Mitschnitt Radio Lora "Forum aktuell" (92,4 kHz am 4. Juli 2005 19 bis 20 Uhr)

Ist der bürgerliche Staat am Ende?

Eckard Thiel (Radio Lora) im Gespräch mit Wolfram Pfreundschuh

 

Eckard Thiel Tagespolitik als Inszenierung für die Medien, daran haben wir uns schon lange gewöhnt. Auch das ist ein Grund dafür, weshalb schon fast niemand mehr an die Verlautbarungen von Parteien oder von regierungsamtlichen Charaktermasken glauben mag. Der Fisch stinkt vom Kopf her und das schon seit einigen Jahren. Kein Wunder, wenn das politische Personal die Welt nur aus der Perspektive der globalen Zusammenhänge sieht und erklärt und die irrationalen globalen Entwicklungen, welche die Anarchie des globalen Marktes erzeugen, zu einer Bedrohungskulisse aufgebaut haben, um sie gegen das eigene Volk zu verwenden. Stichwort Sozialabbau, Leistungskürzungen. Auch die derzeitige Regierungsfarce von Rot-Grün zeigt es klarer denn je. Die Krise des bürgerlichen Staates soll wieder einmal überdeckt werden durch eine neue Krise, durch die angebliche Krise der Regierungsunfähigkeit. In Wahrheit wollen sich die Parteienvertreter durch die Neuwahl lediglich einen neuen Persilschein abholen für eine weitere Demontage des Sozialnetzes. Die Frage, die uns heute umtreibt ist die: Ist der bürgerliche Staat am Ende?

Einer Antwort näher kommen wollen Wolfram Pfreundschuh von der "Kulturkritik München" und Eckard Thiel.

E.Th. Was waren die Gründe, die zu bürgerlichen Staaten in Europa führten? Der Nationalstaat, wie wir ihn heute haben, ist eine europäische Erfindung, die mit sehr viel Gewalt durchgesetzt wurde. Und dann war der Nationalstaat ja auch der Konkursverwalter des Feudalismus.

Wolfram Pfreundschuh Der Staat ist zweifellos mit Gewalt entstanden, zugleich auch aus einem Befestigungsinteresse. Während der Feudalismus noch als eine Staatsgewalt durch Gottes Gnaden, also unmittelbar metaphysisch begründet war, wurde der bürgerliche Staat als Befestigung von Marktflecken nötig, wodurch Strukturen entstanden sind, die für den Markt und die Entwicklung des Warenverkehrs immer tragender wurden. Bürgerlich ist ja eigentlich nichts anderes, als in einem befestigten Marktflecken wie in einer Burg zu leben und sich geschützt zu fühlen durch einen Staat, der zugleich so etwas wie eine Fürsorgepflicht übernimmt und eine Gewalt inne hat, die sich nach außen gegen die Feinde der Befestigung richtet und nach innen gegen Störungen der Tausch- und Besitzverhältnisse. Er ist zweifellos ein Produkt der Gewalt, weil aus dem Feudalismus heraus das Bürgertum diese Gewaltentwicklung provoziert hat und dessen Ablösung nur dadurch möglich war, dass die Ausdehnung der Märkte befestigt wurde. Und er hat auch heute noch diese Gewalt als Staatsgewalt, um die politischen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft abzusichern.

E.Th. Nochmal zurück zum Feudalismus. Der war ja dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen den Lehnsherren teilweise ausgeliefert waren, d.h. eine Freiheit wie in der bürgerlichen Gesellschaft gab es nicht. Welche Art der Freiheit war denn jetzt die bürgerliche Freiheit auch für die kleinen Leute?

W.Pf. Es war zunächst mal die Auflösung von persönlicher Abhängigkeit. Leibeigen heißt ja, dass der Leib als Eigenschaft eines fremden Besitzers ist. Das war aufgehoben. Bürger und Arbeiter waren in der Lage, sich frei von dem zu fühlen und sich bestimmen zu können durch das, was sie besaßen. Beim einen war es Geld und Gut, beim anderen meist nur die Arbeitskraft. Die Abhängigkeit im Leben blieb dadurch nach wie vor, aber eben in persönlicher Freiheit, also in freier Verfügung über das, was man besitzt - je nach dem, was dem Einzelnen herbei zum Leben nötig schien.

