Wolfram Pfreundschuh (8.1.10)

Zum 2. Teil: Wissenschaft und Emanzipation - Begriffsbildung einer kritischen Theorie

1. Wissenschaft und Kultur –
menschliche Selbstverständigung und die Macht pluraler Beliebigkeiten

 

An vielen Universitäten in Deutschland und Österreich protestieren die Studenten gegen die sogenannte Bildungsreform, die inzwischen vom Kindergarten, den Schulen, den Ausbildungsplätzen jetzt auch bis zur Neuformation der Universitäten reicht. Ausbildung und Wissenschaft sind zu einem zentralen politischen Problem geworden, seit die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt die Nationalstaaten vor die Frage gestellt hat, wie sie dort mitkommen können. Höchstleistungen sind inzwischen überall erforderlich, um dabei zu sein, und wer sie nicht erbringt stürzt tief. (1)

Die deutsche Wirtschaftskraft stützt sich auf den Export von hoch intelligenter Technologie. Deshalb stellen die Politiker fest, dass die Ausbildung hierfür noch effizienter werden muss, um noch mehr Produktivkraft zu erzeugen, um noch mehr Geldwert zu importieren. Und sie soll zugleich billiger werden, um die nationale Verschuldungsrate und den Staatshaushalt zu schonen. Daran gemessen dauert die Ausbildung deutscher Hochschulabsolventen im europäischen Vergleich zu lange, kostet zu viel und ist zu wenig auf die spezifischen Bedürfnisse der Arbeitswelt zugeschnitten.

So wurde die gymnasiale Schulzeit inzwischen auf 8 Jahre verkürzt und das Lernpensum verdichtet. Die universitäre Bildung wurde modularisiert, die Zwischenprüfung zum eigenständigen Universitätsabschluss (Bachelor) erklärt, das weitergehende, vertiefte Studium (Master) stark beschränkt und selbst den Studenten, die am wenigsten für die Wertprbleme des Staates können, ein Beitrag zur Finanzierung ihrer Ausbildung abverlangt. Auch die Wirtschaft wird verstärkt einbezogen und darf dann natürlich auch entsprechende Bedingungen stellen. An der Uni soll daher weniger nachgedacht, sie soll hauptsächlich zum Lieferanten einer breiten Wissensaneignung werden, aus der heraus dann eine kleinere Schicht von Experten herausentwickelt werden kann, - zum Beispiel auch durch gewinnorientierte Privatuniversitäten. Akademische Bildung wird auf das eine Ziel konzentriert, eine breite Basis zur Anwendung von Resultaen der Wissenschaften zu schaffen und die Ausrichtung ihrer Forschung zu effektivieren und auf eine Forschungselite zu konzentrieren. Die Exportwirtschaft wird auf diese Weise unmittelbar oder über den Staat vermittelt zur wichtigsten Triebkraft der Forschung, weil sie zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Wertbildung, und also die Wissenschaft zur Grundlage ihres Konkurenzvermögens geworden ist. (2)

Dass Intelligenz in diesem Ausmaß in die unmittelbare Funktionalität des Kapitals geraten ist, ist relativ neu, war sie doch ursprünglich ein Moment menschlicher Bildung und von daher allgemein für die Wissenschaft tätig. Wissenschaft war Forschung als menschliche Selbstverständigung und Entwicklung der Produktivkräfte. Doch in ihrer Funktionalität für die Effektivität einer globalen Verwertung ist Intelligenz und Wissenschaft zweierlei geworden. Wissenschaft besteht aus Wissen, das durchaus auch Intelligenz bildet und vermittelt. Aber Intelligenz dient jetzt vorwiegend einer optimierten Rationalität, einer Ausbeute, die mit höchst vernünftiger Technik erzielt wird, ohne dass deren gesellschaftlichen Resultate für das menschliche Leben selbst unbedingt vernünftig sein müssen. Wissen und Vernunft werden in dieser Trennung sehr verschieden, denn Wissen bezieht sich immer auf die kulturellen Inhalte unseres Lebens. Obwohl wir angeblich eine Wissensgesellschaft sind, leben wir mit wenig Gewissheiten, - eher mit einer Überladung durch Informationen, deren Sinn und Zweck zum großen Teil nur auf Lebensbeherrschung ausgerichtet ist. Während unser wirkliches Wissen fast zum Stillstand gekommen ist, wird Intelligenz weitgehend auf die Ebene der Technologie und des Informationsmanagements verlagert. Die Beliebigkeit der informellen Beziehungen hat sich inzwischen als allgemeine Verhaltensstrategie auch im persönlichen Alltag der Menschen bis in ihre zwischenmenschlichen Beziehungen hinein durchgesetzt. So herrscht ein allgemeiner Pluralismus über alle konkreten Inhalte hinweg und befördert eine Kommunikationskultur, welche sich auf reizvolle Selbstvergegenwärtigungen beschränkt und menschliche Beziehungen durch daran orientierten visuellen und medialen Atraktionen befriedet, gleichschaltet und nivelliert. Wissenschaft und Kultur scheinen darin gleichermaßen ausgerichtet zu sein.

Um diesen Zusammenhang genauer zu beleuchten, will ich erst mal ein bisschen aus der Geschichte der Wissenschaft erzählen. Es wird sich zeigen, dass diese Geschichte zugleich eine Kulturgeschichte der menschlichen Erkenntnis ist, die heute in eine absurde Verkehrung geraten ist, dahin gekommen ist, dass Funktionalität zu einem objektiven Subjekt der Kultur geworden ist.

Wissen und Emanzipation

Wissen kann man nur das, was einem gewiss ist, was also zweifelsfrei bewusst ist. Von daher ist das Wissen des Seins, also Bewusstsein, letztendlich das, was Wissen ausmacht. Die Geschichte der Wissenschaft begründet sich aus der Überwindung von Mythologien, Willkürlichkeiten und Katastrophen, aus der Überwindung der Angst vor den Naturgewalten, die zugleich die Fähigkeit des Menschen vergesellschaftete, mit den Elementen der Natur nach seinem Maß und Ziel zu hantieren.

Wo Bewusstsein gewiss war, war Glaube nicht nötig. Es verflog die Angst der Menschen vor ihrem eigenen Ursprung und es entwickelten sich darin die Produktivkräfte der Menschheitsgeschichte in doppeltem Sinn: Einmal war es die bewusste Lebensproduktion, welche die reichhaltigen Materialien der Natur in einen Reichtum für die Menschen wandelte, zum anderen war es die gesellschaftliche Form, in welcher die Menschen sich über ihr Leben, über ihre Bedürfnisse und Arbeit, über ihre Kultur verständigten.

Kulturen, die sich noch in der Angst vor den Mächten der Natur begründeten, mussten ihre letzte Gewissheit noch in Gott vertrauen. Sie waren von religiösen Moralismen beherrscht. Aber solange Moral herrscht, kann Wissen sich nicht bilden. Und wo Wissen ist, wird Moral durch Verstand ersetzt. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Lebensproduktion und also auch die Geschichte ihres Bewusstseins und Selbstbewusstseins. Die Moral aus Gottes Gnaden entsprach dem Entwicklungsstand des unwissenden Menschen, der seine politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse nur mutmaßlich bewerkstelligen konnte.

Dennoch kamen schon unter dieser Prämisse große geistige Entwürfe zustande, welche auch heute noch Grundlagen der Wissenschaft darstellen. Die Reflexionen des Aristoteles über das, was unser Sein ausmacht, also der Beantwortung der Frage, ob wir lediglich die Schatten von Gottheiten, also Abbilder einer Götterwelt sind oder selbständige Wesen, wirkliche Subjekte, begründeten die Philosophie des erkennenden Menschen. Es war der erste Schritt zu einer Wissenschaft als menschliche Selbstverständigung. Heraklit hatte mit seiner Theorie vom „Kampf der Gegensätze“, aus dem sich der Fluß des Lebens ergebe, schon grundlegende Gedanken zu einer Dialektik des Sein und Werdens verfasst, deren Nachweis sehr viel später erst Hegel erbringen wollte.

