Emanuel Kapfinger (20.6.2010)

 

Masse und Machtgefühl

Ein Gespräch zur Fußballweltmeisterschaft mit Wolfram Pfreundschuh

Das Hin- und Herwogen von Spielzug, Angriff und Gegenangriff, die spannungsgeladene Erwartung der Torchance, das Bejubeln des Torerfolgs oder das fassungslose Mit-ansehen-müssen eines Tors der gegnerischen Mannschaft: Die Massen in Deutschland erleben sich derzeit geeint in großen Gefühlen.

 

Emanuel Kapfinger: Die Fußball-WM erscheint als ein ungeheures Spektakel, das alle mitreißt. Gleichzeitig könnte dieses Spiel bzw. ein Sieg in ihm für die Zuschauer an sich gleichgültiger nicht sein.

Ich würde gern im Gespräch mit dir versuchen, genauer herauszufinden, was es mit diesem Spektakel auf sich hat.

Wolfram Pfreundschuh: Es ist ja vor allem das bloße Erleben, das dieses Spektakel ausmacht. Das Fußballspiel als solches ist es nicht. Da sind Artisten in der Arena und machen tolle Kunststücke oder versagen bei einem Angriff. Solange es wirklich ein Spiel bliebe, würde es in die Spiele der Kinder und Erwachsenen zurückkommen, auf ihren Spielwiesen verlängert und weiter geführt werden, ob nun bedeutsam oder nicht. Konstruiert ist nicht das Spiel, sondern seine Veranstaltung.

 

Würde das heißen, dass es nicht um das Spiel geht, sondern um seine Aufmachung, also in einer Weltmeisterschaft, in der die Nationen der ganzen Welt im Wettkampf gegeneinander antreten – und wo man vor allem mit der eigenen mitfiebern kann? Und dass das Spiel auch medial für jeden erreichbar und ganz groß – public viewing bei uns in der Mensa, auf den Plätzen der Innenstädte, in jeder Kneipe, in Stadien – aufbereitet wird?

Ich denke, dass wir erst mal über das reden müssen, was in diese Veranstaltung eingeht, bevor sie überhaupt stattfindet. Es geht da ja scheinbar um große Ereignisse, die nicht nur eine spielerische Begegnung sind, die nicht nur große Gefühle in Gang setzen, sondern auch große Geschäfte, Kulturbeziehungen, Kommunikationen usw. Man konnte schon bei den letzten Meisterschaften feststellen, dass solche Ereignisse immer wichtiger wurden für den Alltag der Menschen, weil dabei große Begegnung aufscheinen, Verbundenheit, wie sie es sonst nicht gibt. Ich meine, das läuft parallel zu einer allgemeinen Zerteilung, Trennung und Entleerung gesellschaftlicher Wirklichkeit, zu einer Stagnation der Geschichte, welche auch ganz allgemein empfunden wird.

Es gibt durchaus so etwas wie eine soziale Stimmung, die förderlich oder lähmend für eine bestimmten Kultur und Wirtschaft ist und daher auch gefördert oder gedämpft werden kann. Im Jahr 2006 zum Beispiel war kurz vor der WM die Kampagne der Medien zur sogenannten „deutschen Depression“. Damals war ihr also auch schon vorher ein seltsamer Appell vorangegangen, wie es ihn zuletzt 1933 geben hatte: „Du bist Deutschland“. Es war ein allgemeines Gefühl, das von Medien und Wirtschaftsverbänden registriert wurde, ein Gefühl, dass da etwas am zusammenbrechen war, dass niemand mehr so richtig mitwollte mit der Kapitalentwicklung der großen Exportnation Deutschland und deren Zumutungen gegen die Menschen, wie sie sich in der Agenda 2010 zeigten. Und von daher kam der mediale und politische Druck, dass da so etwas wie eine positive Einstellung und Bereitschaft vorangebracht werden müsse und dass sie die Nation bewegen und zusammenhalten müsse, die Botschaft, dass alle „in einem Boot“ säßen und daher „an einem Strang“ ziehen sollten. Dafür taugt dann eben auch der Sport. Er ist eine Einrichtung des Ansporns. Schon das Wort Sport kommt ja von Sporn.

 

Auf was beziehst du die Entleerung gesellschaftlicher Wirklichkeit, auf ökonomischen Druck auf die Einzelexistenz, auf schwindende Möglichkeiten, sein eigenes und sein gesellschaftliches Leben zu gestalten und etwas mit anderen Menschen zu organisieren? Und wie meinst du dann, dass gerade der Sport da raushilft? Vorhin hast du ja selbst gesagt, dass es gar nicht so sehr um das Spiel geht – und den meisten ist Fußball in der Regel ja wirklich egal.