Das Besitzverhältnis ist eigentlich das ursprünglichste Resultat aus der Ablösung vom Feudalismus. Besitz heißt ja nicht Eigentum, sondern kommt vom Militärischen, meint eigentlich besetzen - und darin drückt sich die Gewalt des Besitzverhältnisses aus. Besitz ist das Recht auf Okkupation, ist die Folge einer Macht, die durch staatliche Gewähr über etwas, das man besitzt, gegeben ist. Wie man in dessen Besitz gekommen ist, ist hierbei gleichgültig. Ich muss das nicht erzeugt haben, was ich besitzen kann. Es muss einfach nur "ehrlich erworben", also eingetauscht worden sein. Es ist lediglich ein Rechtstitel, durch den ein Mensch über diese Macht verfüge, so dass er zur Sache selbst überhaupt kein konkretes Verhältnis haben muss. Und diese Besitzform ist letztlich das, was das Warenverhältnis sichert und antreibt, ihr politischer Ausdruck. Alle Menschen sind in der bürgerlichen Gesellschaft nur nach ihrem Besitz bemessen und müssen ihn erwerben, um leben zu können, ob sie das so wollen oder nicht. Wer nichts besitzt als seine Arbeitskraft, der muss dann eben die verkaufen, um seinen Lebensunterhalt damit einzutauschen. Wer was anderes besitzt, kann damit machen was er will.

E.Th. Damit war quasi auch der kleine Mann, der Nichtbesitzende, auf Tod und Teufel darauf zurückgeworfen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um seine Existenz zu sichern.

W.Pf. Ja. das ist die Basis. Der Besitz ist absolute Bedingung für die Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft und der Staat kümmert sich darum, dass jeder mit seinem Besitz das treibt, was er treiben kann oder machen muss. Und er wird von daher auch als Besitzender geschützt, weil das die Allgemeinheit der Verhältnisse ausmacht. Ihm werden aber auch seine Lebensgrundlagen darin dadurch gesichert, dass es das bürgerliche Recht gibt, das den Warenbesitz ermöglicht und dessen Gerichtsform durchsetzt, dass es die Verkehrswege gibt, das Gesundheitswesen, die Ausbildung usw. Der bürgerliche Staat macht sich einerseits nützlich für Besitzverhältnisse und fordert für deren Erhaltung alle Macht und Gewalt. Er macht letztlich einen Handel mit den Schutzfunktionen, die er gewährt und zugleich damit auch seinen Gewaltstatus bestärkt wie ein sorgendes Familienoberhaupt, eben als "Vater Staat".

E.Th. Jetzt stellt sich die Frage, warum der kleine Mann, der Bauer und der Arbeiter, die Bürgerliche Revolution als Befreiung empfunden hatte. Er war doch nicht der Sieger dieser Geschichte. Das waren doch andere.

W.Pf. Ja schon. Aber von dem her, dass es zuvor noch den Unterschied vom dritten und vierten Stand als Unterschied von Leibeigenschaft und Soldarbeit gab, kann man die Aufhebung dieses Unterschieds in der Vereinigung dieser Stände als Fortschritt ansehen. Damit war ja immerhin ein gänzlich neues System eingeführt, das sich von mythologisch begründeter Macht lossagte und die Epoche der Aufklärung auslöste.

E.Th. Gehen wir noch mal auf den Staat als solchen zurück. Was sind so die Bestandteile eines Staates: Also Staatsvolk, Grenzen, Staatsmacht, woraus resultiert das? Von daher gibt’s ja Ähnlichkeiten zum Feudalsystem, was ähnlich organisiert war.