Die Philosophen jener Zeit waren hauptsächlich Denker für vieles, was heute strikt getrennt ist: z.B. Naturwissenschaft, Medizin, Mathematik, Astronomie, Geometrie und Gesellschaftswissenschaft. Das Wissen  über das, was die Welt im innersten zusammenhält, sollte sich als Wahrheit des Lebens erweisen, als Grundlage der Selbsterkenntnis des Menschen, hohe Lebensweisheit. Aber die praktischen Anliegen der Gesellschaften, die ihre Herrschaft durch Kriege und Unterwerfungen, durch Skaverei und Militär sicherten, standen immer im Vordergrund der Geschichte. Politische Auseinandersetzungen erforderten objektive Grenzziehungen und Zeitbestimmungen. Gigantische Prunkbauten der Macht forderten die Architektur und Statik heraus. Die Astronomie fand grundsätzliche Beziehungen im Lauf der Sonne, des Monds und der Gestirne, aus welchen sich Kalender erstellen ließen, Navigation und Bodenvermessungen möglich waren.

Es ergab sich durch die Überprüfung in der Wiederholbarkeit wissenschaftlicher Aussagen und die Bewahrheitung ihrer Prognosen ein sachliches Verständnis von Wissenschaft, eine Rationalität, die zunehmend auch göttliche Autorität in Frage stellen konnte. Galileo Galilei wollte nicht eigentlich das kirchliche Gottesbild angreifen, er wollte die Wahrheit über den Lauf der Gestirne und der Erde herausfinden und beweisen, denn längst waren die Einzelwissenschaften weit genug, um die Bewegungen von Masse vorherzusagen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Ohne dies umzusetzen und einzugestehen wäre keine Wissenschaft mehr weitergekommen. Gesetze Gottes mussten daher materialisiert werden. Es war die Bedingung für den eigenen Seinsbeweis des Menschen, der im Wissen um seine Natur sich vor Gott zumindest selbstbewusst verhalten konnte. „Ich denke, also bin ich!“ war die Evidenz, die Descartes aussprach. Und dieses Selbstverständnis kann man als Voraussetzung der Aufklärung ansehen.

Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Ideale

Die sozialen Verhältnisse ließen sich nicht mehr durch ein Gottesgnadentum erklären und regeln. Sie mussten voll und ganz als menschliche Verhältnisse angesehen werden. Die Erzeugung des Lebensunterhalts und die Entwicklung neuer Produktionsmethoden und Produktionsmittel waren von der Freiheit des Wisssens abhängig. Es hatte daher immer Auswirkung auf alle Menschen, einmal durch die Erweiterung ihres Lebensstandards und auch durch Schutz vor Gefahren, Seuchen, Katastrophen und Feinden. Der Feudalismus, der praktisch aus der Ohnmacht der Menschen begründet war, aus ihrem militärischen Schutzbedürfnis und wirtschaftlichen Selbsterhalt, wurde durch die Entwicklung bewusster Produktivität unnötig. Die Vorstellungen von einer irdischen Vernunft kam auf, die keinen Gott zur Urteilsbildung nötig hatte und durch die sich auch keine Gnade erweisen ließ. Es entstand so etwas wie ein gesellschaftlicher Reichtum, der es vielen Menschen, die bis dahin Leibeigene waren, ermöglichte, sich durch ihre Arbeit frei zu kaufen. Nicht die Güter des Himmels, sondern die Sachgüter wurden für die gesellschaftlichen Beziehungen bestimmend.

Es entstanden Marktflecken, in denen ein reger Güterhandel die Vielfalt der Bedürfnisse und Arbeiten beflügelte. Geld wurde zum Tauschmittel einer Arbeitsteilung, in welcher die gehandelten Waren selbst die Macht ihrer Besitzer darstellten. Als Warenbesitzer waren die Menschen nur noch an ihren Besitzstand gebunden, persönlich also frei. Das wechselseitige Tauschverhältnis stellte sie rechtlich gleich. Und ihre Produktion schien ein gesellschaftliches Ziel zu haben: Die Bildung von Reichtum überhaupt. Darin waren sie sich einig und verbunden, wenngleich dieeser Reichtum nur den Warenbesitz betraf, nicht alle an seiner Bildung beteiligten Menschen. Die bürgerliche Gesellschaft war entstanden, die Gesellschaft, die auf Warenbesitz gründet. Und ihre Ideale waren totalisierte Vorstellungen dessen, was die Bürger durch sie erwarteten: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Es waren die Ideologien der Warenbesitzer, die sich zumindest von den religiösen, persönlichen und natürlichen Mächten emanzipiert sahen. Aber in ihrer Idealität blieben sie auch völlig abstrakt. (3)

Ideale schmeicheln den Verhältnissen, denen sie entspringen, und verdecken deren Mängel. Von daher sind sie immer affirmativ und zugleich täuschend. Die Vorstellungen, die sie vermitteln, haben selbst den wesentlichen Mangel, keine Gewissheit im wirklichen Leben der Menschen zu erzeugen, auch wenn sie wissenschaftlich formuliert werden. Die Wissenschaften der Aufklärung sind so widersprüchlich wie die bürgerliche Gesellschaft selbst. Sie gehen zwar von einer dinglichen Wirklichkeit aus, stellen ihr aber lediglich die Vernunft einer Idealität gegenüber, an der ihre Mängel und Probleme zu bemessen und aufzuheben wären. Der Glaube an diese Idealität war die neue Religion. Immanuel Kant formulierte eine idealisierte Gesetzmäßigkeit, eine Idee des ewigen Friedens und die allgemeine Möglichkeit, die Dingwelt zu beherrschen. Es war die Vorform eines Materialismus, der noch an die Macht der Ideale und der moralischen Vernunft des kultivierten Menschen glaubte. Und es war zugleich der Anspruch, die Unmündigkeit der Menschen vollständig durch Wissen und Bewustsein aufzulösen. Doch ohne die Aufhebung der materiellen Form der Besitzesmacht sollte dies noch nicht wirklich möglich sein. Die Menschen erzeugten zwar einen Reichtum an Besitztümer, aber sie waren zugleich von deren Macht abhängig, der Form des privaten Eigentums gesellschaftlich unterworfen.

Dies hatte Hegel sehr wohl erkannt und als Entfremdung des Menschen von seiner Sache thematisiert. Er wollte daher die Trennung von Ideal und Materie durch eine Idee des Weltgeistes auflösen, der die Menschheitsgeschichte im Prozess der Vereinigung von Geist und Materie antrieb. Er glaubte, dass sich die Entfremdung der Menschen von ihrer Sache im Lauf dieser Geschichte innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auflösen würde und führte in diesem Bestreben als erster Theoretiker der Neuzeit einen Wissenschaftsbegriff ein, der alles Sein erkennen und durch diese Erkenntnis dem Menschsein zu einer Emanzipation aus der Entfremdung verhelfen wollte.

Die wild gewordene Philosophie und die Entfremdungstheorien

Die wilden Jahre der Philosophie, das 19. Jahrhundert, waren auf ihrem Höhepunkt angekommen. Mit der Hegelschen Enzyklopädie der Wissenschaften sollten endlich die Wissenschaften insgesamt - Natur- wie auch Geisteswissenschaften - in einem wesentlichen Erkenntnisinteresse vereint werden: Die radikale Entfaltung einer in der Natur des Menscheseins als Idee schon angelegten Weltgeschichte des Geistes sollte dem Inhalt nach den absoluten Geist als höchste Kultur der Menschheit verwirklichen. Ihr sollten sich alle Wissenschaften verpflichtet sehen, Ökonomie, Politologie, Psychologie, Technologie, Jura und auch die Disziplinen der Naturkunde. Leib und Seele, Materie und Geist, alles war in dem dem Prinzip einbegriffen, welches von Hegel als Dialektik der Wissenschaften zusammengeführt sein sollte.

