Wolfram Pfreundschuh (08.10.10)

Deutscher Spuk und der Selbstwert der Eliten

In Deutschland brodelt es gewaltig. Das Geld für die Kommunen und Länder wird immer knapper, die Staatskasse ist leer und der Staat ist tief verschuldet. Die Verlängerung der Atomlaufzeiten macht offensichtlich, dass der Staat sein poltisches Kontinuum verloren hat, dass er nur noch dem Kommando der Geldwirtschaft gehorcht und üble Geschäfte mit der Sicherheit der Bevölkerung betreibt. Wahnsinnsprojekte der Stadt- und Regionalplanungen lassen in dieser Situation zudem befürchten, dass die Zukunftsplanung jeden rationalen Maßstab verloren hat. Wir haben in der letzten Sendung darüber berichtet (siehe "Die Verödung der Städte und Gemeinden"). In Stuttgart gedeiht ein Volksaufstand, der die repräsentative Demokratie an die Grenze ihrer Vermittelbarkeit treibt. Zudem hat die Beanstandung der Hartz-IV-Regelsätze durch das höchste Verfassungsorgan der Bunderepublik eine „Korrektur“ dieser Sätze abverlangt, die auf eine Verhöhnung der arbeitslosen und arbeitenden Menschen hinausgelaufen ist. Und die Unruhe auf den Straßen, die zunehmenden sozialen und politischen Konflikte und moralischen Infragestellungen des ganzen Rechtssystems und des Verhaltens der Exekutivorgane legen eine Unsicherheit bloß, in der das Verhältnis von Politik und Wirtschaft in autoritativer Exekution von Staatsgewalt untergeht. Die Unmöglichkeit der Politik, sich noch für die wirtschaftlichen Interessen des Landes adäquat einzusetzen, belegt die Tatsache, dass sie nur noch den Zwängen des Finanzmarktes Folge leistet.

Man könnte also meinen, dass das vielen Sorge bereitet und Fragen entstehen, was an diesem Geldsystem falsch läuft oder falsch ist. Aber in der Mitte der Deutschen bestehen sie inzwischen eher schon aus Antworten: Unsere Gesellschaftsordnung werde missbraucht. Schlimmer noch: Deutschland schafft sich selbst ab; der deutsche Rechtsstaat sei bedroht und fremde Religionen infiltrieren unsere Kultur, die Basis der Menschenrechte. Das sagt nicht nur Sarazzin und rechte Autoren wie z.B. Michael Mannheimer (in seinem Buch „Eine Abrechnung mit einem Mythos“). Das meinen in ihren Hinterfragungen auch Claus von Dohnanyi, Alice Schwarzer und viele andere, inzwischen die meisten. Laut Emnid-Umfrage glauben schon 56 Prozent der Befragten, dass uns die Migranten in Deutschland schaden würden, natürlich nicht, weil sie hier arbeiten und außer ihrem Lebensunterhalt auch Mehrwert erwirtschaften und Sozialabgaben und Steuer bezahlen, sondern weil sie andersgläubig, nicht kulturkonform sind. Ihre Religion wird als Störung ausgemacht und die Migranten darin unterschieden in Christen und Moslems. Nicht z.B. Italiener, Spanier, Griechen werden störend empfunden, sondern Moslems. Der Bundespräsident musste ihre grundgesetzlich garantierte Glaubensfreiheit sicherstellen um einen Kulturkampf zu verhindern. Die Glaubenshaltung von 4,2 Millionen Migranten, der Islam, sei als Religion in der Bundesrepublik gleich zu stellen mit dem Christentum und dem Judentum. Das hat nun den Kulturkonflikt vieler Deutschen ganz auf den Punkt gebracht. Er ist alles andere als beruhigt. Das wirtschaftlich und gesetzlich notwendige Recht der Glaubensfreiheit wird inzwischen durch kulturkämpferische Positionen bedrängt – und zwar aus der bürgerlichen Mitte heraus. Die repräsentative Demokratie verliert ihre Protagonisten. Um sie geht es da nicht mehr.

Aber Moment mal: Migranten? Unlängst hieß das doch noch anders. In Europa war es die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Und die war ausgemacht und wird im Mai nächsten Jahres absolut durchgesetzt. 62% der nach Deutschland Zugewanderten kommen aus Europa, wenn auch nicht alle aus EU-Ländern. Die meisten leben und arbeiten in den Großstädten. Was soll daran befremdlich sein? Ohne sie ginge hier gar nichts mehr. Die meisten sind zudem eingebürgert und kaum mehr als Fremdlinge zu erkennen. Man drückt es daher jetzt etwas vorsichtiger aus und nennt es „Migrationshintergrund“. Dass es um eine bestimmte Art von Religiosität geht, wird dabei verschleiert: Die Religion der weniger angepassten Migranten, derjenigen nämlich, die eine Kulturanpassung nicht so einfach mitmachen. Und die erscheint plötzlich besonders nötig, um dem Arbeitsdruck des Kapitalismus bedingungslos folgen zu können.

Bleiben wir aber erst mal so allgemein auf der Ebene eines festgestellten "Migrationsproblems", dann stellt das Statistische Bundesamt die Arbeitsbeziehungen der Migranten wie folgt dar:

„Erwerbstätige mit Migrationshintergrund sind doppelt so häufig als Arbeiterinnen  und Arbeiter tätig wie Erwerbstätige ohne Migrationshintergrund (48,5% gegenüber 24%), Angestellte und Beamte sind unter ihnen entsprechend selten vertreten. Erwerbstätige mit Migrationshintergrund üben ihre Tätigkeit vor allem im Produzierenden Gewerbe sowie im Handel und Gastgewerbe aus. Hier sind zusammen 64% aller Menschen mit Migrationshintergrund tätig, aber nur 50% der Menschen ohne Migrationshintergrund.“

Entsprechend höher sind die Ausfallzeiten der Migranten, die zum größten Teil dadurch verursacht werden, dass sie als niedrig qualifizierte und also billige Arbeitskräfte zwar gesucht waren, aber immer auch die ersten Arbeitslosen sind, die der Markt absondert. Menschen mit "Migrationshintergrund" im Alter von 25 bis 65 Jahren sind daher häufiger arbeitslos als gleichaltrige Personen ohne "Migrationshintergrund" – genau 13% gegenüber 7,5%. Logisch ist auch, dass Personen mit "Migrationshintergrund" im Unterschied zur Bevölkerung ohne "Migrationshintergrund" geringer qualifiziert sind. Sie werden ja auch für gering qualifizierte Arbeit gebraucht. Fast 10% haben keinen allgemeinen Schulabschluss und 51% keinen beruflichen Abschluss. (1)

Durch die Einwanderung  hat sich die Arbeitsstruktur für die eingesessenen Deutschen insgesamt zu höher qualifizierten Tätigkeiten nach oben verschoben – und zwar vor allem in Westdeutschland. Im Jahr 2005 lebten von den 15,3 Millionen Menschen mit "Migrationshintergrund" 96% im früheren Bundesgebiet und in Berlin, also dort, wo auch höherer Lebensstandard herrschte und herrscht und die Arbeitslosigkeit wesentlich geringer als im Osten geblieben war. Die Zahl der Migranten korreliert in keiner Weise mit der der Arbeitslosen, auch wenn sie unter denen einen höheren Anteil haben.  

Arbeitslosigkeit hat eigentlich nichts mit Religion zu tun. Sie entsteht durch die kapitalistische Rationalität, die Kosten der Arbeit überall zu drücken, wo es die Entwicklung der Produktionsmittel erlaubt. Aber das kostet dem Staat natürlich auch Geld und bürgerliche Integrität. Arbeitslosigkeit erzeugt nicht nur Armut im privaten Kämmerlein, sondern auch soziale Konflikte, Aggression, Krankheit, Verwahrlosung und Kriminalität - und eine Kultur der Außenseiter und Randgruppen. Der gesellschaftliche Selbsterhalt wird in seinem Maß dadurch insgesamt auch teurer: Sozialhilfe, Polizeieinsatz, Bildung, Rechtsmittel, Amtshilfe usw. Diese Kosten zu mindern, gehört daher auch zur kapitalistischen Rationalität, denn sie würden die Gewinne wieder aufbrauchen. Hierfür muss man den Anpassungsdruck erhöhen und mehr Loyalität einfordern. Aber es bleibt dennoch die Kehrseite dieser Maßnahmen, dass das Geld in den Kassen nicht nur knapper wird , sondern dass es sich auch entwertet, wenn damit zu sparsam umgegangen wird.