Wenn eine Geschichte blockiert ist, z.B. dadurch, dass man nichts mehr bewirken kann, dass Auseinandersetzungen selbst sinnlos werden, dass Kämpfe, z.B. Arbeitskämpfe nichts mehr weiterbringen, dass nur noch ausgesessen wird, was nicht mehr aufgelöst werden kann (z.B. in der Politik), da entsteht eine Entleerung von Engagement und Aufweichung von Kräften. Das ist unerträglich. Und so entsteht auch ein allgemeiner Drang, irgendeinen Schritt weiterzukommen. Darin trifft sich das einzelne Verlangen mit einer gesellschaftlichen Situation. Und das weiß man auch. Die Zusammenhänge werden immer leerer und die Bedrohlichkeit nimmt ob der Unauflösbarkeit zu. Die Herrschenden wissen das, haben schon immer davon gesprochen, dass die Leute "Brot und Spiele" brauchen, um dabei ruhig zu bleiben, um befriedet zu sein. Heute heißt das Tittytainment: Hau dich voll mit allem, was Erlebnis beschert und leicht konsumierbar ist. Der Kulturkonsum überhaupt ist die Voraussetzung des ganzen Sportrummels. Da werden dann Sportler hochbezahlt, weil sie doch hohe und massive Bedürfnisse befrieden, auch wenn sie die natürlich niemals wirklich befriedigen können. Befriedung ist das eigentliche Interesse, worin sich Veranstalter und Kulturkonsumenten einig sind. Und deshalb wird das Ganze ja auch wirklich durch Konsum finanziert.

 

Dann darf man aber meine ich auch die kleinen Kämpfe im Alltag der Menschen nicht vergessen, die eben auch immer erfolgloser werden oder aus Resignation gar nicht mehr geführt werden. Der Kulturkonsum des Sports bietet dabei aber nicht nur passives Erleben, sondern auch ein Erlebnis einer merkwürdigen Aktivität, in der man sich selbst im Erfolg der eigenen Mannschaft engagiert sieht (obwohl sich auch die Wut gegen diese Spieler richten kann, wenn sie es vermasseln).

Ja richtig. Es entsteht dabei etwas ganz Eigenständiges, worin die verlorenen "kleinen Kämpfe" in den großen Gefühlen in den Arenen und vor den Bildschirmen aufgehen, weil sie eine Gefühlsmasse aufladen, der sie sich zugleich unterwerfen. Die Rituale auf den Tribünen und das Getümmel der Tröten und dann vor allem auch die Nationalisierung ihrer Herkunft, all das dient der Aufladung einer eigenständigen Welt, die sich aus der Masse der Gefühle zu einem Gefühl der Masse, zu einer Massenpsyche entwickelt. Und das ist das eigentlich politisch Gefährliche an der Aufputscherei des Sports. Er wird zu einem Kult, der Gewalt erzeugt, weil er das Einzelne unterwerfen muss, obsiegen muss, um die "kleinen Kämpfe" der Einzelnen auch wirklich vergessen zu machen.

 

Das klingt aber nicht so, als würden die Einzelnen sich für diese Masse begeistern, wenn sie von ihr nur Unterwerfung zu befürchten haben. Wollen die Leute selbst diese Unterwerfung? Oder wollen sie bloß Teil dieser Masse sein, die dann eine Gewalt über sie gewinnt, in der sie sich selbst nicht mehr kontrollieren können? – Und wie muss man sich diese Unterwerfung eigentlich vorstellen? Die Menschen im Stadion wissen doch auch, was sie tun.

Natürlich wissen sie es. Und sie produzieren ja auch bewusst mit an dem überlebensgroßen Wir. Für dieses begeistern sie sich im Rausch ihres Deutschland-Geschreis. Und zugleich ist ihre Unterwerfung unter dieses Wir freiwillig, weil es ihnen Größe und Macht zu verleihen scheint, die sie für ihr sonstiges Leben so bitter nötig hätten. Es ist das Geschäft mit einem allgemeinen Selbstgefühl, das dem der Rassisten und Nazis ähnelt: Um sich nicht als die Underdogs der Geschichte ansehen zu müssen, veredeln sie sich in überdimensionierten Selbstgefühlen. Und das Nationale kann dabei ganz schön kräftig werden.

