 70ger Jahre des 20. Jhd. waren die Mißstände der Psychiatrie als gesellschaftliche Wirklichkeit eines funktionalen Ausbeutungssystems begriffen, als fortdauernde Umsetzung eines gesundheitspolitischen Denkens, welches den Vernunftbegriff der Aufklärung zum allseitigen Prinzip der Machbarkeit fortgetrieben hatte, die sich in der Beherrschung des Irrsinns durch Chemie und Drogen weit irrer zeigte, als Irre überhaupt sein können. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Betonierung der Nervenbahnen durch Übertragungsblockaden, die Anwendung von Elektroschocks und Insulinschocks und die therapeutisch und pädagogisch gemeinte Fesselung und Fixierung von Menschen, die in Zuständen höchster Angst sind, offenbahrte damals der Öffentlichkeit immerhin die irre Funktionalität der Wissenschaft selbst, die gerade kurz zuvor im Faschismus ihr Unwesen noch als Staatsakt ausgegeben hatte. Während die Verrücktheiten sich bis weit in die bürgerlichen Lebenswelten getrieben hatten, war zugleich die Bedrohlichkeit solcher Art von Wissenschaftlichkeit auch von dort erkennbar. Da die massiven Eingriffe in die Biophysik und Rechtssicherheit von Menschen durch nichts zu begreifen war als durch die Fuktionalisierung des Gesundheitswesens, war auch die Interessensgleichkeit von Staat und bürgerlicher Wissenschaft unübersehbar. Und dies brachte viele Menschen gegen die Anwendung von gesundheits- und persönlichkeitsdeformierenden biopolitischen Machtmittel auf.
Erkennbar wurde auch, wie absurd die therapeutischen Einrichtungen, die offenen oder geschlossene Anstalten der Psychiatrie, zur Linderung der seelischen Not von Menschen funktionierten. Es lag nicht an den Mitteln oder an der Einsatzbereitschaft der dort arbeitenden Menschen, sondern an dem Ausgrenzungssystem als solches, an der fortbestehenden Sortierung von 'lebenstüchtigen' und 'lebenuntüchtigen' Menschen, die in entgegengesetze Entwicklungen getrieben wurden.
Dies wurde in der italienischen Antipsychiatriebewegung lebhaft und bis in die Gesetzgebung hinein bekämpft und erstmals in der Geschichte der Psychiatrie tatsächlich umgesetzt durch die Auflösung der italienischen Irrenhäuser. Leider hat die Funktionalität der Gesellschaft auch in Italien gegen die Dysfunktionalität des Gemüts und des Lebensmuts die souveräne Hoheit des Anpassungsdruckes zurückgewonnen. Die Irrenhäuser wurden von der Sozialpsychiatrie wieder zurückgebaut, wenn auch in moderneren Strukturen.
Der Geist der Antipsychiatriebewegung zeigt sich in diesem Text und appelliert auch heute noch an die Menschen, sich gegen die Zwänge des Funktionalismus zu besinnen. Er zeigt die Menschen in ihrer allseitigen Bezogenheit und Lebendigkeit, wie sie nur in den Aktionen menschlicher Emanzipation durchbrechen. Um daran zu erinnern und auch die Aussagen dieser Zeit vor dem Vergessen zu bewahren, wurde dieser Aufsatz, der einst in der Antipsychiatriezeitung TÜRSPALT veröffentlicht wurde, hier noch mal aufbereitet.

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