In Krisenzeiten greift der Kapitalismus alle an, weil er das allgemeine Faustpfand der Gesellschaft - das Geld – auf der einen Seite zum Stocken bringt, wo Kosten gemieden werden, während es sich auf der anderen in Massen aufhäuft, die nicht mehr in den Warenkreislauf zurückkommen. Dort kann es seinen Wert nur noch als potenzielles Anlagevermögen, als fiktives Kapital darstellen, während es überall fehlt, wo Investitionen zum Selbsterhalt der Menschen und der Infrastruktur nötig sind, die keinen Mehrwert bringen und also keine Investitionsanreize darstellen. Auf der einen Seite, wo es knapp wird, verursacht das Schulden, auf der anderen bläht es Spekulationen auf, die zu einem beträchtlichen Grad wieder zusammenfallen und Geldwert vernichten. Geld, das schon erarbeitet war, muss dann erneut erwirtschaftet werden, um die Schulden, die seine Disfunktionalität verursacht, zu begleichen (siehe Negativverwertung).  Das bringt die Sozialstaatlichkeit , die in den Jahren 1889 bis 1891 eingeführt worden war, beträchtlich aus dem Ruder.

Die Grenzen der „Sozialstaatlichkeit“ des Kapitals

Der aufgeklärte Staat will souverän sein, unabhängig von Religion und Unterwerfung und sozialistischen Ideen. Bismarck hatte daher  schon 1878 die Kirche von ihren vielen Bildungsaufgaben suspendiert, die Sozialisten verboten und zugleich die Fürsorge des Staates für den schlecht gestellten Teil der Bevölkerung gesetzlich gesichert. Damit sollte der Klassenkampf beendet sein und die Klassenkonflikte durch soziale Vorsorge gemindert und befriedet werden. Der Staat wollte selbst die Funktionen übernehmen, die bis dahin die sozialen, religiösen und moralischen Instanzen noch inne hatten. Indirekt war der Sozialstaat ein Resultat aus den Kämpfen der deutschen Arbeiterbewegung

Aber die Wirtschaftskrise hat inzwischen seine Mittel massiv beschränkt, weil die sozialen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen wieder zunehmen und die Kosten in die Höhe treiben, während zugleich die Einnahmen der Sozialkassen sinken, weil also Geld den Berg der Probleme nicht mehr lösen kann und die politischen Möglichkeiten zu seiner Minderung ausgeschöpft sind. Durch die Ausbeutung seiner Infrastrukturen ist der Staat in eine unumkehrbare Verschuldung  getrieben worden. Die Versorgung muss jetzt billig und der arbeitende Mensch willig sein. Da geht es dann doch wieder um das soziale Verhältnis als Ganzes – und fehlt das Geld, so ist eine staatstragende Moral besonders nötig, um die Funktionalität des Ganzen überhaupt noch aufrecht zu erhalten. Das meint nicht nur die Staatsregierung, sondern die besser gestellte Mitte der Republik, besonders auch die Kulturbürger.

Für die Errichtung einer Moral ist es nötig, einen Schaden als Gefahr für das Ganze, für den Staat und „das Volk“ vorzustellen, für dessen Abwendung sie stehen soll und wodurch eine scharfe Grenze zwischen Gut und Böse ausgerichtet wird. Da achtet man wieder auf den Glauben an das Gute und schlecht ist nicht nur, wer als ein vermeintlicher Verursacher  der Kosten zur Belastung wird, sondern wie er sich auf das Gemeinwohl bezieht, wie also auch sein Glaube an Glück und Zukunft dabei und wie seine moralische Integrität zu bewerten  ist. Der von Bismarck dereinst befriedete Kulturkampf lodert jetzt in einer anderen Dimension auf. Es geht nicht um die religiöse Selbstermächtigung des Christentums in den staatlichen Bildungseinrichtungen, sondern um die angebliche Verweigerung ihrer Nutzung durch Moslems, die sich in ihrer Parallelkultur angeblich gegen die christliche Kultur bewahren würden, deshalb sozial herausfallen, sich durch ihre Religion dem gewöhnlichen Sozialverhältnis und Bildung fremd halten und dann mangels Anpassung als Arbeitslose dem Sozialsystem Geld kosten würden. Auf diese Weise wird nun doch wieder der Glaube zum Austragungsort von Konflikten und ein Andersgläubiger zum Schädling der Nation. Nationalismus keimt auf: Fremder Glaube, fremde Moral und fremde Religion werden zur Grenze zwischen Schaden  und Nutzen der sozialen Beziehungen in der betroffenen Nation. Religion wird wieder zu einem staatspolitischen Machtfaktor. Der Fremde steht dabei als Andersgläubiger unter Generalverdacht, die Nation zu gefährden.

So wird ein Mensch der mit "Migrationshintergrund" gelabelt wurde, der gerade noch den Arbeitsplatz nebenan belegte, wieder zum Fremden sobald ihm die Teilnahme am Arbeitsprozess unmöglich gemacht wurde. Weil er dann sozial und wirtschaftlich abgesondert ist, will man ihn auch als Sonderling haben, um sich nicht mit seiner Lage auseinanderzusetzen, sich aus der eigenen Angst frei zu machen und eine soziale Belastung von sich abzuweisen. So wird er als Fremder zu fremder Kultur und als fremde Kultur zum Andersgläubigen. Nationalismus ist die Ideologie einer objektiven Verwertungskrise des Kapitals, die pervertierte Rückbesinnung auf ein Gemeinwesen, das es nicht mehr gibt. Subjektiv allerdings verhalten sich die Menschen darin auch wirklich zu einander, weil sie tatsächlich nach Gemeinschaft suchen, wenn ihre Lebensgrundlagen zersplittert sind. Wo sie es können, nutzen sie ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, um ihre persönliche Integrität in der Krise zu bewahren, um sich von Niedergang und Verwahrlosung abzugrenzen und um auf der anderen Seite, auf der Seite der Hoffnung und Zukunft zu stehen. Sie integrieren sich durch ihre persönliche Selbstverpflichtung in das Staatsganze und begreifen sich darin als besonders vergemeinschaftete Menschen, als personifizierte Sozialkörper eines Sozialwesens, das ohne sie nicht mehr sein kann. Und sie werden dann ihre Menschlichkeit als besondere Befleißigung feiern und das Menschenrecht, von dem sie gerne reden, als ihren Selbstwert küren. Daran gemessen sind die Schlechten die anderen, die nicht mit einem so selbstlosen Selbstwert ausgestattet sind, die Ausnützer dieses absurd gewordenen Sozialwesens. Es sind die Armen und Fremden. Die Lüge ist perfekt, die Täuschung geradezu makaber: Da werden dann die Ärmsten auch noch kulturell an den Pranger gestellt, ihre Kleidung, ihre Religion, ihre Familienabhängigkeit  und dergleichen.  Die Herrscher sind immer aufgeklärt und mit Aufklärung kann die herrschende Vernunft auch am besten durchgesetzt werden. Es ist die Vernunft des Bildungsbürgertums, der herrschenden Avantgarde der bürgerlichen Kultur, die nichts von ihrer Kehrseite wissen will und der es nicht mehr nur um sie selbst sondern zugleich um etwas viel Größeres geht: Um das Wohl und Wehe der Geschichte überhaupt.