Aber es war im Grunde ein theologisches Prinzip geblieben, das sich lediglich auf der Erde zu verwirklichen hatte. Was menschlicher Geist in seiner Natur und Gesellschaft sein konnte, sollte absuluter Geist werden, Hochkultur der Ideale. Materie und Sinnlichkeit sollen ihr lediglich vorgesetzt sein, in ihr aufgehen, ihr Leib zur Seele werden. Im Streit um das darin nur spekulativ aufgelöste Leib-Seele-Problem positionierten sich die emanzipativen Materialisten, die als Sinn und Ursprung aller Entwicklung die Natur und das materielle Leben der Menschen, ihren Stoffwechsel und ihr natürliches Sein ansahen. Sie stellten sich gegen die Vorstellung einer reinen Geistesgeschichte der Natur und sahen in der Naturbeherrschung den Hebel der menschlichen Emanzipation. Zugleich entstand hieraus der Positivismus des Auguste Comte, der die naturwissenschaftliche Erkenntnis als einzig mögliche Urteilsgrundlage ansah und eine ganze Gesellschaftstheorie hieraus entwickelte. Das auf diese Weise erkannte Positive sollte das beständige Entwicklungsmoment der Gesellschaft sein, welche hierdurch "von selbst" alle Negativitäten hinter sich lassen könne.

Die Spekulation auf eine von ihren irdischen Mängeln befreite Menschheit, auf eine Menschheit, die ihrer Entfremdung sich entwinden und zu einem freien Geist sich entschließen, sich das sogenannte Göttliche praktisch aneignen könnte, war auch die Vorstellung der frühsozialistischen Theorien zu Staat, Recht, Philosophie und Ökonomie, aus denen dann auch die erste Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft aufkam. Aber sie blieben ihr gerade in der Kritik noch tief verhaftet. Karl Marx, ursprünglich ein Junghegelianer und Materialist, Schüler von Hegel und Feuerbach zugleich, nahm sich diese Einbindung von Kritik in das Kritisierte zum Gegenstand seiner Kritik an der deutschen Ideologie und verfasste philosophisch-ökonomische Manuskripte, die sich mit der Wirklichkeit und dem Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Herrschaftsform, dem Privateigentum, ganz wesentlich befassten.

Durch Marx wurden die Entgegensetzungen der Idealisten und der Materialisten als Streit von Scholastikern abgewiesen, als ein im Grunde jenseitiges Denken, das sich durch die gedanklichen Abstraktionen in seinen Interpretationen fortbestimmen will. Er verlangte eine Auflösung der geistig gefassten Abstraktionen zu einer Fragestellungen der Praxis durch eine Theorie der wirklichen Entfremdung, als eine Kritik der dem Menschen entfremdeten Wirklichkeit.

In seiner ersten These zu Feuerbach heißt es:

“Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ... ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.“ Marx-Engels Werke, Band 3, Seite 533 f

Der damit formulierte Anspruch war die Aufhebung eines bislang betriebenen Widerspruchs von Theorie und Praxis, von Objektivität und Subjektivität, war die Voraussetzung, dass die Theorie selbst zum Moment menschlicher Lebenspraxis werden sollte, theoretisch erkennen muss, was praktisch notwendig ist und praktisch die Not zu wenden ist, welche theoretisch begriffen ist. Was die Aufklärung dem Anspruch nach begann, nämlich eine Wissenschaft zu schaffen, durch welche der Mensch aus seiner „selbstverschuldeten Unmündikeit“ heraustreten kann, war nun in eine kritische Theorie zu einer Welt aufgelöst, welche ihre Entwicklung durch den Menschen ebenso nötig hat, wie der Mensch sich als Subjekt dieser Welt vestehen muss. Marx stellte die Widersprüche der bürgerlichen Lebensverhältnisse in ihrer Selbstbeschränktheit, als Klassenkampf in der Lebensproduktion selbst heraus, als Widerspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung und als Widerspruch von der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen selbst, als Widerspruch von Inhalt und Form dieser Gesellschaft. Darin ist die bürgerliche Gesellschaft bereits als Voraussetzungen einer menschlichen Gesellschaft gefasst, als Gesellschaft einer menschlichen Produktivkraft, welche ihre Besitzform, die Fesseln der geschichtlichen Selbsterzeugung des Menschen, unnötig macht. Weil der Inhalt dieser Gesellschaft bereits als organischer Inhalt einer ihm äußerlichen Form vorhanden ist, ist das gesellschaftliche Wesen des Menschen darin bereits entwickelt, wenn auch nur als ein Wesen, das in vielfachen Einzelheiten erscheint. Diese verschwinden noch in ihrem abstrakten Zusammenhang, der sich über sie erhebt und zum Subjekt einer ihm fremden Formbestimmung geworden ist. Wissenschaft muss zunächst diesen Gegensatz von Escheinung und Wesen aufklären, um den wesentlich vorhandenen Inhalt zu seiner wirklichen Form, in seine ihm adäquate Form zu bringen.

Wäre Wesen und Erscheinung nicht im Widerspruch, so bräuchte es keine Wissenschaft, schreibt Marx. Er führte den Begriff des wissenschaftlichen Sozialismus ein, der als kritische Theorie in allen wissenschaftlichen Disziplinen die Formbestimmungen des Bürgertums aufspüren und ihren Anachronismus aufzeigen sollte. Indem sich kritische Theorie mit dem praktischen Leben der Menschen befasst, werden die ideologischen Nebelschwaden aufgelöst und den Mythologien des Bürgertums, dem Wohlstand der Selbsttäuschung ein Ende bereitet, sobald das praktische Leben sich in die theoretische Entzauberung einlässt, sobald theoretisches und praktisches Bewusstsein zusammenfallen. Er sah darin die Eröffnung einer Entfaltung der Kräfte, die in der bürgerlichen Gesellschaft noch beherrscht werden und dennoch bereits Inhalt einer menschlichen Gesellschaft sind.

Wirtschaft, Technologie und Kulturtechnik

Dass das 19. Jahrhundert für die Wissenschaften so reich an Ereignissen war, lag überhaupt am Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft. Die Produktivkräfte, die Technologie und Industrialisierung der Arbeit, entfalteten Potenziale, die völlig neue Dimensionen erschlossen, vor allem die Beherrschung der Naturkräfte und ihre Anwendungen. Dampfmaschinen ersetzten Tier- und Menschenkraft und vervielfachten ihre Wirkung. Automaten, welche einen Bewegungsalgorithmus in Gang setzten, der von Menschen z.B. in Lokomotiven, Kränen und Webmaschinen nur mehr gesteuert und beaufsichtigt werden musste, setzten Arbeitskräfte frei, die nun sozial organisiert werden mussten. Elektrizität war zwar schon entdeckt, aber noch so gefürchtet, dass sie eher zur Todesstrafe in den USA angewandt wurde, als für die Produktion. Immerhin wurde zum Ende des Jahrhunderts hieraus schon Licht erzeugt und das Potenzial der elektrischen Energie bereits ausgelotet. Aber im Wechsel zum 20. Jahrhundert wurden auch die kommunikationstechnischen und navigatorischen Potenzen der Elektrizität entdeckt und eröffneten Techniken der Machtsicherung und Kriegsführung, die der rein mechanischen weit überlegen waren. Die Informationsübermittlung durch Morsen und später auch Telefonieren, die Ortung durch Radar und Telemetrie, die Systemstabilisierung durch zentralisierte Unterhaltung und Propaganda mit Radio und Fernsehen und später schließlich auch die Vollautomatisation ganzer Arbeitsbereiche durch intelligente Schaltkreise und weit verflochtene Computernetzwerke sollten zu den kulturell bestimmenden Instrumentarien werden.

