Wolfram Pfreundschuh (14.7.06)

 

Die Massenkultur und ihre Eliten

 

Dem Veranstalter gehört die Show. Und die war topp, ein deutscher Rausch der Deutschen und ihrer Gäste, der Freundschaft der Freunde unter Freunden. Sport tut gut, das Gefühl eines gemeinsamen Anliegens auch und es hat sich was getan in Deutschland – zumindest in der Zeit der Fussballweltmeisterschaft. Und kaum war es vorbei und die Psychologen in Sorge, dass jetzt wieder das große Loch der Deutschen aufginge, da sah die Abendzeitung aus München auch schon wieder neues Land: Die nächste Show ist schon im Werden: „Nach der WM ist vor dem Papst!“, titelte sie. Nein wie lustig! Es scheint, dass wir große Veranstaltungen auf Dauer nötig haben.

Die Frage mag erlaubt sein, was dieser ganze Wirbel soll. Es sieht doch ganz danach aus, als ob irgendwas nicht stimmt, als ob mit dem sportlich-politischen Arrangement etwas verwirbelt werden soll, das wir in Wirklichkeit nicht mehr so gut auf die Reihe bringen, zumindest nicht so gut wie eine Fussballweltmeisterschaft. Ist es vielleicht ein erneutes „Wunder von Bern“, das uns wie einst aus den düsteren Kriegszeiten wieder herausheben soll? Oder ist es doch nur wieder mal bloß der Kommerz, der durch ein Umsatzplus gesteigert wird, um die Wirtschaft wieder zu sanieren?

Nein, die Wirtschaft allein war es sicher nicht. Gemessen an dem, was uns nötig wäre, ist das Umsatzplus im Einzelhandel und der Gastronomie nur ein Klacks. Schließlich geht es doch um die Zukunft Deutschlands überhaupt, um seine Chancen, die weitere Entwicklung der Arbeit und Ausbildung, der Gesundheits- und Altersvorsorge und des Fortbestands der Generationen zu gewährleisten. Die diesbezügliche Stimmung war so mies, dass weit schlimmeres für die Wirtschaft zu befürchten war, als nur eine schlechte Konjunkturphase, die durch Umsatz zu beheben ist. Und es ging hierbei eben auch um den Geisteszustand der Deutschen, also darum, wieweit sie noch „bei der Stange bleiben“. Hatten sich die Medien doch noch kürzlich um eine „deutsche Depression“ bemüht und die deutschen Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, Deutschland zu sein, so wurde jetzt jeder schon dadurch zu Deutschland, dass er Teil einer Fussballweltmeisterschaft wurde, Mitveranstalter des weltweit größten Sportsereignisses dieses Jahres. Und das wird wohl auch den Sportsgeist der Deutschen beflügeln. Das ist es doch, was fehlt: Teamgeist, Mannschaftsgeist. Der vermittelt nämlich das Wissen, dass Freuden nur durch Pflichten geboren werden und dass Pflichten deshalb auch Freude machen. Er bringt vor allem Einsicht in große Aufgabenstellungen und ihre Lösungen. Und die erhöht dann auch die Leidensfähigkeit der Beteiligten.

Das wissen die Strategen unserer Gesellschaft, zumindest Politiker und Medien, und man baut vor. Natürlich ist es der Politik schon längst klar, dass sich ihr Programm nach bisheriger Art nicht mehr so leicht rüberbringen lässt, dass mit den Problemen und deren Lösungen, die sie in ihren Schubladen haben, unter gewöhnlicher Stimmungslage nur noch Ärger mit den Adressaten ihrer Politik zu befürchten wäre. Und die Wahlen daraufhin könnten ein Desaster für alle werden. So ist auch hier so was wie Teamgeist erforderlich. Klinsi hats gezeigt. Und Sportskultur soll das jetzt weiter bringen. Wir alle müssen es schaffen. Wir sind die Veranstalter, nicht nur der Meisterschaft, sondern auch der Politik. Wie praktisch für eine restriktive Sozialpolitik!

Die Kultstätten des Frohsinns sind installiert und sie werden noch für vieles herhalten. Die Kultur der deutschen Sportbegeisterung ist in die Breite gegangen und hat sich niedergelassen auf den großen Bühnen, mit ihrer Hochkultur vereint, mit den Sängern, Musikern, Medienleuten und Publishing-Unternehmungen, ist selbst zum Kult geworden. Leben ist zumindest als beständiger Appell an das Erleben mal wieder unter die Leute gebracht worden.

Und die haben es tatsächlich auch angenommen. Sie haben danach verlangt, die Eintrittskarten erkämpft und die Arenen gestürmt und sich in großen Massen aufgemacht und verbrüdert, manchmal gesungen, manchmal „Deutschland“ gegröhlt. Es war nicht nur das Arrangement der Politik, es war ihr Bedürfnis, das Bedürfnis nach einer Zwischenzeit, einer Art von Spontaneität, die ungewöhnlich geworden war, ein Hauch von Geschichtlichkeit - und sei es auch nur die einer Erlebensgemeinschaft beim Fußballgucken. Ansonsten vergehen die Tage in erdrückender Gleichgültigkeit, hier aber entscheidet sich doch noch zumindest, wer wirklich Weltmeister werden soll. Und jeder kann mitmachen, zumindest im Anspornen. Sport kommt von Sporn und die Gemeinde der Ansporner hat dabei quasi einen gesellschaftlichen Sinn, der ja sonst so selten ist. Und dabei passt dann doch immer etwas zusammen, was sonst nicht zusammen geht. Es passt aber auch zusammen, was nicht zusammen gehört.

In der Laune der allgemeinen Verbrüderung vermengt sich das Verlangen nach Lebensfreude nämlich locker auch mit den Bedürfnissen der Politik, eine Art Volksgemeinschaft zum Werkzeug höherer Einsichten zu machen. Wir sind doch alle eine Gemeinschaft, eine Welt der vielen Nationalitäten! Da sollte man nicht streiten. Wettkampf soll es sein, Sport. Und da gibt es doch Zusammenhalt, auch wenn’s mal hart auf hart geht im Kampf der Sportler, die hier ihre angeblich ihre Nationen zu vertreten haben. Der Wettkampf im Sport wird zum Event des Patriotismus. Das ist nicht unbedingt Nationalismus. Man spricht nicht mehr vom Vaterland, das zu lieben nötig sei, aber doch von Deutschland als Sportsfreund, als ein Freund der Vielen und als Gastgeber eines sportlichen Ereignisses. Deutschland ist nicht mehr so einfach eine Administration. Es ist wieder zu einer Person geworden, zum Gönner einer großen Veranstaltung, dem man also durchaus auch Sportsgeist zurechnen können sollte.

Patriotisches Pathos wird als Sportsgeist zum großen Gemüt einer Politik, die begeistern will und sich dahinter versteckt, sich als nationale Kultur ausgibt, die ein "Volk" zwar beseelt, die aber (noch) nicht unbedingt als eine Volksseele ausgemacht wird. Diese lässt vergessen, was die Unterschiede und Gegensätze im Leben der Menschen sonst ausmacht – und die Erkenntnisse, die darin zu machen sind. Nur hierdurch wird die Menge unterschiedslos und verliert sich in einer ununterscheidbaren Masse in leeren Abstraktionen mit viel Gefühl. „Wer Deutscher ist, der stehe auf“ skandiert man in der Arena, um die Mannschaft mit den eigenen Landesfarben anzuspornen. Es klingt nach Aufstand und Selbstbewusstsein. Und das war es dann auch schon. Aber es bleibt auch irgendwie hängen, so etwas wie „Deutscher erwache!“ Die Kinder rufen es auf den Schulhöfen und gewöhnen sich daran, stolz zu sein, wenn von Deutschland die Rede ist. Jedenfalls springt da was über und durch die Vielen wird das große Eine zu einem einzig Großen, zu einem Gefühl, worin sich nationale Besonderheit ins Unendliche vergrößern kann. Darin kann sich dann ein Verlangen nach massenhafter Begeisterung leicht in den Geist einer Masse kehren, der überhaupt dazu genommen wird, die Widerspenstigkeiten, welche Abstraktionen nun mal im konkreten Leben der Menschen hervorbringen, an ihnen selbst aufzuheben. „Wer deutsch ist, der muss sich auch um Deutschland kümmern“. Das ist dann wie die Sorge um einen kranken Vater. Nichts könnte besser für die Staatskasse sein, als ein massenhaft klingendes Schärflein Goodwill.