Die Wohlfahrt und die Hölle

Vielleicht sind nun aber doch einige erschrocken, wie schnell das geht, dass alles, was bisher so klar war, mit einem Schlag auf den Kopf gestellt werden kann. Gerade noch war Arbeitslosigkeit als ein allgemeines Phänomen der Kapitalwirtschaft und deren Krisen begriffen, und schon geht es jetzt nur noch darum, wie man die Arbeitslosen selbst als bloße Last sozialer Leistungen herausstellt und denunziert. Es war doch gerade noch offensichtlich, dass das Kapital Menschen zu Billiglöhnen auch aus dem Ausland sucht und Verhältnisse schafft, in welchen letztlich alles, was Wert erbringt, ausgeplündert wird, dass Billiglöhne bis unter die Selbsterhaltungsgrenze durchgeboxt werden und unzählige Menschen in ein soziales und wirtschaftliches Abseits gedrängt werden. Doch jetzt ist der Staat pleite, das Ganze funktioniert nicht mehr, und es wird viel Mühe aufgewendet, die Menschen mit positiven Nachrichten aus einzelnen Bereichen der Wirtschaft zu füttern, um die zentrale Bedrohung durch den Finanzmarkt wegzukaschieren. In der Wolke der Desinformationen zerstiebt die Wählermeinung in desolate Teile, die auch die Gespaltenheit des Meinens offenbart, das eigentlich die großen Parteien zusammenhalten sollte. Kleinlichkeit tritt jetzt großmännisch auf und erweist unentwegt  die Wirkungslosigkeit einer Politik, die sich darin erschöpft, noch mögliche Geldquellen zu entdecken. Der politische Wille verbraucht sich selbst. Und da geht es dann um so mehr um das, was sein muss: um die nationale Integritiät überhaupt zu bewahren, um die Nation als Ordnungsschema zu sichern, das schon als politische Formation zumindest ideell etwas Ganzes ist.

Die steht nun für alles, für eine Gemeinschaft schlechthin, Gesellschaft überhaupt, die Kultur und das Menschsein als solches. Es geht um die Vorstellung von einer allgemeinen Wohlfahrt, an die man glauben muss, um die Bildung und Beflissenheit für das Gute aufzubringen. Gerade wenn das Geld knapp ist, muss Flickwerk elegant erscheinen und einen eigenen Wert darstellen, der daraus ensteht, dass es ungebrochen erscheinen soll. Für diesen Zweck  ist kulturelle Macht vonnöten, - nicht weil sie wirklich gute Wirkungen haben könnte, sondern indem sie sich von Schlechtem abgrenzt. Politisch wird Kultur zum Instrument der Sortierung der nationalen Kräfte eingesetzt, um zu befördern, was kulturelle Norm werden muss. Das Abnorme, das dem Ganzen schadet,  gehört ins Abseits. Und so wird das Abseits zu einer Hölle, wo die landen, die sich in diese Welt nicht einpassen können oder wollen. Nach dieser Tendenz werden jetzt die Gesetze gemacht und Konflikte beherrscht. Da geht es weniger direkt ums Geld als um die Verbreitung von Druck und Angst gegen jene, die nicht unmittelbar funkltional sind.

Das Prinzip ist alt: Teile und herrsche, zerteile und beherrsche. Solche Herrschaft muss einen höheren Sinn bekommen und um den zu verleihen, wird den Menschen die Vorstellung von einer allgemeinen Wohlfahrt wie die Wurscht vor dem Hund hingehalten, dass sie davon einen Zipfel ergattern könnten, wenn sie nur fleißig springen und hecheln und sich immer rücksichtsloser gegen andere durchsetzen. Auf diese Weise entsteht blinder Gehorsam für eine nicht mehr zu begründenden Leistungsbereitschaft, zur Erbringung von Leistungen für eine Arbeit, die den Menschen nicht mehr viel bringt, dafür aber schier unbeschränkt als bloßer Geldwert in die Kassen des Finanzkapitals in Form von Schuldentilgung und Zinsabgleich fließen kann. Politik wird offen hinterhältig und muss die Menschen immer mehr über ihre wahren Absichten hinwegtäuschen. Sie wird sich immer mehr auf die Betäubung der Bevölkerung verlegen müssen um vorzutäuschen, dass sie für diese tätig und hierfür also auch noch wählbar sei, dass es ihr z.B. nicht um frisches Geld aus Profiten, sondern um die erneuerbaren Energien ginge, wenn sie die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert, um Verantwortung, wenn sie eine Sickergrube wie Gorleben zur Endlagerstätte aufbaut, um unsere Freiheit kämpft, die im Hindukusch verteidigt werde usw.

Wenn man von Ursache und Wirkung der Misere mal absieht, behält sie dann auf ihre Weise sogar Recht, weil das große Geld ja tatsächlich dem Staat entzogen ist und es wegen der akuten Geldverknappung im Sozialbereich überall brodelt und die Forderungen des Geldadels auf dem Tisch liegen. Tatsächlich ändern sich die kulturellen Grundlagen des Sozialwesens. Und da fühlen sich natürlich auch die Kulturbürger berufen, sich da beflissentlich einzumischen. Schließlich geht es jetzt auch um ihre eignen Interessen. Und im Begriff der bildungsbürgerlichen Kultur besteht ja auch zumindest ideell so etwas wie eine übermenschliche Einigkeit im Großen und Ganzen. Da wird man sich dann auch leicht einig und verlangt dann ganz schnell nach einem starken Staat, nach einem Kulturstaat. Und aus der Staatskrise wird eine Kulturkrise. Sie wird aus den nun kulturell scheinenden Verwerfungen zu einem populistischen Gesamtbild gestrickt, das leicht jedem vor Augen gestellt werden kann.

Diese Kultivierung der Wirtschaftskrise hat einen sinnfälligen Grund: Die Kostenverursacher werden jetzt nicht mehr so trivial durch Geld verrechnet. Sie werden selbst zum Kulturproblem, zum Problem mit den gesellschaftlichen Außenseitern, mit den Randständigen und Migranten. Die wären nämlich eigentlich gar nicht arbeitslos. Die wollen das so – die wollen nicht arbeiten! Die leben lieber „parallel“ in ihren Familienkulturen und mit vielen Kindern, während deutscher Fleiß die Welt voranbringt, weil die Deutschen scheinbar alle gerne arbeiten und weil sie leider dann auch eher kinderlos sind, weil sie sich Kinder gar nicht mehr leisten können. Ja, das ist das Problem! Wir werden immer weniger und finanzieren auch noch unseren Abgang! Ein absurder Zirkelschluss wird zum Mahnmal des Gerechten, der nun zugleich zum Opfer eines ganzen kulturellen Verhältnisses geworden ist.

Die Versteinerung der deutschen Kleingeister greift wieder mal um sich und während sie ihren besseren Tagen nachjammern und gerne nach unten treten, um sich wenigstens sicherer zu fühlen, entsteht ganz lautlos die Hinterwelt der Gartenzwerge, die um so mächtiger wirken, je tiefer ihre Sonne gesunken ist und ihre Schatten auf die Armut der ganzen Menschheit wirft. Die Vorstellung von einer heilen Welt greift nach dem Heil der Welt. Laut einer von „Bild am Sonntag“ in Auftrag gegebenen Emnid-Umfrage sollen inzwischen schon 56 Prozent der Deutschen eine Erhöhung des Regelsatzes für Hartz-IV-Empfänger ablehnen.

Die Geschichte beschreibt Werner Pirker in der „Jungen Welt“ vom 27.9.10:

„Der Paradigmenwechsel in der Hartz-IV-Wahrnehmung begann sich schon zu einem Zeitpunkt abzuzeichnen, als die neoliberale Hegemonie in Folge der Krise des Finanzmarktsystems am verwundbarsten schien. Da verschärften die Sarrazins und Sloterdijks den sozialdarwinistischen Diskurs auf eine Weise, wie man es nicht mehr für möglich gehalten hätte. Im routiniert hochgespielten Wirbel um Sarrazins rassentheoretische Auslassungen wurde der wichtige Beitrag übersehen, den er zur Herstellung einer Mehrheit gegen eine auch nur geringfügige Besserstellung der sozial Schwächsten geleistet hat. Seine Anprangerung eines frivolen Unterschichten-Hedonismus, der sich in totaler Leistungs- und – auf die Muslime unter den »Minderleistern« bezogen – Integrationsverweigerung äußere, ist ja keineswegs eine bizarre Einzelmeinung, sondern diskursbestimmend. Bildungsferne wird nicht auf den Mangel an Chancengleichheit zurückgeführt, sondern auf den Bildungsboykott von unten. Als Sanktionsmittel für »Integrations«- und »Bildungsverweigerer« ist der Entzug sozialer Rechte vorgesehen, wie nicht zuletzt auch SPD-Chef Gabriel bekundet. Nicht Deutschland schafft sich ab, sondern der deutsche Sozial- und Rechtsstaat ist im Begriff, sich abzuschaffen. Daß dies auch noch eine Zustimmung der Mehrheit findet, zeugt von der Desorganisation sozialen Bewußtseins.“ (Werner Pirker in der „Jungen Welt“ www.jungewelt.de/2010/09-27/050.php?print=1

Soziales Bewusstsein wird zu einem selektiven Bewusstsein, zu einer Grenzziehung gegen das Fremde zur Bestärkung einer Gesellschaft von eigener Art, worin die Eigenarten zu Kriterien des Nahen oder Fernen werden. Auf diese Weise entsteht der Begriff eines Volkes, der sich wesentlich von anderen Völkern unterscheiden soll, weil er das Eigene von Entfremdung gereinigt wissen will. Und damit wird Nationalität wieder völkisch, zum Inbegriff eines Selbstverständnisses, das maßgeblich für das soziale Verhältnis in einem Staatsganzen sein soll. Und dieses Ganze wird jetzt als Kultur wahrgenommen, als Staatskultur.