W.Pf. Die Staatsmacht als solche hat viel mit dem Feudalsystem gemein, wenn man mal von ihrem konkreten Zweck absieht. Sie ist die Gewaltform einer Politik, die einer ganz bestimmten Ökonomie und Kultur nötig ist, in der Menschen sich nicht in ihrer Gesellschaft durch ihr Leben und Tun verwirklichen können. Sie ist das Herausgesetzte einer Macht, die eine Übermacht ist, die Formation einer gesellschaftlichen Gewalt, die allem gesellschaftlichen Leben vorausgesetzt ist und an die man sich meist einfach gewöhnt hat. Auch wenn behauptet wird, dass alle Gewalt vom Volk ausgeht, so ist doch die Form, worin diese wirksam ist, eine Institutionalisierung von Macht, die lediglich zur Sicherung der Besitzverhältnisse nötig ist, nicht zur Entfaltung und Bereicherung des menschlichen Lebens. Hierzu haben wir eine parlamentarische Demokratie, die darauf gründet, dass die Meinungen der Bevölkerung zur Art und Weise dieser Sicherung darin repräsentiert werden, dass also über eine Stimmabgabe eine Meinung als Machtanteil hierzu an die politischen Repräsentanten im Parlament abgegeben wird, an eine Institution des Staats, worin sie im Palaver der politischen Vertreter, die vor allem nur sich als ihr "Gewissen" vertreten, ausgehandelt werden. Von dieser Ecke her ist der Staat zwar eine Art von Volksvertretung - also nicht mehr von Gottes Gnaden oder von irgendwelchen religiösen Bestimmungen getragen, sondern von einer Meinung, die ihm zuteil wird, die aber im Wesentlichen nur die besonderen Regelungen der Probleme innerhalb der Besitzformen der bürgerlichen Gesellschaft betrifft. Es geht nur um das, was die Menschen hierzu jetzt gerade als das Vorteilhafte von ihrer Situation her in der und jener Partei sehen und sie deshalb wählen. Also letztlich können sie ihre Meinung nicht als solche zu einer Entscheidung bringen, wie das meist verstanden wird, sondern nur diese in einer bestimmten politischen Haltung mehr oder weniger wiedererkennen und die entsprechende Partei wählen, um in einer bestimmten Existenz Verbesserungen durch die vermehrte Macht dieser Haltung zu erhoffen. Ob die Hoffnung sich auch realisiert und was ihre Existenz dann wirklich ausmacht ist etwas anderes. Die Wählermeinung ist lediglich die Befürwortung einer repräsentativen politischen Haltung, die von den Parteien jeweils vorgestellt wird und sich auch an dieser reflektiert.

E.Th. Ich sehe darin eine gewisse Parallelität in Europa zur EU. Die zum Beispiel wurde ja eigentlich auch gegründet als eine Art Superstaat, kann man sagen – oder wie auch immer. Aber ein Motiv war ja wohl die Wirtschaft – es hieß ja früher nicht umsonst Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Da ging es um den Abbau von Zöllen, um die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes, um Wirtschaft europaweit. Das waren ja die gleichen Gründe, die in der Geschichte auch zum bürgerlichen Staat geführt hatten. Es fing bei uns in Deutschland ja auch an mit der Post- und Zollunion von Kleinstaaten. Das waren die Vorläufer des Deutschen Reiches. Das waren doch rein wirtschaftliche Erwägungen, die zu deren Gründung führte - so wie auch bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

W.Pf. Ja. der Staat ist ja keine kulturelle Veranstaltung. Er ist eine politische Einheit eines bestimmten Wirtschaftsinteresses. Danach haben sich die politischen Grenzen ergeben und Staaten gebildet und auch Unterschiede; z.B. auch wenn ein Land von einem Staat in einen anderen gewechselt hat, z.B. das Saarland, oder das Elsaß. Das hatte wirtschaftliche Gründe und danach gab es die entsprechende Geschichte in der politischen und auch kriegerischen Auseinandersetzung.

Bei der EU ist es allerdings für mich schon etwas komplizierter, weil die EU ein Wirtschaftsinteresse verfolgt, das insgesamt nicht mehr aus den lokalen Märkten resultiert, sondern aus reinen Kapital- und Devisenmärkten. Da geht es schon mehr um bloße Wertverhältnisse. Die Entwicklung, die zur EU geführt hatte, das war ja hauptsächlich der Niedergang des Devisenmarktes, also dass die Wechselkurse nicht mehr zu handhaben waren, dass man Wechselkurs-Stabilitäten brauchte. Das war ja seinerzeit auf der ganzen Welt ein Problem, auch in Amerika, was z.B. auch zur Auflösung der Verträge von Bretton Woods geführt hatte. Da wurden überall neue Sicherheiten gesucht, um Wechselstabilität zu erreichen, und das war z.B. auch eine solche Wirtschaftsunion mit stabilen Wechselkursen, also mit einer verminderten Abschottung der Nationalwirtschaft und ausgeweiterter Kapitalkonzentration. Dazu gehört der Gedanke für die EU und der ist insofern nicht mehr so ganz in diese Staatstheorie reinzubringen. Das zeigt sich ja auch daran, dass sie sehr losgelöst ist von unserem Staatsverständnis, also dass es kaum zu vermitteln ist, was die EU macht, weil sie auf einer so hohen Etage Entscheidungen trifft, dass die sich nicht mehr so ohne weiteres der Bevölkerung vermitteln lassen.

