Wolfram Pfreundschuh (10.5.07)

 

Zur Geschichte der Kulturkritik

 

Kulturkritik im weitesten Sinne ist die Kritik an einer Kultur, die sich nicht im Einklang mit dem menschlichen Leben befindet, sich von ihm wesentlich unterscheidet. Sie hat von daher die Lebensweise der Menschen selbst und den Sinn ihrer Lebensgestaltungen zum Gegenstand. Kulturkritik impliziert daher immer ein bestimmtes Lebensverständnis und Menschenbild. Aber ein Bild kann keine Kritik begründen, auch nicht wenn es aus den Sphären des reinen Denkens entstanden ist. Eine philosophisch begründete Kulturkritik ist von da her problematisch, weil sie eine bestimmte Lebensgestaltung nicht aus ihrem Fundus als "der Weisheit letzter Schluss" begründen oder kritisieren, eine "menschliche Identität" unterstellen könnte, von der sie auszugehen hätte. In der Kritik von Lebensgestaltungen werden aber zwangsläufig philosophische Positionen eingebracht, die eine Seinsbestimmung für das enthalten, was für Menschen Sinn haben und wesentlich sein soll und was nicht.

Ursprünge der Kulturkritik

Die Grundfrage der Kulturkritik, was unter einem menschlichen Leben zu verstehen ist, war ursprünglich die Frage der klassischen Philosophie. Als Fragestellung aber war sie mit der Aufklärung zu einem Postulat aufgelöst worden, das sich aus der Kritik der praktischen Vernunft ergeben hatte. Es war die Theorie, dass nicht die Frage nach der richtigen Lebensgestaltung die Menschen weiterbringen kann, sondern die Vernunft ihres Willens, der sich auf ihr Handeln bezieht. Die Menschen können hiernach nicht ihr Leben begründen, sondern sich nur darin für den richtigen Weg entschließen, den die Dinge der Welt ermöglich.

In Ablehnung der idealistischen Selbstbegründung einer menschlichen Identität wurde von Immanuel Kant eine prinzipielle Beschränkung der Erkenntnis, die Unerkennbarkeit des "Dings an sich" eingeführt, welche die Philosophie von der Seinsfrage des Lebens wegführte und auf ein hiervon abgelöstes moralisches Prinzip verpflichtete. Die Einsicht in die Potenziale menschlicher Erkenntnis sei auf deren Möglichkeit zu reduzieren, die Ethik menschlichen Handelns zu formulieren - einem an und für sich voraussetzungslosem Handeln zu Gebote stehen, die sich als kategorischer Imperativ des Handelns, als dessen sittliches Prinzip zu bewähren habe.

Damit sollte Kultur selbst zu einem philosophischen Prinzip werden, philosophische Werte durchsetzen. Und damit war sie diesen unterstellt, ihre Werte selbst unhinterfragbar, schlicht vernünftig, der Mensch das Objekt einer Sittlichkeit imperatver Vernunft. Aber Gegenstand einer Kulturkritik kann nicht menschliches Leben sein, auch nicht der Streit um ein falsches oder richtiges, ein schlechtes oder gutes, ein ethisches oder unsittliches usw. Die Kritik einer bestimmten Kultur setzt den Nachweis einer Entfremdung voraus.

Und damit war das Problem dieses Nachweises formuliert, das schon seit Jean-Jacques Rousseau. (1712 - 1778) bestand, und das alle politischen Richtungen der Kulturkritik bewegt und ausgemacht hat. Zunächst ging es um den Entfremdungsbegriff überhaupt.

Für Rousseau war die Zivilisation der Menschen selbst schon entfremdet, ihrer "eigentlichen Natur" fremd, diese beengend und deformierend. Entfremdung als Verfälschung der Natur begriffen hat sich als Begriff auch bis heute noch erhalten. Im letzten Jahrhundert hatte Wilhelm Reich darauf sein "triebökonomisches Modell" entwickelt, wonach sich die charakterlichen Widerstände und kulturellen Errungenschaften der Menschen durch Bedrängung ihrer rein natürlichen Bedürfnisse begründet (siehe hierzu auch http://kulturkritik.net/kultur/antiautoritaer/index.html). Wesentlich war hierfür die Behauptung, dass die menschlichen Bedürfnisse sich nicht selbst in ihrer Kultur entwickeln, sondern dieser vorausgesetzt seien.