Der Geist der deutschen Masse ist nicht mehr einfach nur deutsch.

Masse kann aber nur begeistern, wenn ihr der Geist einer Kultur verliehen wird, wenn jemand dahin kommt, das vielleicht noch platte Gefühl für große Zusammenhänge zu einem Zusammenhang großer Gefühle zu machen. Der Übergang ist schleichend. Zuerst ist es eine Stimmung, die viele mitreißt, dann ist es ein Gefühl, das Unterordnung erheischt, weil es Einordnung bewirkt. So entsteht Kultur in Massen und für die Massen. Nicht wenn sie alle zusammen gröhlen, sondern wenn sie reflektieren, wenn sie sich auf ihr Land besinnen, auf ihre Sportlichkeit, ihre Fähigkeit, ihre Gefühle, Stimmungen, Gewohnheiten und Geborgenheiten und ihre so lange schon in ihre Kultur eingebrachten Leidenschaften, - dann werden sie zu einem Volk, das sich definieren lässt, das sich eine ganz bestimmte Größe in einem ganz bestimmten allgemeinen Selbstgefühl gibt. Es wird zu einer einzigartigen Allgemeinheit, zu einem Kulturvolk der besonderen Art, dessen Attribute sich wie Auszeichnungen lesen lassen. Hieraus wurde im Verbund mit den Interessen des kapitalistischen Staates schon einmal ein faschistischer deutscher Kulturstaat.

Ist Deutschland vielleicht schon wieder dabei, zu einem Kulturstaat zu werden? Weist die Flut der Landesfarben und das Nationalgeschrei nicht auf deutsche Gesinnung altbekannter Art hin, auf Blut und Boden und Deutschland über alles? Nein, jedenfalls nicht durch die Fussballweltmeisterschaft. Mit dem Völkischen ist es dabei nicht allzu weit her und die Volksseele wäre unsportlich, würde sie nur auf Sieg setzen. Zum Sport gehört der Wettkampf und auch, verlieren zu können. Die Massenkultur steckt in der Veranstaltung als solcher, im Erleben großer Begegnungen. Die Kultur der Masse ist die Veranstaltung selbst, der Konsum der Ereignisse. Und darin erlebt man nicht unbedingt nur national. Ohne Achtung vor einem Gegner geht auch das Erleben sportlicher Ereignisse nicht gut. In der Kultur sind wir mit ihm da gewissermaßen einig. Es ist eher die Kultur der Konsumenten, die sich an den Ereignissen selbst berauschen.

Solche Kultur haben wir ja auch sonst in Massen, und zwar dieselbe wie andere Länder des westlichen Kapitalismus auch. Haben wir uns nicht schon an die vielen Kulturveranstaltungen in unserem Alltag gewöhnt, an die gut durchtrainierten Auftritte der großen Kultur- und Werbeunternehmungen, an die Kultur der Erlebnisparks und der Einkaufsmärkte mit ihrem nicht enden wollenden Unterhaltungswert im Angebot für den Kulturkonsum. Konsumkultur gibt es überall schon zur Genüge: Hier die Fresszentren im Einkaufszentrum, im Trubel der Kauflust und dazwischen die Serien-Plastik einer Kunstform von Bären oder Löwen. Alle Unterhaltung besteht fast nur noch aus Shows, aus Sportshow, Life-Show und Talk-Show oder auch mal aus einer Lightshow auf dem Nachhauseweg von den Regenerationsstätten des offiziellen Kulturbetriebs, in denen sich vielleicht die weniger bildungsbeflissenen Mitbürger gelangweilt hatten. Und überall dazwischen werden die Menschen mit Werbesprüchen und Zielvorgaben in einer Dauerkonsumspanne vor sich her getrieben. Solche Kultur durchzieht dann alles Öffentliche als eine Notwendigkeit allzeitiger Selbstvergegenwärtigung und bietet sich unentwegt an, wo sie sich selbst thematisieren kann. Diese Kultur unterscheidet sich nicht mehr zwischen den westlichen Nationen, sondern nurmehr durch die Märkte, die Produktionststätten, Rohstoffquellen, Anbaugebiete, durch die auf diesem Planeten im Lauf der jüngeren Zeit Ost und West und Nord und Süd unterschieden worden sind.

Man spricht deshalb gerne von Kulturunterschieden, aber es sind eigentlich doch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Ländern, worin Konsum und Dienstleistungen den Zusammenhang ausmachen, und denen die nur durch die Produktion für diese den globalen Überlebenskampf bestehen können. Die Hervorkehrung der Wirtschaftsmacht zur internationalen Nation, zur Supernation als Westkultur schlechthin ist die neue Art geworden, mit Konsumverhalten Identität zu gaukeln, Beziehung vorzutäuschen und Armut, Ausplünderung und Ausbeutung als selbstverschuldet zu behaupten, als eine mindere Entwicklungsstufe der Zivilisation. Was sich da als Kulturreich zusammenbraut, das ist vor allem die Westkultur, die sich zunehmend als Weltkultur verstehen will mit der ihr entsprechenden Konsumwelt, der Welt der Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung und des Selbsterlebens.

Gesellschaft als Form öffentlicher Wahrnehmung

Feste gab es schon immer. Sie bezogen sich auf die besonderen Höhepunkte der Geschichten, die es in bestimmten Regionen mit bestimmtem Brauchtum gegeben hatte. Sie begründeten sich direkt oder indirekt aus der lokalen Geschichte, entweder aus dem Jahresablauf der Arbeit oder aus dem Geisteszyklus der Religion oder den Geschichtswenden oder Jubiläen der Betriebe und Familien oder ähnlichem. Waren es ursprünglich Feiern von Menschen, die miteinander zu tun hatten, wurden sie durch die Anonymisierung der Lebenszusammenhänge zu Parties, wodurch Menschen, die wenig miteinander zu tun hatten, sich näher kommen konnten und schließlich zum Event, worin Menschen, die nur noch mit sich zu tun haben wollen, entsprechende Ereignisse zur Nutzung hierfür zu finden erhofften. Als Event für die Selbstwahrnehmung hatte das Feiern die Geschichte ersetzt und wurde zu einem Ereignis, das dem Selbsterleben einfach hie und da nötig wurde, weil es im Leben selbst keinen Grund mehr zum Feiern gab. Es wurde zum Ersatz für eine verlorene Identität im wirklichen Leben, zu einer Selbsterinnerung im Erleben.