Schon weit früher zu Bismarcks Zeiten war erkannt, dass die Zeit der Kleinstaaterei und der absurd gewordenen Eroberungskriege in Europa vorbei war und die Entwicklung der Wirtschaft nur behinderte. Zu ihrer Sicherung war ein wirtschaftlich effektives Sozialverhältnis nötig. Hierfür ist es besser, sich auch um den sozialen Erhalt der Arbeitskräfte zu bemühen, um sie jederzeit in den Arbeitsprozess bei Bedarf eingliedern zu können. Die Fürsorge für die Armen und Kranken wurde den Kirchen abgestritten, Sozialversicherungen geschaffen und Sozialisten verboten. Gesellschaftswissenschaften, welche sich mit dem neueren Sozialgefüge befassten, wollten für eine Ausgewogenheit von Lohnarbeit und Kapital sorgen.

Hinzu kam auch eine Politik, welche die Krisen des Kapitals zu exportieren verstand, Arbeits- und Absatzmärkte erweiterte und durch Kolonialismus beherrschte. Es gab daher sehr viel Geld, das sich auch in der Warenzirkulation wertmäßig erhalten können musste, also zu einem bestimmten Teil in Produktion und Konsumtion, in Lebensstandard umgesetzt wurde. Der Liberalismus, den Adam Smith schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Ziel der Warenwirtschaft angesehen hatte, schien sich nun auch politisch zu bewerkstelligen möglich. So kam es, dass offenes Elend von der Arbeiterschaft abgewendet werden konnte, auch wenn deren Leben weiterhin völlig abhängig von ihrer Unterwerfung unter die Bdürfnisse des Kaptals war, auf unterstem Standard verlief und ihre Lebenserwartung im Durchschnitt kaum 50 Jahre betrug, weit ab von der des besser gestellten Bürgers. Das Bürgertum genoß die Resultate der Kolonialzeit auch über die Jahrhundertwende hinaus und entwickelte durch ihren Tauschhandel im Weltmaßstab eine neue Herrschaftsform, den Imperialismus, die Unterwerfung aller Märkte durch die Macht des Geldes. Geldbesitz wurde selbstverständlich. Die Emanzipation des Bürgers zum Großbürger und Bohème war wesentlich leichter geworden als die des Arbeiters zum Handwerker oder Unternehmer. Es entstand eine selbständige bürgerliche Kultur, die sich aus einem unabhängigen Finanzmarkt und Geldbesitz ergab und sich vor allem um sich selbst kümmerte. Die bürgerliche Emanzipation verlangte nach Selbstverwirklichung, nach Originalität der Persönlichkeit, Freiheit im Selbstgenuss und das Recht auf Zynismus gegen den Rest der Welt. Kulturtheorien kamen auf, welche die Welt der Menschen auf ein bloßes Willensverhältnis reduzierten (Schobenhauer und Nietzsche) und ihr zugleich ihre Dekadenz entgegenhielten, ihre Seinsvergessenheit, wie es Heidegger dann später nannte. Es waren die Ursprünge einer Sophistik der Subjektivität, welche zur Kreation einer „Heilen Welt“ des deutschen Geistes, zu einem völkischen Narzissmus beitrugen. (4)

Wissenschaft war gegen die Realität der Arbeitswelt immunisiert. Seitdem fällt die Rückbesinnung auf einen emanzipatorischen Begriff der Wissenschaften schwer. Heidegger hatte das Ende des Humanismus erklärt und die Erkenntnis auf ein „Sein zum Tode“ eingeschworen, die Wahrheit im Begriff der Endlichkeit. Die absurde Weisheit, dass am Ende alles Tod ist, sollte erkenntnisleitend sein, weil sie die sicherste Wahrheit sei, von der ein Mensch auszugehen und seine Selbstverantwortung zu bemessen habe. Die gesellschaftliche Entwicklung sollte nicht mehr im Selbstverständnis der Wissenschaften als Verwirklichung menschlichen Fortschritts bedacht werden. Die subjektive Selbsterkenntnis des einzelnen Menschen als von allem verlassenen Wesens sollte als allgemeine Wahrheit verstanden sein. Die Einzelheit des Menschseins als solches, als radikales Individuum, das sich aus seinen Existenzialien bestimmen würde und  sich seiner Zufälligkeit in der Welt gewiss werden müsse, wurde zur Grundlage einer fundamentalen Seinsbestimmung, zur Fudamentalontologie Martin Heideggers. In die „Welt geworfen“ konnte es nur um sein Überleben und sein Glück kämpfen, sich aus seinem Dunkel befreien, indem es sich in der Erkenntnis seines Wesens lichtete, dem Verwesen entging. Gesellschaft war lediglich die Ansammlung solch einzelner Existenzen, und sollte ohne ihr gesellschaftliches Zusammenwirken, ohne ihre gesellschaftliche Wirklichkeit zu begreifen sein. Hierdurch war Gesellschaft als solche eine leere abstrakte Unbestimmbarkeit. Sie wurde mythologisiert zu einer Ansammlung finsterer Kräfte, in denen nur Lichtgestalten die Geschichte bestimmen konnten. Nötig wurden herausragende Subjekte, Persönlichkeiten des Heils, welche die Existenzialien des gesellschaftlichen Übermenschen in sich bergen konnten. Martin Buber nannte dies den Faschismus des Denkens.

Das Böse ist immer und überall

Dieses Denken kam in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg auf, durch den der deutsche Kolonialismus abgelöst werden sollte. Europa war aus dem Gleichgewicht. Es ging um die Bedingungen eines Finanzmarkts, der fremde Länder nicht nur plündern, sondern vor allem Kapital weltweit profitabel einsetzen wollte. Die europäischen Nationalstaaten hatten zunehmend wirtschaftliche Probleme mit dem Militäraufwand, den der Kolonialismus mit sich gebracht hatte, und hatten nicht mehr den Rückhalt einer koloniale Wertstabilität. Sie kämpften nun international um neue Marktanteile und Einflussbereiche ihrer Kapitalwirtschaft. Die Krisen des Kapitals waren nicht mehr zu exportieren und durch militärische Aneignunen zu kompensieren. Sie traten umso heftiger im Inland auf. Dort enstanden soziale und kulturelle Probleme in einem bisher unbekannten Ausmaß. Die bislang relativ schwache Kolonialmacht Deutschland war wirtschaftlich nicht vorbereitet und ihr Angriffskrieg gegen die reicheren Großmächte, der erste Weltkrieg, hatte daran nichts geändert. Im Gegenteil. Die sozialen Verhältnisse zerfielen in Armut und Dekadenz. Die Weltwirtschaft geriet in eine tiefe Krise, weil die Realisierung der Werte und Kredite international unmöglich geworden waren. Allgemein herrschte ein Unbehagen in der Kultur, das Sigmund Freud nun psychoanalytisch beschrieb. Er meinte darin einen Todestrieb zu entdecken. Niedergang sollte so als Prinzip eines im menschlichen Wesen verankerten Antagonisten zu den Lebenstrieben erscheinen. (5)

Wo nur Negatives zu erfahren ist, schaut man nicht mehr hin, wenn man es nicht begreifen kann. Positive Entwicklungen waren gefragt. Die Welt sollte gerettet werden durch einen Positivismus, der dem des bereits im Jahrhundert zuvor schon von Auguste Comte entwickelten recht ähnlich war. Dieser Positivismus war im 19. Jahrundert eines der großen utopistischen Projekte und sollte sich selbst zu einer wissenschaftlich fundierten Weltkultur ausbauen. Es war die Utopie einer auf Wissenschaft gegründeten Gesellschaft, durch welche der größte Nutzen für die Menschheit zu erzielen wäre. Comte vertrat ein Geschichtsmodell, wonach das Positive wissenschaftlich zu bestimmen sei und politisch durchgesetzt werden müsse. Die zentrale Wissenschaft sei daher eine politisch manifestierte Soziologie, die in der Lage sein müsse, die positiven Merkmale, die sie durch naturwissenschaftliche Methodik rational erkennen könne, durchzusetzen und hieraus jede Negativität zu beherrschen, sozusagen den Fortschritt eines wissenschaftlich bereinigten Lebens zu garantieren. In diesem bodenlosen Fortschrittsglauben konnte die von Heidegger in die Mythologie verwiesene Gesellschaft zu einem Subjekt zukünftigen Heils werden, wenn man sich für das Positive einsetzt und damit die Beherrschung des Negativen vollstreckt. Der Nazismus gründete theoretisch auf diesem Prinzip, das er als positivistischen Idealismus umsetzte. Es war von weiten Teilen der Professoren- und Studentenschaft gangbar gemacht worden. Das pervertierte Engagement, das er entwickelte, äußerte sich besonders deutlich in den Feuersprüchen, die in den Bücherverbrennungen der nationalsozialistischen Professoren- und Studentenschaft inszeniert wurden.