In seinem Buch "Hitler als Vorläufer" (Luchterhand 1998) nannte Carl Amery die nationale Elitebildung durch Selektion, die als Antwort auf eine Krise betrieben wird, die Hitler-Formel: Wenn die Reflektionen zu einer allgegenwärtig gewordenen Gesellschaftskrise zur Reaktion auf ein völlig abstrakt gewordenes Unheil verschmelzen, dann sucht das reaktionäre Bewusstsein nach Gründen für Gewaltanwendung  gegen irgendwelche Verursacher, die dem Anschein nach im Bodensatz der Gesellschaft ausgemacht werden. Die nämlich taugen besonders als Stellvertreter des Unheils, denn sie sind ja auch ganz unten, sind wirklich unheilig. Alles, woran sich das Unheil reflektieren lässt, alles, was irgendwie ursächlich hierfür erscheinen kann, wird dort ausgemacht und festgemacht, auf dass das Gewohnte und Gewöhnliche zu einer Glaubensgemeinschaft werden kann. In ihrem Glauben an das Ganze sitzen dann nämlich alle anderen „in einem Boot“, im Gefährt einer bedrohten Gemeinschaft, die sich vor ihrem Untergang retten muss und von daher eine Genossenschaft bildet, eben zu einer Art Volksgenossenschaft eines bereinigten Staatswesens wird. Hierdurch kann auch ein staatliches Gemeinwesen, das bis dahin noch voller Klassengegensätze war, zu einem Gemeinschaftsbündnis mit einer gemeinen Verpflichtung werden. Und dieses muss nur schlicht und natürlich mit einer populären Begründung verschmolzen, zu einer Volksgemeinschaft naturalisiert werden, die allen Mut macht, weil alle darin sich aufgehoben fühlen können, aufgehoben im wahrsten Sinne des Wortes. Es verlangt lediglich Selbstlosigkeit. Und die wird dann auch allgemein geadelt. Im vergemeinschafteten Edelmut verpflichten sich die Menschen von selbst der Abstraktion des Gemeinen. Und sie erweisen sich ihm als dienstbar, weil sie in vorauseilendem Gehorsam erbringen, was für das Ganze gut sein soll. In solcher Güte verliert sich schließlich jeder Verstand und das Ganze wird sehr viel funktionaler und kostengünstiger. Inzwischen glaubt man ja auch schon an das Heil durch ein Sparpaket. (2)

Nationalismus und Sozialrassismus

Man hätte erst Mal froh sein können, als so ein Betonkopf wie Sarrazin das Thema so naiv in seiner gesamten Finalität vorbrachte und keinen Zweifel an der Zweckhaftigkeit einer rassistischen Stringenz ließ und einigen Blödsinn über Gene und die Vererbung von Intelligenz faselte. Die Thematik war auf diese Weise immerhin so verfälscht, wie die Absicht seines Vortrags dabei durchsichtig war. In der Verzerrung von Bildungsproblemen zu Glaubens- und Kulturproblemen war der Einsatz für die Effizienz der Sozial- und Bildungsleistungen noch sichtbar, für die ein Anteil an Disfunktionalität bei Migranten als Gefahr für Deutschland ausgemacht wurde. Er rechnete sich die Folgen der demografischen Entwicklung zu einem kulturellen Desaster hoch, durch das sich die wirtschaftlichen und politischen Probleme eines total verschuldeten Staates in der Verwertbarkeit seiner Ressourcen, also des Werts von „Volk und Vaterland“, ins Uferlose verschwinden würde.

Diese Sichtweise ist auch in der wissenschaftlichen Elite schon weitläufig, denn dort bereitet man sich auf das Schlimmste vor. Sarrazin sprach nur aus, was auch in den Gemäuern der Soziologen und Politologen und Psychologen und in der Schmuddelkammer des Modephilosophen Peter Sloterdijk längst formuliert und auch dementsprechend an empirischem Material ausgewählt und aufbereitet worden ist. Da geht es allerdings nicht mehr um nationale Integrität, nicht um Nationalismus. Da geht es wieder mal um was ganz Großes, um die Lösung eines Menschheitsproblems und um Soziale an sich und um das Menschenrecht schlechthin. In den Kammern der akademischen und kulturellen Prominenz wird als sozialeugenischer Diskurs veranstaltet, was die schliche Besorgnis um die eigene Selbstwertigkeit betrifft, für die dann auch noch der gesellschaftliche Fortschritt der Produktivkraft, die Minderung der Arbeit pro Produkt, zum Horrorszenario wird. Rudolf Stumberger bemerkt in einem Artikel in Telepolis:

„Dies sei anhand der Äußerungen des Sozialpädagogik-Professors Heinsohn dokumentiert, dessen Gastkommentare in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Welt erschienen sind (Das unwerte Hartz IV-Leben). Heinsohn entwirft zunächst in geradezu Spenglerischer Manier ein düsteres Bild der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland: "Die Bedrohung für die Wirtschaft, den Sozialstaat, das Gemeinwesen insgesamt wird als so groß empfunden, dass es unter den Demographen kaum einen gibt, der dem Land noch Hoffnung macht." Die "Bedrohung", das ist die Schrumpfung der Bevölkerung, die bis in das Jahr 2060 (!) hochgerechnet wird. Immer weniger Arbeitende müssten immer mehr Nicht-Arbeitende ernähren. Derartig langfristige Szenarien sind freilich wenig aussagekräftig und völlig ausgeblendet wird, dass steigende Produktivität auch die Versorgung einer Bevölkerung garantiert, in der die Produzenten weniger werden. Auch heute produzieren weniger Beschäftigte mehr Güter als je zuvor.“ (Aus Telepolis: „Die neue Zuchtwahl - Wie aus der bürgerlichen Mitte Sozialrassismus wieder hoffähig gemacht wird“ - http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33221/1.html

Es ist mit der Einwanderung allerdings etwas hinzugekommen, was sich als Unterschied des sogenannten Lebenshintergrundes durchsetzt, der kulturell zu verstehende Unterschied, besonders unter den Billiglöhnern und Arbeitslosen, der auch ihr soziales und wertmäßiges Potenzial betrifft, ein Unterschied, der sich als Dichotomie im Grad der Unterordnung auswirkt. Und der lässt sich dann festmachen als kulturelle Klassenbestimmung, als unterschiedlich Befähigung zur Einpassung in die Arbeitsanforderungen, z.B. im Ausmaß und Art der Kulturanpassung, in der Sprache, Kleidung, Religion und Familiensitte. Eine nicht gelingende Eingliederung wird teuer und daher schuldhaftes Verhalten, als Verweigerung aufgefasst. Es ist die Bedingung, dass die Dichotomie ihren Zweck erfüllt – nämlich den Druck und den Nutzen der Unterworfenheit so zu gliedern, dass die einen viel davon haben je mehr die anderen in ihrer Teilhabe bedroht werden. Nicht von ungefähr wird daher gerade jetzt  beides öffentlich thematisiert: Arbeitslosigkeit und Integration. Wenn hier entschieden Druck auf die Anpassung gemacht wird, wenn hier kulturelle Anforderungen hochgezogen werden, dann lässt sich auch die Ausgrenzung bis zur Abschiebung genau regeln. Wer dem nicht im gewünschten Ausmaß nachkommt, weil er aus irgendeinem Grund keinen Zugang findet, der gilt als Verweigerer und seine Immigration wird auf diese Weise zu einer kulturellen Infiltration, seine Stütze zur Fehlinvestition, weil damit fremde Eigenarten und Interessen finanziert werden. So schrieb es Michael Mannheimer in seinem Buch „Was die islamische Migration Europa kostet – Eine Abrechnung mit einem Mythos“:

„Migration geschieht mittlerweile zu einem Großteil direkt in die historisch gewachsenen Sozialsysteme der europäischen Länder. Einst dazu gedacht, indigene Europäer im Fall eines Sozialabstieges temporär zu unterstützen, werden längst große Teile der europäischen Sozialetats zur dauernden, oft lebenslangen Unterstützung überwiegend muslimischer Migranten in Anspruch genommen und damit missbraucht.“ http://michael-mannheimer.info/about/

Klassenkampf als Kulturkrampf

Zum Thema Infiltration mischen sich dann viele andere Autoren und Autorinnen gerne ein, die durch ihr eindrucksvolles Kulturinteresse glänzen. Da stellt dann auch Alice Schwarzer eine schleichende „Schariaisierung des deutschen Rechtsstaats“ fest und macht deutlich: „Die Islamisten haben nie einen Hehl aus ihren Absichten gemacht. So wenig wie einst die Nationalsozialisten. Auch in „Mein Kampf“ (von Adolf Hitler) stand ja schon alles drin.“ Das ist hart. Wegen einer solchen Behauptung ist derzeit der holländische Rechtspopulist Wilders wegen Volksverhetzung vor Gericht gestellt. Aber Alice hat sie etwas geschickter gebracht. Sie verweist ja auch auf höhere Werte: Bei einem so wichtigen Thema, wo es eben doch um das Patriarchat einer religiösen Abrichtung geht, die „unseren Rechtsstaat“ bedrohe, müssen enge Bandagen angelegt werden. Alice weiß es eben besser, dass nämlich nicht die Lebensverhältnisse die Menschen bestimmen, sondern ihre Glaubensinhalte, die sie angeblich vollständig prägen würden. Und auf diese Weise wurde ihr auch klar, dass auf Dauer eine unterschiedliche kulturelle Prägung das Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen unmöglich machen würde. Das zumindest ist die Essenz ihrer kulturpolitischen Erkenntnisse. Und auf diese Weise gerät diese unterschiedliche „kulturelle Prägung“  zum Synonym für eine soziale Rasse. (3)

Und das ist der Knackpunkt in der großen Verschleierung von Alice Schwarzer: Was sonst alles als solche Rasse rassistisch behandelt wird, ist bei ihr ja ganz einfach, weil für sie alles einfach auch gleichsetzbar ist: die Herkunft, der Islam, der Islamismus, das Unrecht, die Politik und der Terror. Damit wird alles total, alles zu etwas formalisiert, was uns natürlich längst als Faschismus bekannt ist, gleich, was davon auf die konkrete Lage überhaupt bezogen werden kann. Was in ihrer Anschauung schon als Sinnbild für autoritäre Gewalttätigkeit ausgemacht und von da her als Patriarchat und Faschismus zusammengefasst war, muss nur noch richtig assoziert werden, um als eine finale Bedrohung zu gelten. Und so lässt sich die Beurteilung des Islam jetzt unmittelbar leicht auch antifaschistisch begründen – eine besondere Gemeinheit des „gerechten Glaubens“, des Edelmuts der christlichen "Rechtskultur". Schon ihre einfache Argumentation macht das deutlich.

„Im Islam steht - in Theorie und Praxis - der Mann über der Frau, und Gott über dem Staat. Beides lässt sich nicht vereinbaren mit unserer Grundordnung, die von der Gleichheit aller Menschen und der Trennung von Staat und Kirche ausgeht.

Besonders eindrucksvoll weist Rita Breuer im Buch in ihrem Aufsatz Mitten in Europa auf dieses Dilemma hin. Wer als Moslem in Deutschland etwa »die Scharia umfassend befolgt, wird kaum Berührungspunkte mit der einheimischen Gesellschaft haben«, schreibt sie. Ein solcher Glaube sei unvereinbar mit zentralen Werten unserer Kultur und unserer Gesellschaft, etwa Gleichberechtigung, Toleranz oder dem Gewaltmonopol des Staates. »Auch wenn es wehtut: Hier zeigt sich, dass es mit der typischen Unterscheidung zwischen Islam als Religion und Islamismus als politischer, extremistischer Ideologie nicht so einfach ist.«“ (Siehe hierzu Kraft in einer Rezension über Schwarzers Neuerscheinung „Die große Verschleierung“) (http://www.news.de/medien/855074244/alice-schwarzer-ist-der-bessere-thilo-sarrazin/1/)

Von Alice Schwarzer wird die moralische Wucht und die populistische Anmaßung besonders gut inszeniert. Aber der Totalitarismus ihrer Kritik macht ihre Einforderung von Toleranz geradezu lächerlich. Zugleich trifft sie jedoch auch den Kern des Problems, wie es für viele Menschen besteht: Über die Medien sind viele Geschichten aus der Welt des Islam über den Horror religiöser Wahnvorstellungen und bestialischen Strafen gegen Menschen, die anders denken und fühlen, publiziert worden, Todesdrohungen gegen Kritiker, Gewalt gegen Frauen und Kinder, Steinigung, Verstümmelung. Die Vorstellungen und Bilder der Gewalt, die hierbei übermittelt werden, werden prominent gemacht wie eine allgemein gültige Metapher über den Islam schlechthin. Aber was haben die Migranten-Kinder, die in deutschen Schulen Schwierigkeiten haben, mit diesen Vorstellungen  zu tun? Sind die muslimischen Arbeiterinnen und Arbeiter hier wirklich so religiös, dass sie sich freiwillig einem subkulturellen Patriarchat unterwerfen, wenn sie selbst arbeiten gehen? Sind sie wirklich so weltfremd, dass sie ihre Kinder von einem Deutschunterricht abhalten würden, weil sie die deutsche Kultur ablehnen? Das ist eigentlich schon in der Logik des Einwanderns absurd und Muslima, die öffentlich hierzu aussagen, bestreiten das und relativieren auch den religiösen Einfluss, bzw. die Stringenz eines allgemein religiösen Fanatismus. Auch scheinen die beanstandeten Gewalttätigkeiten und Defizite z.B. in Berliner Schulen inzwischen gemindert zu sein. (4)

Doch die Befremdlichkeiten, die durch die medialen Informationen ausgelöst wurden, können sie nicht auflösen. Und das ist im Grunde auch unerheblich. Bei der Aufblähung des Horrorszenarios zählt weniger die Wahrheit als das Bedürfnis, in einer allseits belasteten sozialen Lage ein Feindbild zu errichten, wodurch das Böse schlechthin illustriert werden kann. Es geht dabei eher um ein Register, wonach die Wahrnehmung der Wirklichkeit an einer staatstragenden Moral ausgerichtet werden kann, um das schwelende Übel der Krisengefühle und Untergangsängste dadurch aufzulösen, dass das für schlecht Befundene an den Pranger gestellt und dann schließlich ausgeschlossen werden kann. Moral wird zum politischen Willen der Kultureliten. Und der ist auch schon wieder längst am Laufen.

Der Leipziger Professor Elmar Brähler hat zusammen mit Oliver Decker im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung die Einstellungen der Deutschen zum Islam und ihre Ursachen untersucht. Der Psychologe Brähler verrät schon im Vorhinein der Veröffentlichung: Der Aussage, Muslimen sollte in Deutschland die Religionsausübung verboten werden, stimme eine überwältigende Mehrheit zu. Solche Islamfeindlichkeit sei neu, aber „dieses Gedankengut ist immer da“, so Brähler. Schon in einer Studie von 2006 stellten Brähler und Decker in einer Studie unter dem Titel „Vom Rand in die Mitte“eine deutlich reaktionäre Orientierung in der Mittelschicht fest. Diese äußere sich unter anderem „durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen“. Brähler und Decker legten damals knapp 5000 Deutschen 18 Aussagen vor zu Diktatur, Nationalchauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus. So stimmten dem Satz „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ 37 Prozent zu - wohl wissend, dass auch Immigranten Sozialleistungen und Steuer bezahlen. Den Satz „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“ fanden 17,8 Prozent richtig, den Satz „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen“: 14,8 Prozent. Dem Satz „Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten“ stimmten 11 Prozent zu.