Erleben bietet alles, was das Leben nicht unbedingt bringen kann. Man kann sich darin überall und immer wieder mal abfeiern, sobald der deutsche Alltag unerträglich ist. Natürlich bleibt jeder damit alleine. Aber er kann doch immerhin gut mitschunkeln und die Isolation seiner einzelnen Wirklichkeit, sein Dasein als Hungerlöhner, Rentner oder Hartz-IV-Empfänger vergessen machen. Wirklichkeit ist ja nicht alles! Alles ist fantastisch! Man kann da ruhig mal drüber stehn. Auch wenn sich daraus keine wirklichen Geschichten ergeben, keine wirklichen Folgen, die einen Grund hätten. Geschichten werden heute eben erfunden. Die wirkliche Geschichte ist doch eh schon gelaufen. Eine von Menschen bestimmte Geschichte kennt man gerade noch aus alten Filmen und den Geschichtsbüchern. Jetzt aber zählt vor allem das Leben im Hier und Jetzt, das Erleben, die großen Ereignisse, die Abfolge der Tabellensiege, die Erfolge der Inszenierung, die Bühnenerfolge und die Magie einer Cyber- und Hyperkultur. So privat es erscheint, so öffentlich ist es doch zugleich. Der öffentliche Ort einer Massenkultur ist längst zur Welt gebracht. Nicht nur im Fernsehen, sondern auch auf der Straße und in den Arenen. Disko war gestern, heute gibt’s die Meilen, die öffentlichen Plätze, auf denen Kultur geboten wird, die Straßen der großen Erinnerungen, die dem Gefüge ihrer Infrastruktur und Geschichte entwunden und zum Austragungsort der Masse geworden sind, zu ihrem Erlebnispark.

Wir befinden uns in einem Zustand, worin Geschichte nicht mehr durch unser Tun und unsere Bewegung stattfindet, sondern worin wir bewegt werden, wo wir einfach nur dabei sind und vielleicht mitmachen - oder auch nicht. Es ist gleich. Der Lauf der Zeit scheint uns aufgezwungen wie das Ticken einer Uhr und der Terminkalender wird zur tragenden Form der wohl dosierten und gut platzierten Ereignisse, wie sie von den Veranstaltern bestimmt sind. Sie müssen natürlich auch veranstaltet sein. Es braucht die Macker und Gurus, die Kulturveranstalter und Kulturproduzenten. Sie beherrschen das immer besser - und so sind jetzt die Deutschen endlich auch stolz drauf, als Weltveranstalter sich qualifiziert zu haben. Das Leben ist in der Veranstaltungskultur eben überhaupt zur Hauptveranstaltung geworden und wer es auf die Bühne bringt, der muss ja auch am besten wissen, wie es zu machen ist. Erlebniskultur ist eben vor allem auch Medienkultur.

Veranstaltungen sind Darbietungen, worin Unterhaltung betrieben und Reflexion ermöglicht wird. Als solches fallen sie aus der wirklichen Geschichte heraus. Das wirkliche Leben ist keine Veranstaltung. Es ergibt sich aus den Bewegungen und Wirkungen, die alles aufeinander hat. In der Veranstaltung wird dies abgedrängt oder sogar verdrängt und damit Geschichte aufgehoben. Man muss sich fragen, wie ein solcher Zustand überhaupt sein kann. Wenn es keine Geschichte mehr durch die Menschen gibt, was soll dann Leben noch sein? Seine Gestaltung steht ja nimmer an. Es ist jetzt da, wie es gegeben ist und müsste als Gegebenheit gelebt werden. Ein Widersinn in sich.

Aber das Leben als bloßes Erleben passt zu dem, was Geldbesitz ausmacht: Geschichtslosigkeit, die Vermittlung durch sich selbst, der Verlust von Herkunft und Ziel. Geld, wenn es nicht ausgegeben werden muss, kann nur zu mehr Geld werden. Hierzulande hat man im Durchschnitt noch genug Geld, um das Nötigste anzuschaffen, und wenn wir zu wenig haben, müssen wir halt wieder mehr Devisen oder Aktien anlegen. Die machen Geld wie von selbst, denn Geld, wenn man es übrig hat, macht Geld - das weiß man schon. Wir sind keine Produktionsgesellschaft. Wir sind eine Dienstleistungsgesellschaft. Jeder dient dem anderen, um sich selbst zu dienen. Alles ist wechselseitig, nur das Geld ist es nicht. Der allgemeine Zweck und Grund unserer Arbeit ist deshalb nur noch, Geld zu verdienen.

Arbeit als Lebensbildnerin? Was soll das sein, wo es doch nur noch immer weniger Arbeit gibt und es nur noch um die Bedürfnisse und ihre Befriedigung gehen kann, zumindest um Befriedung. Ob die Arbeit sonst noch einen Sinn hat? Gott bewahre! Wer noch glaubt, sich in seiner Arbeit zu äußern, sein Leben zu erzeugen, der muss irgendwie verrückt sein. Wo soll das denn auch noch stattfinden? Arbeit kann nur Mittel zum Zweck sein, einfach was Nötiges, um an Geld zu kommen. Subjektiv ist da nichts mehr und von einem Subjekt der Arbeit kann schon gar nicht mehr die Rede sein. Das sind olle Kamellen. We all live and that’s why we are alife. Sage mir, was du brauchst und ich sage dir, wo du es kriegst: Schließlich findest du immer irgendwas im Internet.

Geld kann nicht die Achse der wirklichen Geschichte sein

Hierzulande gibt es fast keine Arbeit mehr, mit der sich Menschen identifizieren können. Der Job im Callcenter, beim Servicedienst oder im Bahnhofsrestaurant ist bloß ätzend. Es ist doch letztlich zu simpel: Wir nehmen, was wir kriegen und was wir kriegen, das geben wir auch wieder zurück. Geld scheint die einzige Achse des Lebens zu sein: Wir bekommen es und geben es einfach weiter. Dazwischen liegt ein bisschen vom Nötigsten und ein bisschen Nascherei. Das ist alles, im Grunde alles gleichgültig. Obwohl sich Geld auf alles bezieht, haben wir durch Geld mit nichts zu tun, weil wir nichts haben, wodurch wir wirklich sein können. Es ist eine Art Sucht. Jedes Leben ist zu dieser Ödnis des Habens und Nehmens verteufelt, in der kein Mensch mehr wirklich vorkommt, höchstens ein Zwischenmensch in zwischenmenschlichen Beziehungen, ein Lebensabschnittspartner oder auch nur ein Spielzeug oder Spielgefährte, mit dem das Leben auszuhalten ist. Jede sonstige Äußerung hat keinen Sinn mehr, weil er sich nicht mehr wirklich auf andere Menschen bezieht, weil er nur privat existiert, indem er alles aufzehrt, was gesellschaftlich geboten wird.

So hatten es die Ökonomen, Manager und Strategen auch geplant, als ihnen klar wurde, dass der Kapitalismus mit seiner Globalisierung um so mehr in das Problem vertieft worden war, das diese auflösen sollte - und so wurde es zu einem schier unlösbaren Problem: Die Arbeit reichte nicht mehr aus, um das Wertwachstum sicher zu stellen und die Menschen unter dieser Bedingung durch Arbeit zu beschäftigen - nicht um Arbeit unter ihnen aufzuteilen, sondern um ihre Ausbeutung zu intensivieren. Das Kapital zehrt von Arbeit, weil nur sie Wert bildet, aber es stellt auch tote Arbeit dar, die Arbeit nötig hat, um Wert zu bleiben (siehe Arbeitswerttheorie). Man braucht vor allem die Masse, die dennoch bringt, was nötig ist und auch all das verzehrt, was auf den Markt kommt. In der Massenkultur, so planten sie es seit ihrem Kongress in San Franzisko im Jahre 1997, da soll das Ganze dann aufgehen, das große Fressen, das Tittytainment. Auch 60 % bis 80% Arbeitslosigkeit sollen dann kein Problem mehr sein, wenn es eine gute Elite gibt, die den Kahn dann schaukelt und viele, viele Menschen, die davon abhängig sind, die einen, wegen der Arbeit, die anderen wegen des Konsums.