Aber Faschismus besteht in der Wirklichkeit nicht aus falschem Denken oder persönlichem Irrsinn, nicht durch Ideologie, verrückten Prinzipien oder heillosem Kollektivismus. Er entsteht immer vor allem aus dem Zusammenbruch eines Finanz- und Wirtschaftssystems, wodurch der Staat eine Bevölkerung nötig hat, die seine uneinlösbar gewordenen Schuldverpflichtungen durch erknechtete Mehrarbeit und Gefügigkeit, durch Disziplin und Ordnung, einlösen soll. Das Fiasko geschieht zuerst in der Wirklichkeit. Ideologien taugen zwar auch dazu, unmöglich gewordene Verhältnisse durch Einübung in absurde Denkgewohnheiten zu kaschieren und davon abzulenken. Aber wesentliches Medium solch subjektivierter Vertauschungen allgemeiner Notwendigkeiten kann nicht selbst eine Idee sein. Subjektivität besteht in Wirklichkeit nur in der Kultur allgemein, welche die Politik daher durch illustre Installationen, durch blendende Machwerke und Genüsse zu bestimmen und befrieden sucht. Die Politik als Ausübung von Willensverhältnissen verläuft daher durch dieses Medium, durch die Politisierung der Kultur zu einem ästhetischen Willen, der sich über die Grundlagen des politischen Verstandes erhebt.

Der sogenannte Neopositivismus

Nach dem zweiten Weltkrieg waren in Deutschland nicht nur die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft zerstört. Der Missbrauch von Wissenschaft und Kultur zur politischen Selbstverstümmelung eröffnete grundsätzliche Fragen, hatte sich doch der positivistische Idealismus durchaus auf empirische Fragen und Probleme bezogen, die sich einer Wissenschaft in einem abgetrennten Kulturraum wie von selbst als vernünftig ergaben. Aber so positiv konnte das Positive nun doch nicht gewesen sein: Wo das Gute siegen wollte, setzte sich das Schlechte abgrundtief durch. Faschismus wäre sonst leicht als Verrücktheit eine Fanatisierung abzutun, würde man damit nicht seine eigenen Positionen verraten. So konsequent er sich aus der repräsentativen Demokratie entwickelt hatte, so war er auch aus anerkannten Positionen der Wissenschaften nicht inkonsequent hervorgegangen. Idealistische Spekulationen und empiristischer Determinismus hatten in ihrer utopistischen Vereinigung die Grundlagen von wissenschaftlicher Erkenntnis nicht nur einfach zerstört, sondern auch die fatalen Folgen der Loslösung der Wissenschaft von den wirklichen Lebensproblemen der Menschen offen gelegt. Die Frage, was denn nun eigentlich der wahre Gegenstand der Wissenschaften sein müsse, wurde zu einem erkenntnistheoretischen Thema, in welchem die Beziehung von Wissenschaft auf Empirie neu zu beantworten war.

Die Positivisten des 19. Jahrhunderts hatten die philosophische Debatte von den Dingen und ihrer Erkenntnis auf die Interpretation der Daten beschränkt. Sie galten den Positivisten als selbstverständliche Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis. Jetzt konzentrierte sich die erneute Debatte auf die Aussagen, für welche die Interpretation von Daten stattzufinden hatte, auf die Methodik der Thesenbildung. Nicht eine selbstverständliche Empirie für die wissenschaftliche Erkenntnis, nicht eine eindeutige empirische Datenlage, konnte Hypothesen verifizieren. Schon in die Hypothese wie in die Wahrnehmung der Daten gingen Vorurteile ein, die zu hinterfragen sind. Wie also konnten richtige Aussagen entstehen, welche sich als Grundlagen positiver Entwicklung bewahrheiten sollten, welche also die Prognosen einer guten Entwicklung gewährleisten konnten, die dann auch Vernunft beweist und durch sie beweisbar ist?

Für den Kritischen Rationalismus war dies relativ einfach aufzulösen. Eine Hypothese stellt für ihn einen Zweifel dar, der zu bestätigen oder abzuweisen sei. Zweifel bleibt demnach immer offen. Als wahr gilt, was keinen Zweifel erweckt. Vernünftig sei eben alles, was nicht bezweifelt wird. Aber ein zur Verifikation erhobenes Prinzip des Zweifels befördert im Grunde gerade die Nichthinterfragung, denn alles was ist, bleibt ja zugleich auch zweifellos hinterfragbar und ist gerade hierdurch wissenschaftlich als unbezweifelt erwiesen. Das Bestehende obsiegt als wahre Objektivität, wo kein zweifelndes Subjekt es hinterfrägt. Subjektivität ist daher dieser unterworfen. Das ist eine hinterhältige Aufrüstung der Gegebenheiten zu Pallisaden der Wahrnehmung, die dort greift, wo dem Zweifel die Worte fehlen, also dort, wo keine wissenschaftliche Disziplin herrscht.

Hiergegen wurde Wissenschaft von Ludwig Wittgenstein als Diskussion einer Datenlage beschrieben. Empirismus war damit nicht mehr Maßstab des Denkens, sondern das Urteil über die Sinnhaftigkeit der Daten, das aber notwendig ein Vorurteil sein musste. Er versuchte diesen Widerspruch durch eine fundamentale Zweiteilung aufzulösen: Eine sinnvolle Aussage kann, muss aber nicht eine Tatsache bezeichnen.

Man wollte das positive Prinzip retten und das verlangte, dass nicht der Grund für ein Ereignis Erkenntnis leitend sein sollte, sondern die Methode, die Art und Weise des Erkennens. Aber die Diskussion hierüber wurde zirkulär und nur mehr von scientistischem Ineteresse. Das beförderte eine Beliebigkeit in jeder Hinterfragung, weil letztlich Urteil und Vorurteil immer wieder zusammenfielen, also gerade das geschah, was Wissenschaft nicht sein wollte. Positiv war eine Aussage, weil sie als positiv bewertet war, also vor allem wohl nützlich für dies und jenes. Es ging nurmehr um den Diskurs als solchen, um die vielseitige Beleuchtung einer Sache und die Vermehrung ihrer Verwertbarkeit. Damit war die Wissenschaft mit den kapitalistischen Lebensbedingungen in vollem Einklang, Widersprüche nicht mehr thematisierbar, Kritik de facto unmöglich geworden. Wissenschaftlich fixiert war damit einzig und allein die Möglichkeit, subjektive Interessen und Aussagen als objektive und allgemein gültige auszugeben. Wissenschaft war nur mehr das Instrumentarium der Gegebenheiten, wie man sie eben im Allgemeinen haben wollte, Herrschaftsmittel eines allgemeinen Dafürhaltens schlechthin, Durchsatzkraft einer allgemeinen Abstraktion.