E.Th. Die EU findet für sich auch Antworten für den Weltmarkt. Das ist eine Institution, die sich als Partner im Weltmarkt sieht und versucht, auch die einzelnen Wirtschaftsgebiete oder Länder fit zu machen für den Weltmarkt und konkurrenzfähig zu sein. Was die Parallele zu den Kleinstaaten oder zu den Nationalstaaten ist, das ist doch die: Nationalstaaten hatten ja früher auch Grenzen und die Grenzen waren in erster Linie Zollgrenzen. Und Zollgrenzen hatten und haben heute teilweise noch den Effekt, dass man eigene Industrien aufbauen kann, unabhängig von der Konkurrenz, die draußen herrscht. Das war zwischen Deutschland und England seinerzeit ein Problem.

W.Pf. Das ist richtig. Der Zoll ist einer der wesentlichen Grenzmechanismen der Nationalstaaten. Aber es ist ja so, dass die Nationalstaaten in dem Sinn keine Zukunft mehr haben, aber auch schon keine Gegenwart mehr, weil die Entwicklung über den Weltmarkt dahin geführt hat, dass die Nationalstaaten selber anachronistisch geworden sind. Sie bestanden ja daraus, dass sie einen geschlossenen Lebensraum darstellten, in dem eine Kultur und eine bestimmte Wirtschaftsweise und Kapitalakkumulation zu einem Nationalstaat vereint war. Heute ist das nicht mehr möglich, da das Kapital in seiner Entwicklung dermaßen weit darüber hinausgegangen ist, dass es in den Nationalstaaten nicht mehr abzugleichen war. Es entstanden überall die Probleme mit den Wechselkursen, das ich gerade angeschnitten hatte: Die unterschiedlichen Wertlagen der Devisen blockierte die Entwicklung der großen Kapitalbewegungen, machten Verwertungsschwierigkeiten - vor allem in der Wertrealisation. Das Kapital musste sich von den lokalen Beschränkungen von Produktion und Konsumtion freimachen, um sein Wertwachstum zu sichern. Und das hatte dann sozusagen die Auflösung der Nationalstaaten in die Gänge gebracht, so in den Siebzigerjahren, als die Verträge von Bretton Wood aufgelöst wurden und damit die Deckung des Geldes durch Gold aufhob. Man wollte auf diese verzichten, um die Konzentration von fiktivem Kapital marktführend zu machen. So ersetzte man die Wertstabilität durch die Versicherung einer angeblich für alle besseren Wirtschaftsentwicklung durch konkurrierende Kapitalmärkte. Das macht die neoliberale Theorie aus. Und das ist identisch mit der Auflösung der Nationalstaaten. Die können eigentlich gar nicht mehr in dem Sinn wie bisher wirtschaften, weil die Währungen nicht mehr funktionieren können, weil fiktives Kapital eben nicht zu decken ist. Natürlich ist das ein Schlag gegen alle, die noch an einen "gerechten Warentausch" glauben oder damit leben müssen. Das sind vor allem die Armen, die damit noch weiter nach unten gerutscht sind zur Anwendungsmasse von Kapitalfiktionen und nehmen müssen, was sie abbekommen, sobald sie da mal vorübergehend reinpassen.

E.Th. Ein Staat braucht eine Legitimation gegenüber dem Volk. Weshalb soll es einen Staat geben? Auf der einen Seite, also im 19. bis zum 20. Jhrdt. war es ja so, dass der Staat bestimmte Infrastruktureinrichtungen, die ihm wichtig erschienen, bereitstellte. Das waren relativ viele, z.B. Fernmeldewesen, Verkehr, Elektrizität usw. Und das geht ja heute noch bis zur Kultur und ihren Einrichtungen. Das alles war staatlich verwaltet und Staatsbesitz. Und das wurde jetzt privatisiert. Es heißt hierzu, der Staat könne das nicht zu gut verwalten, es sei alles obsolet und die private Wirtschaft könne es besser. Was hat sich da denn verändert?