Das haben sie gut hingekriegt und wir nehmen es fast nicht mehr wahr: Die öffentliche Vergnügungsmeile will uns in Gesellschaft sein lassen, und gesellschaftliches Erleben vermitteln, weil es kein wirklich gesellschaftliches Leben, keine wirkliche Gesellschaft mehr gibt. Wir können uns das nur noch einbilden, während wir schon vollständig am Tropf des Kapitals hängen. Und wir merken es nicht mehr, weil wir besonders viel erleben, weil wir in der Masse der Kulturveranstaltungen eben auch schon aufgegangen sind, in der Masse der Kultur als Kulturmasse einer Gesellschaft, die nicht die unsre ist. Das allein ist unsere Wirklichkeit, auch wenn die gar nicht wirklich ist, zumindest bewirkt sie nichts, ist schlicht entwirklichte Wirklichkeit. Sie scheint so unendlich, wie sie auch unendlich bestimmt, also unbestimmt ist.

Gerade wo kein Geld mehr entsteht, ist Geld der Grund, worauf Massenkultur beruht

Eine Massenkultur braucht es vor allem, um eine unendliche Geschichte, um das endlose Dilemma einer unbestimmt bestimmten Wirklichkeit auch auszuhalten. Es hat das Wertgesetz die Menschen längst schon überholt. Nicht mehr sie suchen den Wert ihrer Sachen herauszustellen, um sie zu tauschen und Werte zu schaffen. Der Wert selbst stellt fest, was ihm die Menschen wert sind, was ihre Bedürfnisse ihm bringen und was ihre Arbeit ihm taugt. Der Wert ist keine Reflexion mehr, die aus dem Kapital hervorscheint, wenn es zur Investition schreitet. Er verhält sich als Vergleichssubjekt auf den Geld- und Devisenmärkten wirklich wertend ohne jedoch noch wirklichen Wert zu bilden. Doch wem teilt sich das noch wirklich mit?

Der Wert ist als Finanzkapital an die Stelle des investierenden Kapitals getreten, hat sich weitgehend von den notwendigen Investitionen getrennt, benutzt die Infrastrukturen der Nationalstaaten und die Produktionsstätten der Staats-, Klein- und Familienbetriebe fast umsonst. Er ist die reine Macht des reinen Quantums, dessen absolute Verhältnisform, die Grundrendite und Grundrente in einem, die sich als Taktgeber des allgemeinen Verkehrs in Mieten, Grundstückspreisen, Rohstoffpreisen, Lizenzen usw. nur noch allgemeinverbindlich mitteilt. Als Produktionsstätte eines wie immer auch gearteten gesellschaftlichen Reichtums ist der Kapitalismus an sein Ende gelangt und ist dabei, zu einer etwas aufgeblasenen Form in einen Feudalismus des Wertes überzugehen, das Kapital als Feudalwert zu handeln. Irgendwie werden wir gerade wieder zu Leibeigenen eines Feudalkapitalismus, die vor allem dafür zahlen müssen, dass sie auf der Welt sind und keinen Grund und Boden oder Immobilien oder Rohstoffe besitzen, noch je in solchen Besitz gelangen könnten. Wir merken das nur noch nicht so deutlich, denn wir haben unsere Kultur jetzt als Erlebensmasse und wir konsumieren auch gerne – unsere Art, mit der Welt fertig zu werden. Aber schon mit seiner Geburt in diesem System ist jeder Mensch hochverschuldet und daher auch hochverpflichtet. Generationen sind schon verausgabt, bevor sie in diese Lebens- und Arbeitswelt überhaupt eintreten können. Sie werden das nicht unmittelbar in ihrer scheinbaren persönlichen Freiheit spüren, weil ihre Freiheit die des Kulturkonsums ist, aber sie werden es an dem zu merken haben, was der Staat in ihrem Leben an Rolle haben wird, der Staat als der Sachwalter einer höheren Ordnung, einer höheren Schuld und einer höheren Pflicht. Und wer soll dann noch fassen können, dass eine ganze Gesellschaftsform an ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit erstickt ist?

Vom sogenannten „Ende der Geschichte“

Wer Geld besitzt, der lebt in einem Reich unendlicher Möglichkeiten, auch wenn er hierzu nichts kann, geschweige denn, dass er es erzeugt hätte. Geld ist keine Lebensäußerung, nichts, was qualitativ bestimmt wäre. Mit Geld lebt er nur durch andere, welche sich jeder möglichen Bestimmung beugen müssen. Geld verpflichtet den, der keines hat, für den, der es ausgeben will. Geld ist unmittelbar gesellschaftlich und stellt alle Menschen qualitativ gleich, wenn auch quantitativ je nach Geldeinkommen nach Maßgabe ihrer Lebensbedingung unterschieden. Geld, das in keinerlei Beziehung mehr zur Produktion, zur Lebenserzeugung steht, ist demnach selbst die unmittelbare Form eines Zusammenhangs, Formbestimmung einer Gesellschaft. Was öffentlich wahrgenommen wird, wird durch Geld auch öffentlich wahrgemacht. Wie es entsteht und wie man dies wahrhat, das ist darin verschwunden. Hier ist alles umgekehrt wie dort, wo Geld entstanden war, wo es als Zahlungsmittel auf die Welt kam, wo es nur als Maß der Werte ein Maßsstab der Preise war. Hier ist das Wertmaß total, das Mögliche unendlich offen, das Wirkliche unendlich beschränkt.

Der Kreis wird durch Kultur geschlossen, durch welche das öffentlich bedurfte Leben, das privat nur beschränkt befriedigt, jetzt aber öffentlich befriedet wird. Von daher hat auch die Massenkultur ihren Reiz. Alle Aufregungen und Sonderbarkeiten, alle Erregungen und ihr Zauber finden darin metaphysischen Anklang und eine Metaphorik, die alles und jeden erhebt, Erhabenheit geradezu als Lebensentwurf ausgibt – aufbereitet für ein Leben auf der Bühne. Darin werden unter der Hand dann auch die Bedürfnisse und Widerstände der Bevölkerung weitgehend unauffällig kanalisiert und zur Vorstellung gebracht. Gut ist, was geboten wird. Und es muss nur geboten werden, dann ist es auch schon gut, Gebot höherer Güte. Verlierer, das sind alleine die Zuschauer. Aber die vor allem braucht man, damit das Ganze funktioniert. Denn nur sie zahlen den Eintritt. Und austreten können sie ja nicht.

Massenkultur wird nicht einfach geboten oder eingerichtet, damit die Leute funktionieren. Sie ist nicht eine Kultur, in der Menschen von einem höheren Subjekt gezielt zusammengeschlossen werden, nicht Kultur, die alleine aus politisch instrumenteller Zwecksetzung der Kulturindustrie einer Menge geboten wird, um sie z.B. durch kulturelle oder sportliche Veranstaltungen zu steuern. Dies hätte zwar viel mit Politik, nichts aber mit Kultur zu tun. Massenkultur ist eine Kultur, die durch Masse selbst erzeugt und bestimmt wird und die in einer Massengesellschaft schon dann sich ausbreitet, wenn menschliche Geschichte nicht stattfindet, wenn sich in ihr die Menschen nicht wirklich in dem aufeinander beziehen können, durch was sie aufeinander bezogen sind, wenn sie etwas äußern, worin sie sich nicht verwirklichen und wirklich nichts haben, wodurch sie auf sich kommen. In einer Kultur, in der die Menschen nicht wirklich gegenständlich sind, sich nicht als Menschen gesellschaftlich vergegenständlichen, da bleiben sie sich auch wesentlich fremd, entgegenständlichen sie ihre Geschichte zu einer Geschichte ihrer Fremdbestimmung.