Adorno hat dies in seinem Text zum Positivismusstreit auf den Punkt gebracht:

„Der Positivismus, dem Widersprüche anathema sind, hat seinen innersten und seiner selbst unbewußten Kern daran, dass er der Gesinnung nach äußerster, von allen subjektiven Projektionen gereinigter Objektivität anhängt, dabei jedoch nur desto mehr in der Partikularität bloß subjektiver instrumenteller Vernunft sich verfängt.“

Der Positivismus hat dennoch sein Ziel zumindest dort erreicht, wo naturwissenschaftliche Disziplin herrscht: Es gibt nur, was sich als Gegebenheit auch fassen lässt. In den Naturwissenschaften war es schon immer geläufig, dass darin einzelne Gesetzmäßigkeiten gesucht und ihr formaler Zusammenhang nachvollzogen wurden. Wer dagegen nach einem inneren Sinnzusammenhang der Natur suchte, galt als religiös oder esoterisch. Die Intelligenz der Natur ist weitgehend unerforscht und die Selektionstheorie von Darwin, wiewohl schon rein logisch und mathematisch absurd, gilt gemeinhin immer noch als hinreichende Erklärung für die Entwicklung der Arten in der Natur, allein, weil sie sich nachvollziehen und reproduzieren lässt Das Partikulare hat dort seinen Platz in den Ordnungen und Begriffen, welche die Naturforscher ihnen zugewiesen, worin sie diese also positioniert haben. In den  Geisteswissenschaften war das noch anders. Nun ist auch dort die Formalisierung durch Analogisierungen und phänomenalen Verallgemeinerungen durch positive Daten, also durch Datenpositionen als Wissen anerkannt. Lediglich der Konstruktivismus betonte noch die Subjektivität der Gegebenheiten, was diese aber nur wieder unbezweifelbar machte.

Die wissenschaftlichen Positionen drehen sich im Kreis. Daran hatte dann auch der Dekonstruktivismus nichts mehr geändert. Er hat es vielmehr verstärkt, indem er den Zweifel zur Widersinngkeit schlechthin verobjektivierte. Die bürgerliche Wissenschaft wurde zu eine schwebenden Sphäre abstrakter Geister, die sich nurmehr um das Instrumentarium ihrer Existenz kümmerten. Der Vorwurf Adornos an den Positivismus, dass er "in der Partikularität bloß subjektiver instrumenteller Vernunft sich verfängt" war darin überwunden, dass es nurmehr um die vernünftige Anwendung ihrer Instrumente gehen sollte, um reine Funktionslogik, welche von beliebig vielen Seiten her zu reflektieren ist. Solche Reflexion, die zur Grundlage des sogenannten postmodernen Denkens überhaupt geworden war, ist lediglich eine Bemühung, die Form des Wissenschaftlichen einem Verhalt anzuhängen, ihn als verifiziert oder falsifiziert zu bestätigen, um darin ihrem existenziellen Instrumentarium eigene Wahrheit zu verleihen, es als sinnvoll zu erweisen, so es sich in die gegebene Welt einfügen lässt. Da geht es nicht mehr um das Leben der Menschen selbst, weder um Gründe noch um Geschichte, weder um das Herkommen noch um die Folgen für das Leben auf diesem Planeten. Letztlich besteht das Interesse solcher Wissenschaft also darin, ihre Tauglichkeit zur Effektivierung der herrschenden Gegegenheiten selbst unter Beweis zu stellen. Wissenschaft war auf Inhaltslosigkeit reduziert und wurde selbst zum Teil dieser Form, beliebig in ihrer Beziehung auf die wirklichen Menschen, auf die Inhalte der menschlichen Verhältnisse.

Der Pluralismus beliebiger Positionen

Das Trauerspiel der postmodernen Wissenschaften geht an den Universitäten weiter, indem fleißig gelernt wird, was nicht mehr unbedingt substanziell begründet und eben daher für sich selbst nur positiv ist, sich also ohne Negation in der Welt wiedererkennen lässt. Das gilt heute als Wissen. Wer es hat, kann vielleicht als Wissenschaftler oder Anwender unterkommen. Logisch, dass jeder nur noch schaut, ob und wie er vom Kuchen der Eliten etwas abbekommt, - traurig, dass man es ihm so schwer macht. Man verdient sich die Anteilnahme an der Elite nicht mehr durch eigene Beiträge oder durch Reflexionen über Zusammenhänge und deren Gründe, sondern vor allem durch Nachvollzug einer schier unüberschaubaren Ansammlung von Daten, von Informationen, die heute als Wissen verkauft werden. Da stört eher, was sonst für theoretische Erkenntnis nötig war. Wahr ist, was sich in seinem Sosein durch Reproduktion in seinem Dasein bestätigen lässt. Eine andere Wahrheit als die positiv gefasste Empirie soll keinen Sinn mehr haben. Das Wissensangebot wird immer größer, das Material immer faktischer und die Hierarchien immer formeller. Wahrheit als Begriff für Unzweifelhaftigkeit, für Widerspruchsfreiheit, ist vollständig abgeschafft und ausgerottet. Was bleibt ist der Pluralismus an und für sich beliebiger Positionen. Und die haben keine Substanz mehr. Die Geisteswissenschaften müssen nicht mal mehr in der Lage sein, ihren Gegenstand eindeutig zu bestimmen. Die Soziologie versteht unter Sozialem, was ihr sozial gilt. Die Psychologie kann trotz ihrer langen Geschichte nicht mal mehr eindeutig beschreiben, was ihr Gegenstand, die Psyche, eigentlich sein soll. Vieldeutigkeit machte jede wissenschaftlichen Theorie unsinnig. Jetzt gilt sie als Glanz einer vielseitigen Informiertheit.

Franz Nahrada hat in seinem Essay über die Konstruktion der Gegenstände der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, wie sie heute betrieben wird, trefflich beschrieben, wie es an den Universitäten zugeht:

„Es gehört geradezu zum Gütesiegel der Geisteswissenschaften, dass über ein und denselben Gegenstand mehrere einander widersprechende Theorien existieren. Dies ist den Protagonisten kein zu beseitigendes Ärgernis, sondern Ansporn zur ständigen Erkundung dessen, was an Betrachtungsweisen noch möglich ist. Jeder Minimalisierungs- und Axiomatisierungsanspruch ist geschwunden. Stattdessen blüht ausgerechnet in der Wissenschaft ein Kult und Betrieb der Originalität, der Unaufhörlichkeit des gedanklichen Konstruierens und Dekonstruierens, des bemühten Vergleichens der Ergebnisse, der Neuerfindung von Aspekten und Perspektiven des Vergleichs usw. - ohne dass jemals eine kleine Erkenntnis die ständig anwachsende Bibliothek verkehrter Deutungen überflüssig machen könnte.“ (Franz Nahrada: „Dogmatischer Pluralismus - Wie die Gegenstände der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften entstehen“).

Universität wird zur höheren Oberstufe und natürlich geht es deshalb weniger darum, wissenschaftliche Selbständigkeit zu erlangen, sondern vor allem um die universitäre Verschulung, aus der sich dann die höhere Qualifikation per Durchhaltevermögen aussondert. Wer sollte da noch etwas wissen wollen über einen Widerspruch von Wesen und Erscheinung, von den unwirklichen Mächten der Realabstraktionen, von der Dialektik der Formverwandlung, von der Herkunft des Geldes und des Kapitals, von der Macht der Negation und der Entfremdung des Menschen vom Menschen? Die Wissenschaften haben sich zu einem Affentanz um ihre eigene Nichtigkeit aufgezogen, womit sie noch durch den Wust ihrer möglichen und unmöglichen Gegenstände taumeln, um doch wenigstens noch in Bewegung zu bleiben. Die wissenschaftliche Erkenntnis, die für Immanuel Kant noch das Mittel war, die Menschen aus ihrer Unmündigkeit zu befreien und nach Hegel das theoretische Potenzial einer Emanzipation aus der Entwirklichung des menschlichen Lebens bieten können solte, hat sich einem gegenteiligen Zweck überantwortet, nämlich die Menschen optimal an die Verhältnisse, durch die sie beherrscht sind, anzupassen und sie ihnen gleich zu machen.