Der politische Wille des Übermenschen und der Edelmut der Eliten

Je fremder den Menschen die Gründe ihrer Probleme werden, desto dringender wird ihnen deren Auflösung, weil die Ungewissheit für sich zu einem Übel unbekannter Dimensionen wird. Ihre Urteile gehorchen deshalb zunehmend dem Drang, das Übel aus der Welt zu schaffen und das Subjekt auszumachen, das dafür irgendwie als Verursacher hergenommen oder zumindest bezichtigt werden kann. Die moralische Bezichtigung wäre für sich nur bloße Ideologie, wäre sie nicht zugleich mit kultureller Energie geladen. Der Konflikt, der zwischen unterschiedlichen Lebensarten überall auftreten kann, wird zu einer überdimensionierten Vorstellungswelt, weil er durch äußere Gründe entstanden ist und selbst die Entfremdung von den Problemen thematisiert. Weil dann nur noch die Zukunft einer Ungewissheit Angst und Sorge bereitet, wird alles, was dies betrifft, durch Vorstellungen belastet, in denen das eigene Leben immer bedrängter empfunden wird. Gerade in der Mittelschicht und im Kleinbürgertum entstehen daher die Vorstellungen über das Ungeheuerliche, das sich nur noch durch ein kulturell gewaltiges Subjekt erklären lässt, durch eine fremde Gefühlswelt, eine fremde Kultur, eine fremde Gottheit. Weil sich hier die Existenzangst eher als Bedrohung einer an und für sich heilen Welt ausmachen lässt und sich vor allem als kulturelle Ohnmacht darstellt, bekommt dieses nur vorgestellte Subjekt metaphysische Qualitäten. Diese Vorstellungen betreiben die eigene Entfremdung als Feindbild des Fremden schlechthin. Feinde werden nun entdeckt, wo bisher nur Probleme gesehen wurden. Und es gibt ja auch wirklich das, was da dann reinpasst: die radikalen Systemverweigerer, die radikalen Glaubensfanatiker, die Terroristen, die Vergewaltiger und die Totschläger. Aber dafür gibt es ja eigentlich auch die Gesetze, die sie im Zaum hielten - wenigsten die in der unteren Klasse. (5)

Doch in den Sphären des Geldbesitzes fürchtet man nicht die Tat als solche. Gegen die ist man durch die Staatsgewalt gesicher. Eher fürchtet man hier die Untergrabung der eigenen Lebensgrundlagen: Verneinung, Widerstand und Aufruhr. Das deutsche Bildungsbürgertum hat schon immer die Bedrohungen aus dem Untergrund gefürchtet und als "wilde Horte" oder "Meute" denunziert und bekämpft und war von daher schon immer sehr politisch. Und in dieser Eigenschaft hat es auch schon viele kulturelle Werte politisert, die es als Positionen seiner Selbstbestärkung ausfinding gemacht hat und die es hütet wie seinen heiligen Gral. Mit ihnen lässt sich alles beantworten, was die Welt so Schlechtes mit sich bringt. Doch diese Werte bestehen aus Nominierungen, die sich nur theoretisch gegen das wenden, was sie oft aus gutem Grund befürchten und das sie dann vor allem selbst betreiben, aber eben mit umgekehrten Vorzeichen - einfach nur als das "Anti-Böse", als "Achse des Guten" oder ähnlichem. Es ist dies lediglich die Umkehrung der Form, denn es sind Abstraktionen, die hier politisch zu einer allgemeinen Notwendigkeit ebenso abstrakt gewendet und als verselbständigte allgemeine Werthaftigkeit dargestellt werden: Menschenrecht als bloßes Recht wird zum Machtanspruch gegen fremdes Recht, Freiheit als bloße Beliebigkeit wird zur Rechtfertigung eigener Willkür, Gleichheit als pure Gleichgültigkeit gegen das Leben Andersdenkender wird zur Diskriminierung des Ungleichen. Die Verbundenheit einer bloßen Gruppenzugehörigkeit wird zu einer Gemeinschaftsideologie, wird zum Medium der Gewalt des Allgemeinen gegen die Isolierten. Die wirklichen Zusammenhänge bleiben hierbei unbefragt.

Die politische Form mag irgendeine Vorstellung gewesen sein; hier wird sie nun zu einem Anspruch. Der politische Nominalismus dient dem Kampf für das Gute und bekämpft alles, was als dessen Gegenteil aufzufassen ist. Das Fiasko dieser Nominierung ist, dass es lediglich die andere Seite desselben ist, die andere Art und Weise, eine bloße Form. Wesentlich bleibt es unbestimmt. Aber in seiner Eigenschaft wird es zu einem Subjekt, wird das Adjektiv zum Substantiv, an dem sich alle aufreiben, die es bekämpfen. Und gerade dadurch setzt sich das durch, was aufgehoben werden wollte. Es wird nicht mal geschwächt, sondern total und in seiner Wirkung totalitär. Man wundert sich dann irgendwann wie das geschehen konnte. Das Gute kann es eben nicht geben, weil es nur eine andere Weise dessen ist, was auch schlecht sein kann. In Wahrheit bleibt das Verhalten dazu rein theoretisch, weil es sich der Analyse der Wirklichkeit durch sein Urteil schon entzieht. Es ziert lediglich das moralische Subjekt, das sich damit hervortut, der Edelmut, den es politisch artikuliert. (6)

Gut und schlecht kann nicht absolut sein. Man kann sich gut oder schlecht verhalten, wo man frei hierfür ist, wo die Sache selbst wirklich ist und der Mensch sich ohne Gewalt auf sie beziehen kann. Dann ist schlecht nichts anderes als ein Fehler, gut nichts anderes als richtig. Wissenschaft wird zur Urteilsbildung verhelfen, nicht Ideologie. Aber In Verhältnissen, worin die Menschen fremden Mächten gehorchen müssen, kann ihnen solche begründete Moral nur fremd sein. Moralisten personifizieren die Sachgewalten und bekämpfen sie an den Menschen, indem sie deren Tun und Denken als Verstoß gegen ihre Idee vom Guten, als Verschuldung an einer höheren Wahrheit des Guten hernehmen, dem Maß eines unendlichen und daher nicht mehr erkennbaren Sinns, der seinen profanen Zweck einfach nur verbergen muss. Es waren die Bücherverbrennungen der Nazis nicht von politischen Machthabern in ihrem Interesse und Gewalten inszeniert worden, sondern von intellektuellen Moralisten, die ihren Glauben an das Gute geschändet sahen und dem sich die Politik der Gewalt daher auch vorzüglich zuordnen konnte. Denken und Wissen, Bewusstsein überhaupt, wird so zum Marterpfahl der Übermenschlichkeit einer Idealisierung, dem Ideal eines abstrakten Gemeinwesens, dem es geopfert werden muss um ihm huldigen zu können. Ideologie befördert unmittelbar solche Moral, weil sie diese in Wirklichkeit nötig hat und ihre Not mit ihr zu einer gehobenen Verbundenheit, zu einer Allmacht des Idealen zu wenden sucht. Religionen sind die höchsten moralischen Instanzen, denn sie stellen den sich selbst fremden Menschen positiv aus, als Legitimation fremder Gewalt, als Übermensch, als Gott, und sie verweisen die Ohnmächtigen und Verzweifelten auf dessen allseitige Verbundenheit, auf seine Religio, auf das Gute an sich. Religion fordert den guten Menschen und verfolgt den wirklichen. Und alle Sektierer, ob nun in der Kirche, in der Moschee oder Synagoge, in der Politik oder auf den Bühnen der Kultur wollen das zum Übermenschen erhobene Gute festhalten und verewigen. Aber Gott hat sie längst verlassen, nur sie können Gott nicht verlassen, solange sie ihr Leben aus seiner religiösen Moral bestimmen, solange sie also seine Moral nötig haben, weil sie selbst nur mit Abstraktionen leben können, weil sie in der Abstraktion ihrer Vorstellungswelt lediglich ihre realen Abstraktionen verewigen wollen.