Geschichte gibt es für sie in diesem Sinn noch nicht wirklich menschlich, noch nicht gesellschaftlich, auch wenn sie als Vereinzelte in Gesellschaft sind. Sie hebt sich in dem auf, worin sie entsteht, ist eine sich permanent aufhebende Geschichte. Nun ist zwar wahr, dass Geschichte in ihrem Zeitverlauf nicht aufhören kann, sofern sie nur als Zeit verstanden wird. Selbst wenn nichts mehr geht, geht doch alles weiter, muss es immer weiter gehen, weil Nichts nicht sein kann. Einen Stillstand kann es schon von Natur her, durch den Stoffwechsel, die Bewegung, die Vermehrung usw. nicht geben. Und das macht auch schon, warum allein das, was ist, selbst schon bestimmend wird, und sei es ein bloß leeres Verlangen, eine abstrakte Notwendigkeit, blanker Hunger, Gier der Not. Wo nichts mehr ist, da wird, was ist, zu dem, was das bestimmt, was nicht ist. Das Nichts erscheint als Form für sich, als Form mit eigener Substanz, als Formbestimmung. Das macht die Dialektik der Geschichte aus. Die reine Substanz dessen, was das Sein ausmacht, wird zur Abstraktion ihrer selbst, zur bloßen Form, welche das Seiende bestimmt, zu einem abstrakten Sein, das sich in dem formalisiert, worin es sein kann – zum Beispiel Arbeit als abstrakt menschliche Arbeit oder Sinn als abstrakt menschlicher Sinn. Solche Abstraktionen bestehen als selbständiges Quantum ihrer Geschichte, als Form für sich, in die hineingeht, was entsteht, und worin zugleich vergeht, was dies für die Menschen ist.

Wo sich also die Form ihrer Lebensverhältnisse nicht mehr oder noch nicht aus ihrem Wirken bestimmt, erscheint sie als ein hiervon abgelöstes Gemenge, als ein Quantum, das nicht unmittelbar sinnlich ist, sondern nur im bloßen Dasein das Mittel für seinen Zweck hat, also irgendwie nützlich ist, aber eben nur im Gemenge von Beziehungen, die sich darin nicht gestalten können, weil sie im Grunde hiergegen gleichgültig sind. Zweckhafte Beziehungen sind in diesem Gemenge immer Beziehungen in einer Vermittlung, die nicht unmittelbar Sinn hat, aber hierfür irgendein mögliches Mittel ist. Es sind Beziehungen, die zwar bestimmt sind, die sich aber zugleich gleichgültig gegen ihre Bestimmtheit vermitteln: abstrakte Beziehungen. Diese verhalten sich nur durch die Beziehungslosigkeit ihrer Mittel. Von da her sind sie getrennt von den Bedürfnissen der Menschen, die allerdings selbst auch nur äußerlichen Zweck setzen, weil auch sie nur hierdurch vermittelt sind, Lebensmittel von irgendwelcher Art besitzen müssen, um Leben zu können.

Das Gemenge dieser Mittel hat Karl Marx als Warensammlung bezeichnet, worin der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint. Als diese Mittel sind sie zwar Form einer Geschichte, nämlich der menschlichen Reichtumsbildung, zugleich aber auch Formbestimmung ihrer Verhältnisse. Was in ihrer Geschichte qualitativ entsteht, besteht als bloßes Quantum eines Reichtums, der nicht unmittelbar für die Menschen da ist, wiewohl darauf all ihre Bedürfnisse und ihre Arbeit bezogen sind und wonach sich schließlich ihr Lebensstandard richtet. Marx hat diese Entzweiung von Qualität und Quantität vor allem in seinen drei Bänden über das Kapital untersucht. Nach seiner Darstellung kehrt sich schon im Warentausch durch die abstrakte Allgemeinheit des Geldes als einziges gesellschaftliches Mittel des Reichtums die Beziehung der Menschen in eine Beziehung von Sachen, welche die Menschen als Wertquantum bestimmen, wiewohl sie ihren Bedürfnissen entspringen, ihnen ihr eigenes Verhältnis als Verhältnis ihrer Sachen, als Notwendigkeit einer von ihnen abgetrennten Sachform ihrer Gesellschaft erscheinen lassen (siehe Warenfetischismus).

Masse und Macht

Aber es besteht weiterhin die Frage, was eine Massenkultur eigentlich ausmacht und wodurch sie sich auch selbst erhält. Worauf begründet sich ihr Zusammenhang und wodurch funktioniert sie tatsächlich? Bisher war sie doch eher nur politisch oder psychologisch verstanden worden, etwa als Massenphänomen einer suggestiven Propaganda oder als völkische Indoktrination einer Diktatur. Als wirkliches Kulturphänomen war Massenkultur bislang weniger begriffen. Dazu ist es nötig, das Problem mal ganz von einer ganz anderen Seite her zu denken. Nicht von da her, warum sie entsteht, sondern von dort her, warum und von wem sie auch gebraucht wird. Die Antwort hierzu ist etwas beunruhigend: Wenn Massenkultur in Gang gesetzt ist, dann setzt sie eigene Kräfte frei, die ihre Entwicklung fortbestimmen. Von den Menschen, die in eine Massenkultur hineingeraten sind, geht eine ungeheuerliche Kraft aus. Weil sie sich darin nicht nur aufgehoben wissen sondern auch wirklich aufgehoben sind, heben sie alles auf, was für sie Sinn hat. Die Massenkultur ist ein Aufhebungsprozess im vielfältigsten Sinn des Wortes.

Wie schon gesagt: Menge und Masse sind zweierlei. Wenn sich z.B. viele Menschen für Fussball oder eine bestimmte Musik begeistern, dann treffen sie naturgemäß in entsprechenden Veranstaltungen zusammen. Und auch wenn sie sich hierbei in ihrer Begeisterung näher kommen und gegenseitig anstacheln, also gleichzeitig und gemeinschaftlich begeistert sind, kann von einer Massenkultur noch nicht die Rede sein. Selbst wenn sie dabei als Symbolik ihrer Parteiname Fähnchen in den Nationalfarben schwingen und heftige Sprüche skandieren, wird man nicht unbedingt von Masse, Kultur oder gar von Staatskultur oder Nationalismus reden. Man würde derlei Begriffe einfach nur verfehlen und untauglich machen bzw. entleeren, wenn man sie in dieser Oberflächlichkeit verwendet. Von Massenkultur ist erst dann die Rede, wenn eine Kultur in einer Menschenmasse durch und vermittelst dieser selbst bestimmend wird, wenn Kultur selbst die einzige Form der Anwesenheit menschlichen Lebens ist, weil und sofern es zum Erleben einer Masse, also in der Dichte von Menschen geworden ist.

Aber Masse setzt Menge voraus. Sie ist die Dopplung der Menge, wie sie zum einen wahrgenommen und wie sie zugleich wahrgehabt wird. Sie ist die Dichte von Menge, wo sich Menschen nicht mehr durch ihr wirkliches Leben aufeinander beziehen können. In der Menge erlebt sich jeder Mensch so, wie er Menge als Verdichtung von sich als ebenso Daseiender wie alle anderen, sich als Mensch erfährt, der auf sein bloß körperliches Menschsein ununterscheidbar verwiesen wird. So wie er sich also als einer in der Masse erlebt, so erfährt er dann auch von seinem Leben. Als Einer wäre er noch eine Zahl, hätte vielleicht auch noch zu erzählen, wie es ihm geht. Aber in der Masse verliert sich dies als Lebensereignis der Verdichtung der Vielen. Massenkultur macht sie zur Kulturmasse.