 

Wie muss man denn eine Masse mit so einem Selbstgefühl einer eigenen Größe politisch einschätzen? Kann daraus nicht auch eine unglaubliche Vernichtungswut gegen das entstehen, was diese Größe in Zweifel zu ziehen scheint, oder ist es nur eine schon aufgestaute Aggression, die durch die Masse bloß gebündelt und freigelassen wird? Ich meine, du hast dich ja auch gerade auf Rassisten und Nazis bezogen.

Ja genau. Das alles steckt drin, weil sich im Kult ja nur die Kehrseite des Lebensalltags auflädt – und daher auch entsprechend abgelassen wird. Die Vernichtungswut der Nazis hatte ihren ursprünglichen Grund in den Verlust- und Niedergangserfahrungen ihrer "Vorgeschichte". Ich denke, dass dies immer auch der Nährboden des Faschismus ist. Wie sonst können sich so viele Menschen freiwillig einem Staat unterwerfen, der sie nur noch auf seine Interessen einregelt und diszipliniert und "bis zur Vergasung" beherrscht? Aber das ist jetzt ein großer Bogen, der mit der konkreten Weltmeisterschaft nicht wirklich ansteht, weil dort zwar Alltagswut abgelassen werden kann, dies aber noch nicht notwendig staatspolitisch ausgerichtet wird. Aber man kann sicher schon auch an solche Zusammenhänge denken, ohne dabei die eigene Begeisterung für die Spiele zu zerstören.

 

Für die Nazis war der Sport ja auch immens wichtig, nicht bloß in Schule und HJ als Volksertüchtigung, sondern auch als Staatsveranstaltung, z.B. die Olympia-Spiele 1936, die auch als minutiös geplante Propaganda genutzt wurden.

In dem Zusammenhang: Viele Linke kritisieren an dem WM-Hype, dass er Ausdruck eines wiedererstarkenden Nationalismus sei, der sich in der Begeisterung für das deutsche Team endlich Bahn brechen kann. Deine Ausführungen gehen ja eher in eine andere Richtung.

Ja. Ich sehe in dem WM-Kult nicht eine unmittelbare Zwangsläufigkeit zu solcher Entwicklung gegeben. Da gehört noch etwas anderes dazu: Die politische Notwendigkeit eines faschistischen Systems. Die haben wir momentan nicht, weil die politischen Spannungen sich noch innerhalb der EU bewegen. Aber richtig ist, dass Sport, Sporn und Selbstertüchtigung auch in einem staatlich inszenierten Nationalismus wichtig sind, in dem dann „Zucht und Ordnung“ herrschen soll. Faschisten sehen aber die Volksertüchtigung nicht einfach nur ideologisch, sondern vor allem sehr praktisch: Sie setzen auf einen "gesunden Volkskörper", weil der zur Ausbeutung der Menschen optimale Bedingung ist und auch den Staat weniger kostet, und weil er mit einer entsprechenden „Volksseele“ die Menschen auch in seinem Sinn gut und streng ausrichten kann. Faschismus ist der Ausweg des bürgerlichen Staates aus einer unumkehrbaren Verschuldungskrise durch einen politisch begründeten Totalitarismus gegen die eigene Bevölkerung. Wenn man da nur ideologiekritisch rangeht, übersieht man das Wesentliche.

 

Naja, die Tendenzen zu immer mehr Verschuldungskrisen mit fatalen Folgen sind jedenfalls gegenwärtig unübersehbar. Und vielleicht noch nicht in Deutschland, aber in den anderen betroffenen Ländern in Europa haben die Staaten, die in ihrer Verschuldungssituation zum Auspressen ihrer Untertanen gezwungen sind, sicherlich auch die Notwendigkeit zu ideologischen Eingliederungsoperationen.

Wie gesagt. Die Ideologie ist immer nur die Logik einer Idee, die als ein eingebildetes Entwicklungsziel, als ein Télos, über die wirklichen Verhältnisse gelegt wird. Reaktionäre entstehen nicht aus Ideologie, aus verkehrten Ideen; sie finden dort nur ihren „Kanal“, ihre Sprachform, die Formulierung eines verkehrten Lebensverhältnisses, das sich selbst auf die Spitze treibt. Um die wirkliche Entwicklung zu beurteilen, ist Ideologie auf den Kern ihres Seins zurückzuführen, um  zu einem Wissen des Seins, um Bewusstsein zu werden, so dass das gesellschaftliche Unglück auch als solches begriffen wird, unglückliches Bewusstsein zu einem Bewusstsein dieses Unglücks werden kann. Ideologische „Eingliederungsoperationen“ gelingen nur, wo Selbsttäuschung nötig ist, um die Verhältnisse zu ertragen, ohne sie zu verändern, um also Konsument der Geschichte zu bleiben.