Moralismus ist immer total. Die Lebenswerte dienen ihm zur Verkehrung der wirklichen Belange in ein persönliches Verhalten und Verhältnis, denn das Unmoralische kann es nur in Menschengestalt geben. Es kann nur zwischenmenschlich sein. Mensch und Sache werden darin identisch, dass sie als Produkt eines Willens begriffen werden, der als Subjekt eines Schöpfers sich gestaltet, und der dann entweder gut ist oder böse. Es ist die Vorstellung, dass dieses Subjekt aus einer Kulturwelt sich bildet, die seinen Willen ausmacht und nach dessen Realisierung strebt und hierzu Geisteskraft zur Geistesmacht gegen andere Menschen errichtet. Kultur selbst wird darin selbst vergeistigt und Menschen werden als deren rein geistige Produkte begrifffen, die unmittelbar auch sachlich ihre Wirklichkeit nur aus ihrem Willen heraus zur Welt bringen und die keine wirkliche Not leiden und also auch keine Notwendigkeit sie bestimmt und deren Freiheit daher an und für sich auch unendlich ist. In diesem Willen funktioniert Moral wie Religion. Der politische Wille ist die Vorstellung einer verselbständigten Politik, verselbständigtes Denken und Handeln des theoretischen Bewusstseins. Das theoretische Bewusstsein treibt in seiner Praxis für sich nur sich selbst auf die Spitze. Es fordert ein moralisches Bewusstsein ein, das die Menschen verändern will, weil es sich nicht in seiner Praxis auflöst, sondern davon ausgeht, dass die Menschen dann ihre Welt verändern, wenn sie anders denken und fühlen. Doch es erreicht nur die vorgestellte Veränderung, die geänderte Interpretation der Welt, weil es sich selbst das Anderssein auch nur vorstellen kann.

„Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittels einer anderen Interpretation anzuerkennen.“ (Marx-Engels-Werke Bd.3, S. 20)

Die Vorstellung, dass die Welt durch bessere Menschen besser würde, ist eine grundlegende Illusion der politischen Kultur des Bürgertums und das Wesen seiner Religio, seines Zusammenhalts, auch wenn es ganz sachlich, vernünftig und menschlich daherkommt. Sie entspricht aber zugleich auch den Verhältnissen, in denen die Menschen sich als Subjekte ihres Willens vorkommen, sofern sie als Händler ihrer Besitztümer auftreten können. Doch sie vertreten wesentlich nur den Willen, der in ihren Sachen haust, das Vermögen, das sie durch sie haben und wodurch sie auch über gesellschaftliche Macht verfügen. Wer durch Vermögen verfügen kann, verfügt auch über die Moral. Das ist schlicht und einfach.

Sachen haben keine Gewalt. Doch der Mangel an Vermögen erzeugt Not. Es herrscht die Notwendigkeit, Sachen zu haben und zu gebrauchen, sich damit zu ernähren und zu entwickeln.  Sie stellen den Inhalt des menschlichen Reichtums dar, wenn sie den Menschen auch wirklich verfügbar sind. Verfügung aber besteht nicht unbedingt aus einem Besetzen und Besitzen, hat keine andere Macht nötig als die, welche durch die Sachen auch gemacht ist: Das eigentümliche Sein menschlichen Eigentums. Das verlangt nicht unbedingt Gewalt, politische Herrschaft des Besitzverhältnisses. Sachgewalten gehen nicht wirklich von Menschen aus; sie sind Bestimmungen einer gegen sie abstrakt begründeten Formation von Zwängen, Notwendigkeiten und Gewalten, die sie in ihrer bisherigen Geschichte noch nicht vollständig überwunden haben, weil der menschliche Reichtum an Sachen gesellschaftlich nur in Geldform existiert. Diese Form widerspricht den wirklichen Möglichkeiten ihres Lebens. Sie lähmt ihre Entwicklung, weil sie alle Menschen ihres Zusammenwirkens entledigt und sie stellt sie gegeneinander, weil sie ihre sachbezogene Politik zur Politik der Sachen deformiert, ihre Wirtschaft unwirtschaftlich macht und ihre Verhältnisse in die Barbarei treibt. In der Vorstellungswelt des moralischen Bewusstseins sind diese Verhältnisse aus ihren praktischen Lebenszusammenhängen herausgelöst und zu einer selbständigen Moral und Religion versteinert. Die Kritik dieser Versteinerung ist daher die Voraussetzung,  das Vermögen der Menschen aus seiner Geldform in eine gesellschaftliche Form zu überführen.

„Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus. In der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein.“ (Marx-Engels-Werke Bd.3, S. 26 bis 27)


(1) Die neun wichtigsten Herkunftsländer sind die Türkei (mit 14,2% aller Zugewanderten), die Russische Föderation (9,4%), Polen (6,9%), Italien (4,2%), Rumänien sowie Serbien und Montenegro (jeweils 3,0%), Kroatien (2,6%), Bosnien, Herzegowina  (2,3%) und Griechenland (2,2%) – so das Statistische Bundesamt Deutschland. Nur ein Teil der Migranten sind Moslems - und wie viele davon wirklich gläubig sind, ist unbekannt.

(2) Wenn es bei den so genannten Integrationsproblemen – wie behauptet - um Glaubensfragen ginge, so wären dies Fragen nach dem rechten Glauben und der Sitte, die daraus hervorginge, insbesondere der Gegensatz von christlichem und muslimischem Glauben. Wäre es dies, so wäre es ein Problem mit dem Jenseits und dem, was sich daraus für das Diessseits ergebe. Jede Religion beansprucht, das wesentliche Gut der Menschen zu kennen, eben ihren Gott und seine Güte und den Verweis auf seine Gebote.

Doch die Geschichte der Götter ist längst vorbei. Sie haben ihr Reich verloren, wie die Verhältnisse ihre Güte verloren haben, - sowohl das Reich der Nächstenliebe wie auch das Reich einer familiaren Glaubensgesellschaft in den feudalen Beziehungen einer landwirtschaftlichen Kultur. War es in der Welt des einfachen Warentauschs noch sinnvoll, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, um das Eigentum aus fremder Hand empfangen zu können, so wird das jetzt, wo er praktisch nur noch als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt auftritt, absurd. Und wo autoritative Regelungen zur Strukturierung von Landarbeit gemäß der Erfahrung der Menschen und Geschlechter sinnvoll waren, werden sie im Kampf um Geldbesitz pervers. Weil die Götter ihr Reich verloren haben, sind sie zu einer Schablone des Ungewissen, zur bloßen Illusion geworden. Nur ihre Moral ist als Religion verblieben, eine reine Vorstellung von dem, was gut sein soll. Aber auch deren Boden ist morsch. Auf der Grundlage eines weltumspannenden Kapitalismus, der alle Sachverhältnisse bestimmt, sind sich im wesentlichen alle Religionen untreu geworden,  weil auch die ideellen Verhältnisse nur mehr materiell bezogen sind. Der Kampf um die Ressourcen des Kapitals befördert Kriege und Technologien, welche die so genannte Schöpfung insgesamt bedrohen. Menschen müssen ihr Land verlassen, ihre bisherige Geschichte beenden, nur um überleben zu können, und sie kommen in ein Land, in welchem sie in einer Geistlosigkeit gedungen werden, weil sie nur als Kraft dort existieren können. Die Menschen überhaupt sind von ihren Göttern verlassen, und glauben um so heftiger an sie, wenn sie nicht begreifen, das sie es sind, die ihre Götter verlassen müssen. Dann igeln sich in die Schreine ihrer Geschichte ein und glauben nur noch, was sie hoffen: Dass die Güte des Lebens in ihnen selbst weiterleben kann, was auch immer in der Welt geschehe .

So geraten Kulturgegensätze  in einen mentalen Kampf um das Gute, das nicht mehr als Moral benötigt wird, sondern als Kulturgut selbst. Der Kampf erscheint dann als Glaubenskrieg und selbst Menschen in gleicher Klassenlage werden dann zu Feinden, weil und sofern sie um den Grund und Boden ihres Glaubens, ihrer Kultur zu kämpfen meinen. Sie ereifern sich mit dem Edelmut und dem Zorn ihrer Götter im Streit um ihre gesellschaftliche Gegenwärtigkeit. Und dabei zeigt sich, dass es nicht um Glaube, sondern um Macht geht: Wer darf hier wie und wofür auftreten. Diese Gegnerschaft hat eben einen wesentlich tieferen praktischen Grund. Darin verbergen sich die eigenen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen gebündelt als Positionen zwischen Anpassung und Ablehnung. Für die herrschenden Eliten sind es Positionen unvollständiger Unterwerfung unter ihren Machtbedarf.