Etwas differnzierter war hiergegen der Ansatz Arthur Schopenhauers, der sich im Prinzip gerade vollkommen gegen den "Naturmenschen" wandte. Menschliche Subjektivität, die er im Gegensatz zur Vernunft des aufgeklärten Menschen verstand, sei eine ungezügelte Anarchie der Vorstellungskraft, die erst durch die Bildung eines hiergegen geläuterten Willens zu menschlicher Vorstellungskraft gelange. Der Wille sei als weltenübergreifende Lebensäußerung dieser Kraft der letztliche Grund menschlicher Geschichte überhaupt.

Er führte dies mit seiner Schrift "Die Welt als Wille und Vorstellung" als eigenständige "Kulturtatsache" ein, aus welcher sich Weltlichkeit selbst als Konstrukt des menschlichen Willens ergeben würde (siehe hierzu auch Konstruktivismus). Es war die Begründung eines Lebenswillens, der Vernunft und Natur vermitteln müsse und dadurch erst zur menschlichen Kultur werde, aber aus der vorausgesetzten Gegensätzlichkeit zugleich auch durch Kultur beherrscht und kontrolliert werden müsse.

Dies kann man als Ausgang der Kulturtheorien ansehen, die später von Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud fortgeführt wurden. Sie unterstellten eine subjektive Kraft, die per se kulturkritisch sei, und immer im Konflikt zur herrschenden Kultur stünde, hieraus sich aber auch die Entwicklung und Geschichte der Kultur ergeben würde (vergl. hierzu auch S. Freud: "Das Unbehagen in der Kultur").

Friedrich Nietzsche entwickelte seine Kulturkritik als Kritik der Aufklärung, jenes "Gebälk der Begriffe", das lediglich bemüht sei, sich dem menschlichen Leben zu entziehen und die Selbsterkenntnis der Menschen zu behindern. Der menschliche Genius keime in seiner Tollheit und breite übermenschliche Kräfte aus, die aus ihrer Wildheit die Blüte einer neuen Kulturepoche hervortreibe, weil sie die Dekadenz der jeweils herrschenden Kulturelite überwindet. Im beständigen Kampf der bei den "Untermenschen" entstehenden Kulturkräfte würden immer wieder neue Klassen von "Herrenmenschen" entstehen, weil Kultur immer wieder in Dekadenz verfällt und hierdurch als geschichtsbildende Kraft der Menschheit zu ihrer Kulturgeschichte werden lasse.

Im Gegensatz hierzu kam Karl Marx etwa zur selben Zeit zu dem Schluss, dass menschliche Kultur zwar die Subjektivität einer jeden Gesellschaft ausmache (siehe Historischer Materialismus), sich aber in der bürgerlichen Gesellschaft nicht subjektiv sondern objektiv aus den ökonomischen Gegensätzen der Gesellschaften in der Entwicklung der Naturaneignung, in der Entwicklung der Produktivkraft der menschlichen Arbeit bilde. Nicht die individuelle Subjektivität der Vorstellungen und Willensformen, wie sie in der Philosophie dargestellt sind, seien geschichtsbildend, sondern die praktische Entwicklung des Menschen, die menschliche Sinnbildung, wie sie sich gesellschaftlich und objektiv als Entwicklung des menschlichen Reichtums zuträgt als Bereicherung seiner Sinnlichkeit in der gesellschaftliche Äußerungsform seiner Sinne in seinen Gegenständen selbst. Philosophie bleibe als ethische Spekulation nur Interpretation und sei eine Selbstinterpretation des Bürgertums, das sich seine Selbsterhaltungsinteressen damit kultivieren und verewigen wolle. Mit seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft wollte er aufzeigen, dass die praktische Vernunft in ihrer Abtrennung vom Menschen einer objektiven Verkehrung der Lebensverhältnisse folgt, dem "gesellschaftlichen Verhältnis der Sachen", das ihnen als eine ihnen fremde Lebensbedingung gegenübersteht. Dass sie darin ihren kulturellen Halt finden können, befand er als Fetischverhalten gegenüber den Warenverhältnissen, als Warenfetischismus.

Theodor W. Adorno begriff diesen Fetischismus als Verblendungszusammenhang, der sich als Täuschung gegen das menschliche Leben totalisiert. Daher sei dieses Leben selbst nur in seiner Negativität, in seiner Unterdrückung wahr und müsse sich in der Emanzipation des menschlichen Geistes gegen die Macht der Täuschung bewahrheiten. Die Kritik des Warenfetischismus sei daher die emanzipatorisch notwendige Leistung, welche die Verdinglichung der Menschen überwinden müsse. Seine Kulturkritik war der Versuch, den objektiven Entfremdungsbegriff von Marx zurück in das Subjekt zu reflektieren und zu einer quasi philosophischen Kulturkritik, zu einer "negativen Dialektik" zu entwickeln (siehe hierzu auch http://kulturkritik.net/philosophie/wiesengrund/index.html).