Natürlich haben wir eine weltweite Verschuldungskrise der Staaten, aber momentan besteht nur eine geringe Möglichkeit, diese machtpolitisch umzukehren und rein faschistisch, also totalitär zu agieren. Dazu sind die Staaten noch nicht konform genug und können zudem noch ausweichen. Besatzungskriege gehen auch so, wie man sieht, wenn auch schon gegen das Grundgesetz. Man kann sie noch irgendwie „repräsentationsdemokratisch“ begründen, auch wenn hinter den Kulissen klare machtpolitische Gründe vorliegen und auch schon an ganz anderen Strategien gebastelt wird (vergleiche die Diskussion über den möglichen Nutzen diktatorischer Regierungsformen in den staatspolitischen Thinktanks).

Es entwickelt und verstärkt sich ein Gefühl der Ohnmacht, aus dem reaktionäre Kräfte ebenso entstehen können, wie progressive. Momentan steht immer noch die Selbstzerstörung im Vordergrund und es geht alles erst mal den Bach runter und macht Angst, die sich in viele Richtungen entwickeln kann. Wie das aufgelöst wird, ist eine reale Frage nicht nur der Staatsagenten, sondern aller beteiligter Menschen. Man muss drauf achten, ob und wo kulturelle Macht totalitär formuliert wird und dann zum Mittel faschistischer Politik werden kann. Aber ich halte es nicht für hilfreich, aus einer Fußballweltmeisterschaft schon die "Wir-Produktion" als faschistische Gefahr aufzubauen und mit großen Analogien rum zu wurschteln, um sich als Prophet totalitärer Macht zu bestätigen. Als reines Argumentationsmuster reicht die Vergangenheit nicht aus, um die Gegenwart zu begreifen. Und die bürgerliche Kultur hat doch auch selbst schon alle diese Momente der Selbstermächtigungskultur, die Selbstwertbildung und Selbstveredelung inne. Da ist so oder so schon anzusetzen. Und da braucht man keinen großen Projektor auf altbekannte Tatsachen, um das aufzuzeigen. Oft wird gerade im projektiven Verweis selbst totalitäres Pathos transportiert (vergleiche z.B. auch die totaliäre Argumentation der Antideutschen). An der massenhaften Selbstveredelung ist einfach zu arbeiten und zu kämpfen so wie sie besteht und wie es geht. Darüber hab ich gerade geschrieben in „Real ist nur die Utopie“.

 

Zurück zur WM: Wie wird es danach weitergehen? Hat nach der WM der Alltag die Menschen wieder mit all seiner Gleichförmigkeit und Geschichtslosigkeit? Oder bleibt darin ein Funken Masse, eine Erinnerung an die vereinte Größe im Fiebern für den deutschen Sieg? Eine Erinnerung, die ja,  als stärkeres Zusammenhalten und Einstehen für die Nation, politisch wohl nicht irrelevant sein wird.

Das haben wir doch gerade vor vier Jahren schon gesehen. Da gibt‘s ne Weile Rummel um ein deutsches Sommermärchen – oder das Gegenteil, die Schande eines großen Flops. Die Tabellenkultur der Weltmeisterschaft wird wieder in die Bundesliga und Europameisterschaft übergehen, – und was sich ändert, das liegt dann an den realen politischen Auseinandersetzungen und Kämpfen. Der Fußball wird da keine tragende Rolle spielen, ebenso wenig wie andere Kultveranstaltungen, z.B. in der Welt der Schlager und Girlanden, die ja immerhin noch nicht staatlich inszeniert werden. Nationalgefühle entstehen aus den konkreten sozialen Verlusterfahrungen und werden in Kultveranstaltungen lediglich bedient und zeitweise bestärkt. Sie werden sich durch diese nur soweit verfestigen, wie es aus den Alltagserfahrungen der Menschen sich ergibt, wenn sie passiv bleiben und sich ihren Gefühlsmassen ergeben und sich darin veredeln, wenn sie also nicht gegen die derzeitigen Entwicklungen aufstehen.

 

Wolfram Pfreundschuh hat den Zusammenhang von Fußball-Event, Massenkultur und politischer Orientierungslosigkeit für die WM 2006 sehr ausführlich dargestellt in dem Artikel "Die Massenkultur und ihre Eliten" (http://kulturkritik.net/kultur/massenkultur/index.php).