W.Pf. Der so genannte "Vater Staat" hat sich verändert. Die Legitimation des Staates war ja so was wie das Schutzgehabe, das der Staat mit einigem Recht haben konnte. Er besorgt schließlich die Bedingungen eines Gemeinwesens: den Straßenverkehr, den Deichbau, das Gesundheitswesen, Fürsorge usw. Und das war eigentlich seine "Legitimation vor dem Volk", dass er sagt, er kann das gut verteilen, er kann damit die Bevölkerung weiterbringen.

Das hat sich geändert. Das ist der Punkt, der durch die Globalisierung läuft, dass der Staat selber zu einem Unternehmer geworden ist, also dass er sich inzwischen verhält wie ein Kapitalanwender, der genauso gut wie er die Produktionsmittel vorstrecken musste, auch in Leasingverträge gehen kann. Und zugleich verhält er sich zu seiner Bevölkerung wie ein Geschäftsführer zu seinen Angestellten. Er signalisiert, dass seine Marktlage schlecht ist, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland in Gefahr ist, dass man nicht mehr genügend Profite erzielen kann und dass deshalb jetzt rationalisiert und abgespeckt werden müsse. Das alles betrifft zwar fast nur den Weltmarkt und nicht mehr den Binnenmarkt, aber dort sollen die Abstriche gemacht werden. Neu ist, dass der Staat selber in einer Logik des Kapitals argumentiert und die Scheu verloren hat, sich nicht als fürsorglicher ‚Papi’ verhalten zu müssen. Das Familiäre des Staates, die gediegene Infrastruktur, die der Nationalstaat anbietet, ist vorbei. Es ist ja auch nicht nötig, dass man auf Familie und Nation besteht. Aber der Staat muss dahin gebracht werden, dass er sich darüber klar wird, dass er die eigene Bevölkerung als Faustpfand des Kapitals verwendet und dass das Folgen haben wird.

E.Th. Das war ja auch schon immer die Funktion des so genannten Nachtwächterstaates. Der Staat selbst darf wirtschaftlich nicht aktiv werden, sondern er darf sich maximal um die Rahmenbedingungen kümmern, tut er ja heute irgendwo auch, aber das ganze Geflecht hat sich verschoben. Was damals als wichtig erachtet wurde, ist heute unwichtig. Warum das? Warum muss das Kapital z.B. jetzt in jedes Krankenhaus eindringen, die Wäscherei dort privatisieren, die Krankenversorgung ... Was steckt denn dahinter. Was ist der Zwang oder der Druck oder die Feder die das antreibt.

W.Pf. Die Grundlage von jeder Produktion ist ja nach wie vor die Arbeit. Und die Produktion, die in einem Land und in allen Ländern zusammen gemacht wird und deren Produkte dann gehandelt werden als Waren, die macht so was wie den Lebensstandard der Menschen aus. In dem Augenblick, wo die Produktion einen technischen Fortschritt erreicht hat, der praktisch immer weniger Arbeit verlangt, werden die Entwicklungsmöglichkeiten immer weiter und das Verwertungsproblem immer enger. Die Frage die beständig neu beantwortet werden muss, heißt: Wo kann man bei allem Fortschritt und bei aller Verwertungskrise doch noch was an Wert rausholen, wo muss man weiter rationalisieren, wo kann man Kosten sparen, um mehr Ertrag zu haben?

Es gibt ja das ganze Geschäft, das im kleinen läuft, auch im großen: Wir versuchen, mit Maschinenexporten oder mit einem Transrapid, den wir nach China verkaufen, oder mit Autos nach Amerika, uns über Wasser zu halten in dem ganz einfachen Warengeschäft mit unseren Produkten. Aber wir sind nicht in der Lage, den Wert zu halten, solange wir nur auf der Ebene des Handels bleiben. Letztlich entscheidend ist, worein das alles verschwindet, welche Geschichte es anstrebt, wo und wie es konsumiert wird, was die Menschen davon haben, die in den Ländern leben und was davon und wie es zurückkommt. Die Verwertungsmöglichkeiten dieses ganzen Verhältnisses werden immer geringer dadurch, dass die Arbeit, die dazu nötig ist, immer weniger menschliche Arbeit und immer mehr Maschinenarbeit ist. Und Maschinenarbeit bildet keine Werte, die bildet lediglich Produkte und verschleißt den Produktionswert der Maschinen, das ist der Unterschied. Das ist auch das Dilemma des Staates. Der Staat hat mit etwas zu handeln, was die ganze Spirale nach unten treibt, was die Wertmasse erhöht und immer weniger Lebensstandard an die Bevölkerung zurückgibt - vor allem der eigenen.