Wo in Wirklichkeit nichts weiter geht, muss es die Illusion voranbringen, das ausgeschlossene Heil der Welt, das Heilige des höheren Bewusstseins, das sich dem Unheil entschlossen entgegenstellt und Erlösung aus dem zur Ewigkeit geronnenen Jammertal verspricht, aus der Versteinerung des Elends, woraus keine Hoffnung auf Änderung mehr aufkommen kann. Die Hölle, das ist die Hoffnungslosigkeit. Und so keimt gerade dort, wo sie verbreitet ist, oft auch die Zustimmung zu den großen Vorstellungen und Ideen der politischen Klasse. Und die kann sich zunehmend auch gerade nur noch darauf stützen, wenn die politischen Möglichkeiten der Krisenbewältigung erschöpft sind und ihre Politik selbst zu einer Farce geworden ist. Die Verschwisterung großer Erlösungsvorstellungen, die aus dem Niedergang einer repräsentativen Politik gestrickt sind, mit der Zustimmung aus der Hoffnungslosigkeit der davon betroffenen Menschen wird leicht zu einem sozialen Gebräu, das eine vernichtende Spirale begründen kann: Der Wille einer Volksseele, die sich aus populär gemachten Selbstgefühlen speist, die veredeln soll, was letztlich nur eine weiter um sich greifende Verwahrlosung sein kann, allgemeine Barbarei im Kleinen die sich im Edelmut der Großen aufgehoben wissen will.

Und hat man mal mit der einfachen Verkehrung gesellschaftlicher Probleme zu unmittelbar kulturellen, und damit die Sortierung der Menschen nach Kultur und Lebensart begonnen, dann wird man auch leicht die Natur der Kulturen herausfinden. Hierfür wird die menschliche Geschichte zunächst auf die Form einer Naturgeschichte, auf Metaphern des reinen Menschseins reduziert, das in seiner Natur beschädigt sei, um daraus abzuleiten, dass es unnatürliches und also schädliches Leben gegen natürliches Leben geben würde. Das Leben wird zur Lebensart und das artige Leben zur Natur des menschlichen Lebens, zu einem eigenständigen Wesen von eigener Art und Rasse, welche eine besondere Hochkultur begründen soll. Und so total diese Artigkeit wird, so total wird auch das Unartige hiervon ausgeschlossen. Darum geht es ja schließlich, wenn und solange sich keine wirkliche Geschichte mehr ereignet. Es geht dann nicht mehr um die Probleme der Wirklichkeit sondern um die Kultivierung der Art, um Kultur schlechthin. Rassismus ist der Glaube an das totale Wesen einer reineren, einer höheren Kultur, durch welchen sich die Veredelung des Eigenen Soseins aus der Tiefe eines besseren Kulturwesen begründen lässt. Hieraus wird das Bild vom besseren Menschen, vom Übermenschen zum Herrenmenschen gewandelt, der durch Edelmut und Reinkultur geprägt ist und den Maßstab der Selektion auf der Basis einer Diskrepanz von kultivierten und unkultivierbaren Menschen verkörpert.

(3) Nur durch das Gute ist das Edle wahr zu machen; und es ist der Beweis, dass wir das Schlechte überwunden haben, nämlich so etwas, was allgemein als Abschaum gilt, der Faschismus und das Patriarchat. Zumindest glauben wir daran, wir und die Amerikaner, dass wir das geknackt haben, das wir darin durch „unseren Rechtsstaat“ gefestigt sind. Aber heimlich schleichen sie sich ein, die ihn jetzzt untergraben wollen. Man kann es ja aus ihrem Heiligen Buch ebenso wie aus Hitlers Buch entnehmen, was sie eigentlich wollen. Deshalb muss es eben „auch mal gesagt werden dürfen“: „Das Grundproblem ist, dass sich eine Verwirklichung der Menschenrechte nach westlichen Vorstellungen nur schwer mit dem vereinbaren lässt, was in Moscheen weltweit gepredigt wird.“ - so Alice Schwarzer.

So gibt es jetzt auch eine schriftliche Dokumentation für die Einschätzung der Bedrohungslage. Man müsse nur die Heiligen Bücher wie Gesetzestexte lesen. Klar, so war es ja auch bei uns im Mittelalter und so war das ja auch mit der Bibel. Heilige Gebote sind brutal. Die Heilige Schrift war ja auch dabei, als das Christentum die Kreuzzüge und seine Eroberungskriege und die Unterjochung der Eingeborenen in fremden Kontinenten und die Verbrennung von Frauen als Hexen und die Tötung der Kirchenkritiker und Wissenschaftler nach den Urteilen der Inquisition betrieben hat. Inzwischen haben sich die Christen an die Lebensmöglichkeiten der Moderne und Postmoderne angepasst und sind sehr gewöhnliche Bürger der heutigen Gesellschaft geworden. Was in der Bibel steht, gilt heute als Gleichnis und zählt nicht mehr im bloßen Wortlaut. Warum soll das bei den Moslems nicht auch so sein? Und warum sollen die, die es noch nicht besser wissen, gefährlicher sein als die christlichen Sekten wie zum Beispiel die Evangelikalen? Solche Art von Zitierung alter Texte ist absurd. Aber nicht die Mittelalterlichkeit des Zitierens, sondern des zitierten Textes wird in den Vordergrund gestellt und bewertet.

(4) Eine Bertelsmann-Studie belegt, dass die in Deutschland lebenden Muslime im Durchschnitt zwar religiöser sind als die übrigen Einwohner, aber gleichwohl in religiösen und politischen Fragen nicht weniger tolerant. Nach den Ergebnissen des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2008 erklären unter den religiösen Muslimen hierzulande 67 Prozent, dass jede Religion einen wahren Kern hat und 86 Prozent, man solle offen gegenüber allen Religionen sein. Auch sind sich die Menschen im wirklichen Leben bei weitem nicht so fremd. Eine überwältigende Mehrheit der Migranten wünscht sich nach einer Umfrage des Instituts Allensbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von 2009 einen engen sozialen Kontakt zur deutschen Mehrheitsbevölkerung. Lediglich 3,5 Prozent möchten mit den „Deutschen" nichts zu tun haben. Unter den türkischstämmigen Migranten sind es ebenfalls nur 6,1 Prozent. Dieser Wunsch wird auch im Alltag sehr häufig realisiert. So feiern 82 Prozent der Migranten Feste mit Deutschen, nur 17 Prozent tun dies nicht.

(5) Und es gibt auch die unzähligen Parallelkulturen, wie sie sich in den Chefetagen und Banken und Politik in den verschwiegenen Räumlichkeiten des Lobbyismus umtreiben. Doch es werden nun die Parallelkulturen der Menschen fokusiert, die aus anderen Kulturen hierher gekommen sind, um zu überleben, die aber zugleich die hießige Kultur nur als Kultur der Ausbeutung erfahren und sich hiergegen einigeln. Es gibt dies alles irgendwo und irgendwie auch wirklich. Aber plötzlich wird alles zu einem einzigen Argument: Deutschland wird bedroht und dagegen müsse man was tun. Einwanderung wird als Infiltration begriffen und die Kultur der Deutschen als deren Objekt. Unheimliches geschehe und werde sich potenzieren, wenn hiergegen nichts getan werde.

(6) Zum Beispiel hatte Adorno mit seinem Imperativ, „alles zu tun, dass Ausschwitz sich nicht wiederhole“ eine ganze Argumentationsstruktur hinterlassen, die ähnlich totalitär ist wie die Sprache und Denkweise, die sie bekämpft. Eine Gruppierung, die sich in Bezug darauf die „Antideutsche“ nennt, hatte damit zur Unterstützung des Krieges gegen den Irak, gegen Palästina und gegen den Iran aufgerufen. Und ein ebenso absurder Spruch von ihm, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, wurde einer ganzen Generation politisch engagierter Jugend als Behauptung um die Ohren gehauen, dass ihr Leben falsch wäre, wenn es nicht eine höhere Ästhetik der Empfindung befolge. Nichts ist absurder als der Kampf um das Richtige. Totalitarismus lässt sich nicht mit totalitären Aussagen bekämpfen. Sie appellieren lediglich an die Vorstellungen von einer besseren Welt und beanspruchen hohe Lebenswerte . Aber sie sollen nur den adeln, der sie ausspricht und den in die Pflicht nehmen, an den sie gerichtet sind. Und vor allem soll damit Politik gerechtfertigt werden, die gegen jede Analyse verschlossen bleibt. Die wird nicht richtiger sein können als das, was sie bekämpft. Nicht das Leben ist das Problem, sondern die politische Kultur der Lebenswerte und die Bedingungen, unter denen sie entstehen.