Elias Canetti hat in seinem Buch „Masse und Macht“ die Masse in ihrer Bewegung und Tendenz beschrieben als eine fast mystisch erscheinende Gesetzmäßigkeit ihrer Verläufe, quasi als Psychogramm des Massenerlebens, das für ihn eine besondere Form des Machterlebens darstellt. Er war so sehr da hineinvertieft, dass er sogar wesentlich psychische Phänomene damit erklären wollte, etwa die berühmte Schreber-Psychose, die im Material von Sigmund Freud zu finden war. Für ihn ließen sich aus dem Erleben von Masse die Grundängste, -befürchtungen, -erwartungen und –handlungstendenzen der Menschen ableiten. Und damit lag er nicht ganz unrichtig, auch wenn ich seinen in der Betrachtung selbst schon abgelösten Standpunkt nicht teile. Richtig ist jedenfalls, dass sich aus der Masse vor allem deshalb eigene Bestimmungen ergeben, weil sie eine körperliche Abstraktion darstellt. Und es ergeben sich diese Bestimmungen auch nur, wo vom körperlichen - und das heißt letztlich: vom sinnlichen Leben – auch wirklich abstrahiert wird.

Eine Massenkultur vollzieht und verwirklicht diese Abstraktion, weil sie eine Abstraktion von Gesellschaft ist: Sie verbindet die Menschen nicht mehr durch ihre Lebensäußerung, ihrem tätig sein, der Verwirklichung ihrer Zusammenhänge: Sie verbindet sie durch ihre Wahrnehmungen, durch ihre bloße Anwesenheit im Prozess des Erlebens. Ihnen wird damit die Wahrheit ihrer Erkenntnisse nur in der Form gewahr, wie sie sie auffassen und nehmen, nicht wie sie dies wahrhaben. In Beziehungen, worin sie lediglich ihr Wahrnehmen und Selbstwahrnehmen aufeinander beziehen, haben sie von ihren Erkenntnissen lediglich eine Vorstellung, eine formelle Gestalt des Erlebten. Jede Veranstaltung ist eine Abstraktion durch Erleben des Gelebten, und veranstaltete Kultur wird daher nur aufgehobenes Leben bewahren und bewahrheiten, ein entleibtes, entsinnlichtes Leben, das man sich einverleibt hat.

Abstrakte Sinneswelten

Massenkultur ist eine Kultur abstrakt menschlicher Sinne. Ihre Absicht zielt auf das, wovon die Sinne auch wirklich absehen. Der Reiz des Erlebens beruht in den Erlebenswelten darauf, dass das Leben darin schon in seiner vertrauten Gestalt reizvoll, als gegenständlicher Reiz erlebt wird. Er ist lebende Reflexion von dem, was man eigentlich kennt, von dem man sich aber immer wieder beeindrucken lassen will, um damit über alle Geschichte hinweg am Leben zu bleiben. Und die Absicht erfüllt sich in dem, was sie als Wahrnehmung auch darin wahrhat, dass das reizt, was bekannt ist, was also nichts wesentlich Neues oder gar Erschreckendes sein kann, sondern eher das Vertraute als ein Versprechen auf ein bestimmtes Erlebnis darstellt. Eine Gesellschaft des Erlebens dreht sich daher nurmehr im Kreis, vollzieht, was ihrer Absicht möglich ist, ohne dies wirklich erzeugen zu müssen. Sie bedient alleine die Wahrnehmung, weil sie sich selbst längst schon nicht mehr wirklich entwickelt, keine Lösungen für ihre Probleme und keinen Ausweg aus ihrer Zirkelhaftigkeit findet. Die Menschen erfahren sich darin wie eine Masse, wie eine diffuse Bewegung, die von Anwesenheit und Dichte und Anziehung und Abstoßung bestimmt wird. Sie bewegen sich nicht mehr durch Bedürfnisse, Tätigkeiten und Überzeugungen, durch die Notwendigkeiten und Freiheiten des Lebens, das sie gestalten. Sie leben selbst aus einem dumpfen Grundempfinden, das lediglich von ihren Wahrnehmungen bestimmt ist und wodurch ihnen nichts mehr wirklich nahe kommt, sondern nurmehr als zu dicht, zu lose, zu nah, zu fern, zu schwer oder zu leicht usw. vorkommt. Sie richten sich nach den Möglichkeiten, Beschränkungen und Grenzen ihrer Lebensumstände, die zu bestimmenden Größen ihres rein körperlich gewordenen Bestimmungsrahmen geworden sind. Je undurchschaubarer gesellschaftliche Verhältnisse für die Menschen werden, je massiver ihnen die gesellschaftlichen Bedingungen als ihre Lebensbestimmung erscheinen, desto dumpfer wird ihnen ihre eigen Bewegung und sie wird ihnen in Gemeinschaft mit anderen schnell zu einer bloßen Massenbewegung. Umgekehrt wird jedem Sinn aber auch sein bestimmter Inhalt ab gesprochen, er selbst gilt nur als Lebensform allgemeiner Sinneswelten, der durch Erleben bestärkt und belebt wird. Das Erleben wird zum Sinn des Lebens selbst.

Wo Menschen sich nicht äußern können, da suchen sie das Selbsterleben

Dass Leben sich nicht mehr äußert, sondern selbst als äußerlich erlebt wird, hat die Alltagserfahrung schon weitgehend so durchsetzt, dass das Erleben selbst entgegenständlicht ist, sich selbst nur auf sich bezieht, seinen Gegenstand also nur in der eigenen Lebensgestalt, vor allem dem Körper und seiner psychischen Erlebensform hat. Die Kultur der Selbstbeziehungen ist die Kultur der Selbstverwertung, die Kultur des Selbstwerts. In der Masse verdichtet sich daher nicht nur ein bloßes Menschsein, sondern vor allem eine Kultur der Körperlichkeit, welche die Selbstbezogenheiten zur verbindlichen Ästhetik treibt, zu einer Selbstveredelung, die durch die Masse gespeist wird und sich in ihr als ein ästhetischer Wille des Massengefühls gestaltet.

Darin sucht das Bedürfnis des Kulturkonsums seine Selbstverwirklichung, die Naturgestalt seines Selbsterlebens. Die Menschen erscheinen sich in der Kultur ihres ästhetischen Willens selbst als duch ihre bloße Natur bestimmt, als Natürlichkeit ihrer Art, die lediglich von Unnatur beherrscht sein kann. Die bürgerliche Persönlichkeit sieht von daher im Massenerleben einen Ausweg aus den Widersprüchen, in denen sie ihre Gesellschaft erlebt: Das Innere ihrer Bedürfniswelt erscheint dort als ihr "wahrer gesellschaftlicher Zusammenhalt", die Zwangsläufigkeiten des Kapitalismus als bloße Abartigkeiten einer Fremdherrschaft, mit der sie im Grunde auch nichts zu tun haben - wiewohl sie natürlich weiterhin für Geld arbeiten, Kapital mehren und an eine Wertwachstum glauben. Er ist schlicht unnatürlich und eine äußere Totalität, die sie durch die Totalität ihrer inneren Natur zu ersetzen gedenken, in Wirklichkeit aber lediglich für sich durch kulturelle Macht ersetzen.