„Die Konstruktion der Gegenstände der Geistes- und Gesellschaftwissenschaften lebt vom erfinderischen Aufweis von Gesetzmäßigkeiten, die einem Naturgesetz gleich dem Blick des berufenen Interpreten zugänglich sind und unbedingt mehr Berücksichtgung, Würdigung und Dotierung von Seiten des Staates verdienen. Da geht es beim staatlichen Durchsetzen von Prioritäten immer gleich ums Problem der Ordnung und der Regeln schlechthin: Der Psychologe entdeckt wieder den Menschen im Kampf um sein inneres Gleichgewicht, der Soziologe sorgt sich auch bei Tourismus und Fußballspiel um Balance und Orientierung der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang, der Historiker mahnt vor Nichtbeachtung der Geschichte, der Pädagoge sorgt sich um die Menschgemäßheit der Sortierung, Orchideenwissenschaften mahnen um den Wert des Nichtökonomisierten, und Philosophen schließlich weisen ständig die Untauglichkeit der Wissenschaft für die Beantwortung moralischer Fragen nach, um sich selbst, und zwar ganz gegenstandslos, in Szene zu setzen. Das alles ist ein Supermarkt, an dem sich jeder frei bedienen kann. Doch nur in den Händen der Macht, die es gibt, gewinnt solches Schein-Wissen überhaupt Wucht und Bedeutung, weil es ihren politischen Zwecken einen Schein von Notwendigkeit verleiht.“ (Franz Nahrada ebenda)

Was wirksam, aber nicht wirklich erkennbar ist, muss erschlossen, in der Vielfalt der Vereinzelung entdeckt werden. Wo Geld herrscht, wo der Finanzmarkt den Lauf der Dinge bestimmt, kann es keine unmittelbaren Gewissheiten mehr geben. Die Geisteswissenschaften sind im globalen Kapitalismus längst angekommen und ihm unterworfen, indem sie ihr Gewissen, ihre Suche nach Gewissheit aufgegeben haben. Wie das Finanzkapital die Welt in beliebige Einzelheiten zerlegt, die es dadurch beherrscht, dass es sich als ihren einzig möglichen existenziellen Zusammenhang offeriert, so betreibt auch die Geisteswissenschaft die Zergliederung des vorhandenen Wissens. Sie vollzieht die allgemeine Abstraktion der Einzelheiten, erzeugt jene abstrakte Sinnhaftigkeiten, die sie zu begreifen hätte und bläht ihre lächerliche Informiertheit auf zu einem Wert des Wissens an sich. Die Aufwertung von Beliebigkeiten ist in der Welt unendlicher Möglichkeiten, in der Welt des Geldes Kult geworden. Und dieser Kult ist es, der einen beliebigen Konsum antreibt und in Gang hält, auch wenn er für sich gar keinen Sinn mehr haben muss. Solcher Konsum ist das Herrschaftsprinzip der Vereinzelung und der Isolation eines Nutzens, der sich nicht mal mehr im Konsumenten als solcher erweisen muss, der aber immer eine Verwertung von Geld bedient. Die hiermit betriebene Gleichgültigkeit ist damit nicht nur die des Tauschhandels, sondern schon inneres Prinzip der Konsumtion selbst geworden: Abfüllung, Tittytainment.

Von daher sind auch die Geisteswissenschaften in dieses Prinzip eingetreten, weil es auch „indirekt“ bestens funktioniert: Sage mir, was du brauchst, und ich sage dir, wo und wie du es erwirbst. Sage mir, welches Problem du hast, und ich sage dir, wie du es zu lösen hast. Es ist diese Bezugnahme durch Abfütterung nun auch innerer Zweck einer Geisteswissenschaft für den Konsumenten geworden, der immer mehr Zweifel an der Sache hat, weil sie ihn nicht mehr wirklich zufrieden stellen kann. Es geht solcher Wissenschaft um einen „höheren Sinn“, der sich in der Trivialität der Welt dann erweisen soll, wenn jedem Quäntchen wirklicher Gegenständlichkeit eine besonders wertvolle Eigenheit, ein Event zugesprochen werden kann. Es ist der Pluralismus des besonderen Nutzens, der darüber hinwegtäuschen soll, dass vor allem Nutzlosigkeiten produziert werden müssen, um die verselbständigten Geldkreisläufe des Finanzkapitals, diese unendlichen Zirkel der spekulativen Finanzmasse des fiktiven Kapitals noch in Gang zu halten. Alles, was Zusammenhänge und damit auch gesellschaftlichen Sinn aufweist, muss abgesondert, in den Bereich der „Unwissenschaftlichkeit“ ghettoisiert werden, dann kann das Ganze auch weiterhin funktionieren, weil es dann durch die von ihm behauptete „Notwendigkeit“ der positiven Waltung zehrt, wodurch alles machbar sei, was darauf eingestimmt wird. Es wird ihm schließlich auch leicht gemacht, denn das ausgeschlossene Einzelne wird zwangsläufig immer verrückter. Da schließt sich dann der Kreis: Die Not wendet sich von selbst in die Not, die ihr wiederum Notwendigkeit verleiht.

Zum 2. Teil: Wissenschaft und Emanzipation - Begriffsbildung einer kritischen Theorie

Fußnoten:

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1) Die Wirtschaftskrise hat hierfür rassante Vorlagen geliefert und ihre Überwindungsversuche basieren auf einer Schuldenpolitik, die noch mehr Leistung erfordert, als es der bisherige Weltmarktführer des Exporthandels, die Bundesrepublik Deutschland erbracht hatte. Er ist von der neuen Weltmacht China abgelöst worden. Neue Konkurrenten erneuern die Angst vor den Abgründen, die dem Kapital immer wieder mal die Grundlagen seiner Existenz eröffnet. Das Wachstum der Wirtschaft, das zwar viel Geld erzeugt, bringt zugleich eben auch die Entwertung des Geldes mit sich, soweit es lediglich Wachstum das Finanzkapitals ist. Und dieses kann nicht auf die Menschen zurückgeführt werden, weil das Kapital seine Verwertungsansprüche dann nicht einlösen könnte und seine Aktionäre abspringen würden. Davon hängt eben die ganze kapitalistische Wirtschaft ab – inzwischen auch die Verschuldungswirtschaft, die jeden Bürger auferlegt ist und ihn zwangläufig mitreißt.