Der Antagonismus von subjektiver und objektiver Kulturkritik sollte mit der antimodernen Theorie der Heideggerschen Fundamentalontologie schließlich ganz aufgehoben werden und wurde auch von neueren Autoren wie Michel Foucault, Jacques Derrida (siehe auch Dekonstruktion) und Pierre Bourdieu auf postmoderne Weise fortgeführt. In der neueren Kulturkritik ist die Objektivität und Subjektivität von Lebensgestaltung in der Lebenskonstruktion selbst Gegenstand der Kritik geworden. Der geschichtsdeterministische Gehalt führt allerdings immer in die Selbstauflösung des theoretischen Begreifens, das sich de facto der Genealogie unterwirft. Was zunächst als Emanzipation erscheint wird daher zur geistigen Unterwerfung unter die Geschichte als Behauptung einer irgendwie "tieferen Wahrheit" gegen die politischen Formationen der Gegenwart. Doch dies ist auch Verleugnung der Begründung gegenwärtiger Verhältnissse. Es muss daher um eine Kritik der Politik aus dieser Begründetheit gehen. Aus dieser Position ergibt sich eine Kulturkritik, die sich überhaupt gegen politische Verfestigung der Kultur zum Zweck des Machterhalts wendet. Kulturkritik ist also unterscheidbar in subjektiver, objektiver, antimoderner Kulturkritik und dem neueren Ansatz der "Kritik der politischen Kultur".

 

Subjektive Kulturkritik

Im Zentrum der subjektiven Kulturkritik steht der Wille, der sowohl als natürlicher Antrieb von Kulturentwicklung wie auch als notwendig beschränkt durch bisher erbrachte Kulturleistungen begriffen wird. Kultur dient von daher der Selbstbeherrschung und erweist sich in ihrer gesellschaftlichen Bewährung als Kultur einer verallgemeinerten Selbstbeherrschung. Von daher ist subjektive Kulturkritik in der Regel konservativ und misstrauisch gegenüber den Zeiterscheinungen, die „alte Zöpfe“ abschneiden wollen ohne neue Perspektiven aufzeigen zu können. Sie neigt dazu im Traditionellen das Wesentliche zu erblicken.

Weil Kultur für Konservative als das Reservoir des bewährten Lebens gilt, als Besitzstand der eigenen Geschichte, beruht solche Kulturkritik vor allem auf einem Sicherungs- und Stabilisierungsinteresse der „Seinsnotwendigkeit“ von Kultur und wendet sich gegen kulturelle Anarchie und Barbarei. Solche Kulturkritik steht meist im Begriff einer subjektivistischen Verfremdungstheorie, wendet sich gegen das Fremde im Fremden, durch welche das Eigene bedroht erscheint, und speist sich hierbei aus einer Ursprungssehnsucht des Eigentlichen oder des Heilen. Als Subjekt der Kultur gilt demnach nicht wirklich menschliche Subjektivität, sondern ein Kulturgarant, ein Kulturträger, der in den Eliten einer Gesellschaft agiert als eine Art übermenschlicher Wille, der die Gesellschaft in ihrer Entwicklung anleitet. Dies haben vor allem Schopenhauer, Nietzsche und Freud ihren kritischen Kulturauffassungen zugrunde gelegt.

Kultur ist nach Nietzsche das Produkt aus übermenschlichen Bestrebungen, die sich im Reifungsprozess ernsthafter Menschen im Kampf um die Kulturmacht ergebe. Die herrschende Schicht einer Gesellschaft betreibe eine Art Führerschaft, um den "menschlichen Adel" gegen die bloße Bedürftigkeit einer menschlichen Horde voranzubringen. Aus ihr würden sich immer wieder neue Kulturepochen ergebe, welche durch die Eliten ihrer Zeit vorangebracht werden. Mit seiner kritischen Haltung zur gesellschaftlichen Zivilisation hielt Friedrich Nietzsche die Menschen grundsätzlich für unfähig, eine freie und schöpferische Gesellschaft zu bilden und verstand seine Kulturkritik als Anstachelung, als objektive Notwendigkeit eines Stachels, welchen eine geistige Elite zu setzen habe, um die Menschenherde anzutreiben und zu bändigen. Das Gesellschaftsverständis von Nietzsche beruhte nicht auf einem Staatsverständnis nach Platon, sondern auf einem Verständnis von Kulturbildung überhaupt, aus der sich die entsprechende Gesellschaftsform erst abzuleiten hätte. Kulturentwicklung ergibt sich hiernach aus dem Wechsel, aus dem Aufstieg und Fall der jeweils herrschenden Kulturklasse (z. B. Wissenschaftler, Künstler, Politiker), die durch ihre Macht nach ihrem Höhepunkt zwangsläufig dekadent und immer wieder durch kräftigere Kulturprotagonisten abgelöst werden müsse.