Kulturmacht legitimiert sich durch die Natur des Menschseins, durch das zur Natur verallgemeinerte Selbsterleben der Individuen, durch die Art und Rasse der "wahren Menschlichkeit", die zum Teil einer naturalisierten Kulturhistorie (z.B. in Runen und Mythologiern) entnommen werden, zum anderen aber auch in den Realmythologien der Naturwissenschaft, den Körperlichkeiten der von ihrer gesellschaftlichen Existenz bereinigten Lebensfunktionen. Bildet sich dort aus einer Ursprungssehnsucht in wirren Zeiten eine Sophisterei des menschlichen Wesens zur Mythologie, zur Religion des eigentlichen Menschseins heraus, so erscheint hier die Körperlichkeit für sich bestimmt. Hierfür taugen die sogenannten Naturwissenschaften, wenn sie sich als Wissenschaft der Natur schlechthin verstehen, wenn sie die gesamten Lebensäußerungen des Menschen selbst schon in ihrer Naturgestalt determiniert sehen, Darwinismus zum Modell der gesellschaftlichen Entwicklung hergenommen wird (siehe Sozialdarwinismus). In der Naturalisation aller Beziehungselemete des Lebens begründen sich ihre Abstraktionen als selbständige Wesenheiten, Geist und Natur im Gegensatz, der im Streit mit den Geisteswissenschaften in Krisenzeit handfest wird, sich zur Naturalisierung aller sozialen Formen totalisiert. So zeigt sich z.B. auch schon wieder an den derzeitig kursierenden deterministischen Theorieansätzen der Hirnforschung, dass sogar die innersten Beweggründe der Menschen nicht mehr als ihre Lebensäußerung, sondern lediglich als Form ihrer Natur angesehen werden. Mit ihrem biologistisch begründeten Zweifel an der Willensfreiheit sind solche Forschungsansätze letztlich bloß theoretischer Ausdruck einer Massenkultur, weil sie die prinzipielle Unmöglichkeit behaupten wollen, dass Menschen sich überhaupt entscheiden können für das, was sie tun.

Wäre menschliche Tätigkeit alleine durch Natur bestimmt, so wären Menschen so etwas wie Naturroboter. Es wäre ziemlich unsinnig, wollte sich Wissenschaft dazu hergeben, alle menschliche Kultur als solches Naturprodukt anzusehen. Jenseits derselben jedoch, also in den selbständigen Erlebensformen der Kultur, erscheint ihr dies eine mögliche Erkenntnis zu sein: Menschen wollen, was sie sowieso müssen. Das Subjekt ist die natürliche Masse selbst, die in Bewegung ist. Darin wird der Moment der Entscheidung, also der Scheidung zwischen Verhaltensmöglichkeiten ausgeschlossen. Das kann nur überhaupt jemand hypostasieren, der es auch so beobachtet und dies für eine Erkenntnis hält.

Tatsächlich ergibt sich Verhalten in der Massenkultur oft durch lediglich scheinbare Unterscheidungen, welche keine wirkliche Entscheidung möglich machen oder gar nötig haben, z.B. dem Unterschied von Bedürfnis und Wille, Verlangen und Selbstbehauptung. Ohne Subjekt bleibt beides dasselbe und kennzeichnet viele Vorgänge, die im Massenerlebnis vorkommen. Im Erlebnis verschmilzt Subjekt und Objekt, und das scheinbar Subjektive ist nichts Anderes als das objektiv Notwendige, z.B. die bloße Abreaktion, die Energieabfuhr aufgestauter Aggressivität u.a.m., um zu ertragen, was nicht mehr von den Menschen beantwortet werden kann, wozu sie sich nicht mehr sinnvoll äußern können. Die Erlebniskulturn die "Eventkultur" ist damit durchaus eine notwendige Kultur für eine Gesellschaft, in der die Menschen fortwährend bedrängt, gezwungen und erniedrigt werden.

Dies hat auch schon öfter dazu geführt, dass ihnen ein Objekt ihrer Erlebensnotwendigkeiten, z.B. ihres Hasses geboten wurde, an dem dann der „Volkszorn“ zur Gesinnung fand. Nur die gewaltigen Kräfte, die so gebündelt sind, können erklären, wie es zu einem sonst unglaublichen Sadismus einer ganzen Gesellschaft z.B. im Nationalsozialismus kommen konnte. Ihm wurde ein bis dahin bedeutsamer Bevölkerungsteil, die Juden, zum Fraß vorgeworfen, zugleich zerstieb im Handumdrehen jede öffentliche Humanität, die bis dahin noch natürlich galt.

Die Gewalt des bloßen Quantums

Massenkultur kommt also nicht von ungefähr. Sie setzt voraus, dass eine Gesellschaft für die Menschen dadurch undurchsichtig und undurchdringlich geworden ist, dass ihre bestimmenden Kräfte keine erkennbaren Gestalten mehr einnehmen, sich nicht mehr eindeutig bestimmen lassen, weil sie selbst nichts mehr eindeutig bestimmen, sondern ihre vielen Bestimmungen nur auf eines deuten: auf das reine Quantum, das als reine Masse subjektiv wie objektiv bestimmend geworden ist. Kultur wird als Massenerlebnis selbst zum Medium des in der Masse gleichgeschalteten Menschen. In einem Kulturstaat lässt sich diese Kultur mit dem Kapitalismus in vollen Einklang bringen, ohne dass Kapital dann überhaupt noch als Sachzwang erkennbar ist. Der Sachzwang wird zum "Willen des Volkes".

Auch Kapital selbst ist ja in seiner höchsten Totalität nichts anderes als Masse, die alles bedrängt, sich zu vermassen. Kapital erzwingt Verwertung und drückt auf alle Preise, um in seinem unendlichen Prinzip jederzeit möglichst viel Wert für sich einzunehmen, zu verwerten und im Finanzmarkt bis zu seiner Entwertung aufzustocken. Es gewinnt nach wie vor seinen Wert nur aus unbezahlter Arbeit und drückt daher beständig auf den Preis der Arbeitskraft, soweit es kann, soweit sich also die Arbeitskraft zu einem bestimmten Wert reproduzieren lässt und dennoch mehr erzeugt, als sie verbraucht. Und von daher drückt es auch auf den Preise der Lebensmittel, damit sie in möglichst großer Masse möglichst preiswert sein können. Möglichst preisgünstige Produkte und möglichst preisgünstige Arbeitskraft kann nur durch Masse erstellt werden. In der Masse bedrängter Reproduktionspreis betreibt das Kapital eine Massenproduktion, um möglichst viel Wert aus unbezahlter Arbeit abzuschöpfen. Als alles Lebende bedrängende Substanz bestimmt es das Leben der Menschen zum Leben in der Masse, ihre Kultur als Massenkultur. Wo sich Gesellschaften bilden, die durch ihre Lage auf dem Weltmarkt sich zum großen Teil durch ihre Wirtschaftsmacht gegen die von ihnen abhängigen Länder behaupten, gründet ihr gesellschaftlicher Zusammenhang auch auf Geld, das nicht durch sie selbst entsteht. Das erst macht es möglich, dass es reine Dienstleistungsgesellschaften gibt, denn keine Gesellschaft kann darauf beruhen, dass sich ihre Mitglieder gegenseitig zu Diensten sind. Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, sich zu entwickeln, sich zu reproduzieren und Mehrprodukte zu schaffen, will sie nicht an ihrer eigenen Masse und am Inzest ihrer Produktivität zugrunde gehen.

Wo Menschen nur noch ausschließlich durch Geld miteinander gesellschaftlich verkehren, wo sie also keinen gesellschaftlichen Ort ihres Zusammenwirkens mehr haben, da erscheint die Geschichte, welche die Menschen darin machen, voller Sinnlosigkeiten, ihre Fortbestimmung willkürlich und schicksalhaft, oft bar jeder wirklichen Aufgabe und Bezogenheit, weder in der Ausbildung, Lehre oder Berufseinstellung, noch in den Chancen auf eine Änderung oder Verbesserung der eigenen Lage. Jeder menschliche Akt darin gerät von einer Falle in die nächste und gewinnt in einem Moment, was er im anderen verliert, ohne zu wissen, wie und warum ihm dies geschieht. Es ist eine Situation, worin sich Menschen wie in einem Taubenkäfig von Skinner verhalten, worin sie also je nach zufälliger Verbesserung ihrer Lage während dem einen oder anderen Flügelschlag sich ein entsprechendes Verhalten angewöhnen, eine Art Aberglaube, durch den sie sich sicher vermeinen, dass es ihnen besser gehen wird. Und dieses abergläubische Verhalten ist höchst erfahrungsresistent und beherrscht die Menschen in ihrem ganzen Erkenntnisvermögen und ist die Grundlage der Mystizismen im gewöhnlichen Lebensalltag.