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2) Der Bildungswettbewerb wird längst durch Pisastudien befeuert und verteilt inzwischen die Verwertungszwänge auf Jugend und Kindheit. Schon die Kleinsten müssen sich auf große Leistungen vorbereiten, denn sie sollen schließlich auch noch einen Großteil der Staatsschulden stemmen. Die Verkürzung der Schulzeit erfordert einen verschärften Leistungsdruck vom Vorschulkindergarten an, der auf die Fähigkeit vorbereiten soll, fremden Stoff leicht aufzufassen. Frühe Einübung in die reine Lernfunktionalität wird verlangt und beworben. Auf den Erfolg ihrer Kinder bedachte Eltern diskutieren im großen Kreis über die Erfordernisse an eine Intelligenz, welche sich in dieser Welt am besten durchsetzen können sollte. Der spielerische Ort, wo sie bisher aus innerem Antrieb heraus erworben wurde, wird inzwischen weitgehend von pädagogischen Strategien bestimmt. Das freie Spiel, nach Auffassung vieler Menschen, Erzieher und Pädagogen das wichtigste Moment in der Entwicklung des Ausdrucksvermögens und selbständigen Denkens, wird mit didaktischen Zielen und Zwecken, die sich auf später nötige Funktionalitäten und Fähigkeiten konzentrieren, bereist vorbestimmt und hiernach ganze Lebenslinien vorsortiert. Die Kleinen sollen schon im Vorschulalter in der Lage sein, Aufgabenstellungen, die ihnen ohne einen ihnen ersichtlichen Grund gegeben werden, einfach und widerstandslos zu lösen. Sie sollen auch schneller groß werden und die Zeit des freien Spiels ihrer Entwicklung verkürzen um sich schon frühzeitig auf die bedingungslose Aneignung von Lerninhalten zu gewöhnen – alles natürlich nett gemacht und spielerisch inszeniert. Was sie müssen, sollen sie dürfen können, weil es dann eben auch leichter reingeht und Integration nicht als Zwang einer ihnen fremden Lebenswelt begriffen werden muss. Grundlagen an Lesen, Schreiben und Rechnen, ja auch schon die Fremdsprache Englisch, werden jetzt schon im Kindergarten vermittelt, auf dass aus dem kleinen Kraftpaket ein guter Durchstarter werde. Und ehrgeizige Eltern zahlen auch gerne schon mal ein bisschen mehr für einen zweisprachigen Privatkindergarten. Wo Spiele und Kommunikation die Grundlagen eines freien Zugangs zur Welt waren, stehen nun schon klare Ziele an. Es wird der Stoff der ersten Schulklasse somit schon schleichend eingeführt und damit auch schon die Selbstverständlichkeit einer Anpassung hieran, zwangsläufige Auslese für die Ordnungsfunktion und Struktur der Schule betrieben. Englisch ist schon sehr früh Hochsprache, so, als ob wir ein besetztes Land wären. Es ist inzwischen eben die Sprache des internationalen Kapitals. Wer nur Deutsch versteht gehört damit schon zur Unterschicht (vergl. SZ. Vom 30.12.09). 

Der Großteil der Bevölkerung ist zwar von der Staatsverschuldung mächtig betroffen, hat aber immer weniger vom Exportwachstum, weil immer mehr Arbeitsprozesse hierfür effektiviert, konzentriert, und nach Lage ihrer Wertbeständigkeit neu sortiert und ausgesondert werden. Die Selektion hochqualifizierter Arbeitkräfte, die der entsprechende Hierarchisierung der Bildung und der Rationalisierung der Arbeit nützt, hat Priorität. Automation sind zum Wachstum zwingend nötig und untergraben den Arbeitsmarkt. Arbeit wird in großem Stil erpresst, zur Billigarbeit, und damit auch die Konsumfähigkeit der Bevölkerung beschränkt, - derzeit das größte Krisenproblem. Für die Mehrheit der Bevölkerung wird das Leben immer enger. Intelligenz kann zwar Automation beflügeln, aber es braucht hierfür relativ wenig Menschen und diese nur mit hochkarätiger Wissenskonzentration. Auch deren Produkte sind leicht wiederholbar, können schier endlos kopiert und vervielfältigt werden, soweit die Lizenzen reichen. Der menschliche Arbeitsaufwand ist hiergegen verschwindend. Von daher werden die Preise der Produkte fast willkürlich bestimmt. Geld als Maß wirklicher Werte, als Zahlungsmittel für konkrete Leistung, die sich am Produkt bemisst, fällt hierbei völlig aus. Eine neue Klasse: Die Klasse einer de facto wertfreien Dienstleistung der Intelligenz, die zwar für die Verwertung hocheffizient ist, aber fast nur noch durch die Forschungseinrichtungen der Wirtschaft an das Kapital vermittelt wird. Ihr Wert entsteht nur indirekt aus ihrer Arbeit: Eben aus der Vervielfältigung ihrer Produkte, die per Lizenzrechte wertbestimmt werden, also rein politisches Kapital darstellen. Und das macht wohl auch die Triebfeder eines erneuerten Kapitalismus aus, der man inzwischen sogar zutraut, die Welt durch eigenes Recht zu beherrschen und von daher Schulden zu machen, die lediglich Zahlen sind. Wert hat, was den Preis politisch bestimmen kann und um diese Bestimmungsfähigkeit geht es der Politik. Die realen Tauschverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft sind an ihr Ende gelangt. Das Resultat ist die vollkommen verselbständigte Finanzwirtschaft, neben der die sogenannte Realwirtschaft zunehmend regrediert und vollständig dem Finanzmarkt unterworfen wird. Der Verschuldungsstaat ist das wichtigste Machtmittel eines Feudalkapitalismus.

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3) Diese Ideologien waren deshalb so widersprüchlich in sich, wie die Verhältnisse des Warenbesitzes. Sie schlossen sich gegenseitig in ihrer Totalisierung nicht nur aus, sondern hoben sich auch bis zur Unkenntlichkeit auf. In der Solidarität herrscht Bindung, welche Freiheit ausschließt, in der bloßen Freiheit kann das Gleichsein nicht versichert werden. Eine menschliche Gesellschaft kann sich hieraus nicht begründen. Aber sie war als Möglichkeit darin zu erkennen, als Vorstellung eines Vereins freier Menschen, die sich in einem vernünftigen Verhältnis ihrer Bedürfnisse und Arbeit aus freiem Entschluß einig sein können, indem sie ihren Reichtum in gleicher Weise produzieren, wie sie ihn auch erfahren, aneignen und genießen.

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4) Der kulturelle Egozentrismus brachte zwar auch neue Wissenschaften, vor allem die Psychoanalyse und Psychiatrie hervor, entzog aber zugleich den Geisteswissenschaften im Allgemeinen die letzten Reservate ihres Wirklichkeitsbezugs. Psychologie und Soziologie hatten keinen Begriff von ihrem Tun mehr nötig. Juristen, Ärzte und Politiker verteidigten ihre Kultur zunehmend mehr als ihr Klientel und erweiterten damit „wie von selbst“ auch ihren Lebensstandard. Die materiellen und kulturellen Lebenswelten wurden so entzweit, wie es die Welt der Industrie und der Kultur schon war. Die etablierten Wissenschaften waren schon immer an die Macht des Allgemeinen gebunden und verrieten im Grad der Verselbständigung der bürgerlichen Kultur immer offener ihre humanitären Ansprüche. Die Basis der bürgerlichen Welt, der arbeitende und bedürftige, aber auch leidende und widerständige Mensch, erschien ihr als Wildwuchs und sie sah ihre Funktion daher auch ausdrücklich in dessen Bändigung und Erziehung zum rechtschaffenden Untergebenen.

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5) Das Unheil der Modernen wurde als „Untergang des Abendlands“ (Spengler) verfasst, das dann auch als Untergang der westlichen Kultur überhaupt zu verstehen war. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung hierüber hatte nicht nur Heidegger eine ungeheuerliche Wirkung. Die Wissenschaften kümmerten sich überhaupt weniger um Analysen der Wirklichkeit, die verfahren war, sondern eher um eine Heilsverwirklichung, suchten nach einer finalen Möglichkeit der Ausrottung des Übels. Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen und die Definition der Rasse des deutschen Herrenmenschen war die ideologische Vorbereitung eines übermächtigen Großdeutschen Reichs, dem die Potenzen der Überwindung der Krisen und Staatsschulden und Reparationszahlungen zugesprochen waren.

Wo sich Gesellschaftswissenschaften zur Definitionsmacht der herrschenden Ideen und Ideale hergeben, müssen sie die Menschen als ihre Sache ansehen, als eine Materialität, die praktisch vor allem sich aus seiner Naturstofflichkeit begründen lässt. Die Naturwissenschaften wurden bruchlos in die Geisteswissenschaften einbezogen und als Rassenlehre umgesetzt, welche aus Naturmerkmalen menschliche Wesenheiten zusammenstellte, Art und Abart bestimmte und sich gegen alles Negative abgrenzte, es einfach nur verwarf und dem Verfall und später dann auch der Entsorgung “unwerten Lebens” überließ. Die geistigen Grundlagen des Faschismus waren nicht im Parlamnt, sondern an den Universitäten entstanden.