 

Objektive Kulturkritik

Von linker Seite richtet sich Kulturkritik im Wesentlichen gegen die Ästhetik der Herrschaftssicherung, welche bis in die Lebenspraxis der bürgerlichen Kultur vordringt und diese selbst den ökonomischen Notwendigkeiten der Kapitalverwertung unterwirft. Diese "herrschende Ästhetik" wurde mit einem erkenntnistheoretischen Problem begründet, das Karl Marx mit dem Warenfetischismus der bürgerlichen Lebensverhältnisse in Beziehung gebracht hatte. Als Schlüsselbegriff für bürgerliche Selbstwahrnehmung wurde dieser Begriff allerdings sehr pauschalisiert und oft selbst gegen das gewendet, was er erklären sollte: Die letztlich ökonomische Seinsbestimmtheit des bürgerlichen Bewusstseins, dem notwendigen Schein der Geldform, in welcher die Verkehrung der menschlichen Lebensverhältnisse sich auftut. Der Ekel vor dem Kitsch und der ästhetischen Gewalt der Konsumwelt wurde, indem er mit dem Warenfetischismus aus der Marx‘schen Theorie identifiziert wurde, zu einer Phänomenologie des Verkehrten als des Falschen schlechthin - ganz im Gegensatz zum Marx'schen Erkenntnisinteresse.

Als Analogie schien dies zunächst hilfreich zu sein. Theodor W. Adorno sprach in diesem Zusammenhang von einer Kulturindustrie, die in der Lage sei, das Bewusstsein der Menschen so zu „verdinglichen“, dass sie in der Abspeisung mit sinnentleerten Produkten zur Affirmation des Bestehenden vermittelst des „Verblendungszusammenhangs“ ihrer Kulturerfahrungen gebracht würden. Seine „Ästhetik“ wollte die hiergegen sensible Empfindung ansprechen und ihre Verwundung in der Kunst aufzeigen; seine „Negative Dialektik“ wollte das Denken zu einen grundsätzlichen Zweifel gegen jede Totalität, gegen die totalitären Gedankenformationen der bürgerlichen Kultur und des etablierten Geistes befördern (Adorno: „Das Ganze ist das Unwahre“). Dies war die Grundlage der Kritischen Theorie, welche sich unter anderem in der Studentenbewegung in aktiver Kulturkritik umsetzte (z. B. Antiautoritarismus, Kunst als „politische Aktion“, Hochschulkritik).

Von dieser Praxis jedoch distanzierte sich Adorno und verblieb als Theoretiker der Ästhetik zugleich theoretischer Ästhet. Seine ästhetische Kulturkritik erwies sich letztlich als klassische Kulturempfindung, die erkenntnistheoretisch unterlegt worden war. Als solche stellte sie sich gegen jede Unterhaltungskultur, z. B. auch gegen Jazz überhaupt, und verwarf seine Probleme mit der aufkommenden Postmodernen durch Rückgriff auf die „wahre“ Kunst.

 

Antimoderne Kulturkritik

Martin Heidegger schuf mit seiner Fundamentalontologie die Möglichkeit einer Kulturkritik jenseits der Subjekt-Objekt-Problematik. Indem er die „Seinsnotwendigkeit“ von Kultur als Existenzial von Gesellschaft ansah, konnte er deren Phänomene nach Maßgabe ihrer existenziellen Wesentlichkeit untersuchen. Moderne Kultur verstand er durch die zunehmende Technisierung des Alltagslebens mit der Tendenz behaftet, Unwesentlichkeiten in den Vordergrund zu stellen und eine "Seinsvergessenheit" zu bewirken. Von daher wendete er sich gegen die kulturelle Moderne, welche in diesem Sinne als Zivilisationsbedrohung aufgefasst wurde. Damit bestärkte Heidegger auch andere Autoren in der Zeit vor dem deutschen Nazismus (vergleiche hierzu auch Oswald Spenglers Theorie vom Untergang des Abendlandes).