Auch wenn das einzelne Leben nur noch wie in eine unendliche Falle geraten zu sein scheint, wird es abergläubisch, um sich selbst darüber hinwegzutäuschen, dass es ganz simplen Zwängen folgt. Was gesellschaftlich nicht mehr geht, weil Gesellschaft selbst zur vollständigen Abstraktion geraten ist, scheint dann in der Masse zu funktionieren, weil sie Folgsamkeit im Gefolge erheischt. Dort wird auch wirklich aufgehoben, was die einzelne Not ausmacht. Eine unerträglich verspürte Isolation in einer privatisierten Ausweglosigkeit wird in der Masse zumindest unter die Menschen gebracht. Dort allerdings versammeln sich keine bestimmten Zusammenhänge. In der Masse ist ihre Menge zu einer leeren Dichte verschmolzen, worin jede vereinzelte Problemlage zum aufgehobenen Moment der Masse und diese als Problemlöser zu einem Massenphänomen wird, zum Phänomen einer ungeheuerlichen Verdichtung und der Energie, die diese enthält. Der betroffne Mensch erfährt Masse wie ein Naturerlebnis, als ein Erleben schicksalhaft anmutender Anhäufungen von Erregtheiten, als ein Leben außer sich, als etwas anderes, etwas prinzipiell Neues, das nach einer Lösung überhaupt, nach einer Bewegung an sich verlangt, in welcher sich alle Kraft und Energie auflösen ließe, die in der Masse gebündelt ist. So wird ein leibhaftiger Mythos notwendig, ein Übermensch, der die Menschen auf irgendeine Art und Weise ihrer eigenen Energie gerecht zu führen versteht: Ein Erlöser, der der Masse einen Sinn verleiht, den sie für sich nicht haben kann.

Die allgemeine Selbstbehauptung
oder die Masse der Menge, die Kraft der Vielen im Prinzip des Einen

Massenbildung beruht auf der Sinnentleerung menschlicher Verhältnisse, auf dem Zusammenschluß von Menschen durch bloße Verdichtung ihrer Anwesenheit. Darin findet sich kein Sinn, sondern lediglich Körper. Aber darin erscheint zugleich auch eine vertrackte Begeisterung für das Sinnliche, das Körperliche und das Außergewöhnliche. So erleben sich Menschen in der Masse schnell im Gefühl einer kollektiven Macht, die alles vergessen macht, was sie für sich sind und leiden, weil ihre wirkliche Ohnmacht damit auch wirklich aufgehoben ist. Dann können sie sich darin vereinen, dass sie durch irgendwelche Ereignisse im Rausch einer Masse sich in einer ungewöhnlichen Besonderheit erleben. Sie können sich in ihren Selbstgefühlen allgemein bestätigt finden, sich eben hierdurch selbst behaupten, ohne selbst zu sein. Sie können ihre Selbstbehauptung in einem Massengefühl ihres besonderen Erlebens finden, das ihre wirkliche Einzelheit nurmehr als besonderte Masse wahrnimmt, als besondertes Machtgefühl. In der Masse kann sich jeder durch nichts behaupten, weil er selbst in der Masse nichts, selbst also nur durch Masse ist.

Masse macht mächtig, was für sich klein und schwach ist. Das macht sie nicht, weil sie die Menge eines Zusammenhangs von etwas wäre, wovon viele Menschen in gleicher Weise betroffen sind. Sie ist nicht die Macht der Vielen, der Menge. Es ist die Macht der Verschmelzung, die in der Masse wirksam wird, die Verdichtung abstrakter Stofflichkeit gegen jede Bestimmtheit, gegen die Inhaltlichkeit eines Grundes, gegen jede Qualität. Es ist die Macht der Geschichtslosigkeit, die sich wie von selbst eröffnet, wenn viele Menschen nicht mehr weiter wissen, kein Bewusstsein ihrer Lage und Geschichte mehr zustande bringen. Die Momente der Geschichte werden darin selbst zu Metaphrasen ihrer Vergeblichkeit, zu Idealisierungen, Erinnerungen, Fantasmorgien eines enttäuschten Gedächtnisses. Diese zerfließen in einer Kulturmasse, in der sich alles aufkocht, was je Sinn hatte. Kultur wird zu einem Dampfkessel der Sinnsuche und Selbstbehauptungen. Im Auflodern und Abfackeln herrschender Idealisierungen verbrauchen sich gewaltige Kräfte in einem blinden Kulturalismus, aber aus der Verschmelzung der Kultur zum Kult entsteht auch eine gewaltige Energie. Der Kampf um das rechte Idol ist ein Kampf um die Macht für alle und über alle, die Macht des Außersichseins der Kultur, ihrer vollständigen Selbstentfremdung. Das Idol wird zum Träger von dieser Macht. Da hinein mutiert das Ideal zur Heilsbotschaft und nur die macht es wirklich stark - und selbstgerecht und brutal und barbarisch. Die Botschaft ist sowohl Ersehntes als auch Notwendiges, eine Bestimmung, die es noch gar nicht gibt und die einen Erlösungsglauben erzeugt, der das Ersehnte machbar machen soll, ohne die Sehnsucht aufzugeben. Weil sie keinerlei Wirklichkeit hat, muss sie Prinzip werden, um zur Verwirklichung zu gelangen, Heilsprinzip. Es lebt von unendlicher Sehnsucht und darin gelangt das Machtgefühl dann auch zu seiner Aggressivität gegen wirkliches Leben, zu einem Hass auf alles, was sich ihm in den Weg stellt. Die Scheidung von Freund und Feind richtet sich nurmehr nach der Angepasstheit an die rechte Art. Nur im Ideal kann leben, was in Wirklichkeit tot ist, und deshalb muss das Ideal leben, damit sich hieraus Macht über das Leben ergießt. Es ist das Nichtungsprinzip der absoluten Idealisierung, der Großartigkeit, die auch jene Menschen begeistern und mitreißen kann, die nur ihre Enttäuschung nicht begriffen haben. Jeder Staat wird das zu nutzen wissen, sobald er es nötig hat, und er hat es nötig, wenn ihm seine Grundlagen entschwinden: Die Steuereinnahmen und der Wählerzuspruch.

Wie mächtig der Hass sein kann, der durch bloße Nichtung entsteht, haben die Nazis ausgiebig bewiesen. Er betrieb fast alle Absichten eines ganzen Systems, von den politischen Visionen bis in den letzten Winkel bürgerlicher Wissenschaft. Doch er hat eine sehr platte und simple Grundlage, die leider in ihrer Wirkung bislang fast unerkannt geblieben war: Die verrückt gewordene Sehnsucht nach Gesellschaft im Prozess ihrer Zerstörung, die letztlich betreibt, was sie befürchtet: Die Vernichtung ihrer eigenen Geschichte, der Konsum ihrer Gegenwärtigkeit, Kulturkonsum bis zur Selbstzerstörung. Es ist der finale Punkt, auf den eine Gesellschaft sich hinentwickelt, welche ihre menschlichen Grundlagen, ihre eigene menschliche Gesellschaftlichkeit im Wertprinzip verschlingt.

 

Wolfram Pfreundschuh

Siehe zu diesem Thema auch Emanuel Kapfiner 2006: "Masse und Machtgefühl"
und Wolfram Pfreundschuh 2010: "Gefühle der Masse als Massengefühl: Ideologie oder Kulturphänomen? (2010/07)"