Auch postmoderne Ansätze der Kulturkritik sind antimodern. Sie kritisieren die herrschenden Lebensformen als Form impliziter Gewalt. Vor allem Jacques Derrida und Michel Foucault sahen in den sprachlichen, kulturellen und institutionellen Gepflogenheiten konstitutionelle Gewalten am Werk, die sie zum Gegenstand einer kulturkritischen Position machten. Eigentlich nur auf Sprache bezogen entwickelte Derrida ein Verfahren der Herausstellung des implizit Verneinten, dessen Aufdeckung als Dekonstruktion bezeichnet wurde. Nicht der Sinn oder Zweck eines Textes, einer Handlung, Architektur oder Kunst oder anderes war Gegenstand solcher Kritik, sondern das, was damit implizit nicht gesagt wurde bzw. nicht gemeint sein wollte. Es war ein Vorgehen der Kritik, die dem der Psychoanalyse ähnelte: Das Unbewusste sollte in seine Gegenwärtigkeit gebracht werden, um damit eine neue Gegenwärtigkeit zu bilden, welche als Kritk der alten praktisch wirksam ist.

Auch Foucault verstand von daher Kulturkritik als Kritik der Selbstbegründung von Herrschaftsstrukturen, die weit über deren Ideologie hinausging und vor allem deren institutionelle Formationen und Anwendungen (z.B. in der Pharmakologie, Psychiatrie, Biotechnik) treffen sollte. Kulturkritik sollte sich als bloße Sensibilisierung der Selbstvergegenwärtigung forttragen, indem sie die Gewalten herrschender Kulturinstitutionen bloßstellt.

 

Kulturkritik im "Kampf der Kulturen"

Neuere Ansätze der Kulturkritik entwickelten sich einerseits aus der Analyse des deutschen Faschismus und andererseits als Kritik an der globalen Politik mit Kultur, die sich zunehmend der kulturellen Selbstwahrnehmung bedient. Die weltweiten Krisen der Kapitalverwertung verlangen nach weiterer Funktionalisierung von Arbeit und Konsum zu deren Lösung. Die Kapitalmanager sehen diese in einer Kultur des „Tittytainments“, worin die Menschen als stumpfe Konsumenten und Freizeitjobber – im Prinzip als Süchtige und Arbeitstiere – angesehen werden.

Kulturkritik bezieht sich von daher auf politische Ästhetik, die ihre Substanz in der Selbstwahrnehmung der Menschen hat, wenn sie mit den Aufreizungen einer entgrenzten Eventkultur in Bann gehalten werden. Selbstverwirklichung erscheint in solcher Kultur als bloße Entfaltung des Erlebens- und Konsumtionsbedarfs und ist in ihrer abstrakten Identitätsstiftung politisch: Sie entkernt vor allem auch die Wahrnehmung politischer Wirklichkeit und verunsichert die Selbstwertigkeit. Zugleich wird durch die Gleichgültigkeit der Wahrnehmung gegen die kulturell bedingte Selbstentfremdung die Wahrnehmung eigener Kultur verunsichert.

Leichten Zugang finden von daher dann auch die staatspolitischen Belange der "nationalen Selbstverteidigung" über kulturpolitische Argumentationen, in welchen sicherheitspolitische Notwendigkeiten der Staatsräson durch die Bedrohlichkeit fremder Kulturen unterlegt werden. So wird z.B. in Samuel Huntingtons Buch vom „Kampf der Kulturen“) durch einen Zusammenprall der Kulturen („Clash of Civilizations“) eine Gefahr für die menschliche Zivilisation beschworen und die Notwendigkeit einer Vorsorge für die eigenen kulturellen Belange abgeleitet. Es handelt sich bei diesem Buch um eine Auftragsarbeit für einen amerikanischen Thinktank, bei dem sich auch die US-Regierung bedient. Der wissenschaftliche Gehalt des Buches wird vielfach bestritten (vergl. hierzu z.B. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt: Harald Müller - "Der Kampf der Kulturen findet nicht statt").

Das Buch von Huntington lässt sich auf folgende Schlussfolgerung reduzieren: 1. Kulturen seien durch Religionen bestimmt; 2. die zivilisierteste Religion sei das Christentum, 3. die NATO sei die einzige für das Christentum relevante Verteidigungsmacht; 4. der Kampf der Kulturen um die weltpolitische Vorschaft sei zwangsläufig und müsse in den nationalpolitischen Konzepten enthalten sein. Dieses Werk ist inzwischen die Standardargumentation der Neocon für ihre „Weltordnungskriege“ („Achse des Bösen“), wie sie auch in einem ihrer Grundlagenpapiere („Rebuilding Americas Defenses“) ausgeführt wird. Dieses stellte die politische Grundlage der amerikanischen Neokonservativen dar, die unter anderem von Paul Wolfowitz, Jeb Bush, Dick Cheney und Ronald Rumsfeld unterzeichnet ist.