E.Th. Ist das Gerede vom Trend zur Dienstleistung hin das letzte Aufgebot des Kapitalismus oder der Kapitalisten, die sehen, dass die Produktion unter den Konkurrenzbedingungen unter so einem Druck ist, das nichts mehr zu machen ist? Das vagabundierende Kapital bräuchte jetzt Anlageformen, sagt man, um noch die letzte Lebensäußerung als Ware herzunehmen, Diestleistungen, dass wir uns gegenseitig beraten, gegen Geld – jeder als des anderen Unternehmer.

W.Pf. Letztlich bildet Dienstleistung nur ganz partiell Kapital, nämlich dann, wenn sie in einem Produktionsbereich behilflich ist für eine Mehrwert schaffende Produktion. Vielleicht gibt es das öfter mal im Transportwesen. Normalerweise ist eine Dienstleistung ein Produkt, das an Ort und Stelle verzehrt wird. Wenn ich z.B. Taxi fahre, oder mir die Haare schneiden lasse, oder das was ich halt sonst noch als Dienstleistung bezeichnen kann, dann kann sich kein Kapital in diesem Augenblick bilden, weil kein Produkt zirkuliert und kein Wert realisiert werden kann. Das heißt: Eine Gesellschaft, die auf Dienstleistung beruht, kann letztlich nicht wirtschaftlich wachsen und Mehrwert realisieren. Das ist eine Ausrede. Dahinter steckt ein Verhältnis, das sehr stark und mächtig ist, das überhaupt Dienstleistungsgesellschaften möglich macht. Und das ist eben das Verhältnis zu anderen Ländern, wo viel Arbeit importiert wird. Die meisten Dinge, die wir in Gebrauch haben sind zu irgendeinem Teil ganz woanders gemacht worden, was die menschliche Arbeit darin betrifft.

Das hat Marx schon untersucht, das Verhältnis zwischen Dienstleistung und Produktion, und festgestellt, dass Dienstleistung eigentlich nur auf der Ebene der Reproduktion der Reicheren stattfindet, wo man sagen kann: Ich hab keine Zeit, mein Mann machts nicht, meine Kinder machens nicht, also gehe ich zum Frisör. Das Geld dafür habe ich ja schon längst verdient, und schließlich ist das so billiger, weil meine Zeit für meine Geschäfte eben viel zu kostbar ist. Das setzt also schon eine bestimmte Form von Reichtum voraus, die mit Produktion in diesem Sinn nichts mehr unmittelbar zu tun hat, nämlich Finanzkapital.

E.Th. Zur Frage: Bürgerliche Gesellschaft am Ende? Wo zeichnet sich das Ende ab in den einzelnen Sektoren?

W.Pf. Die bürgerliche Gesellschaft war ja ursprünglich eine Gesellschaft, die einen eigenen Wirtschaftskreislauf hatte, wo man sich das so vorstellen konnte, dass eine bestimmte Kultur in einem bestimmten Land mit einer bestimmten Produktion Waren erzeugt und diese Waren darin auch ausgetauscht werden. Das war die einfachste Form der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie in der Ablösungphase vom Feudalismus da war. Da konnte man auch sagen, der Kreislauf und das Wachstum war als wirtschaftlichen Fortschritt zumindest als wirklich wachsender Lebensstandard irgendwie für alle da. Der wirtschaftliche Fortschritt hat zugleich natürlich darauf gegründet, dass die arbeitende Bevölkerung, die Besitzlosen, davon ausgeschlossen waren. Aber die Arbeit wurde dennoch für sie leichter, das Leben länger usw. Alle diese drei Momente, dass der Staat als bürgerlicher Staat eine bestimmte Kultur, die bürgerliche Kultur, und eine bestimmte Produktionsweise, also eine Industrie, sich so ins Verhältnis setzen, dass alles sich gleichermaßen entwickeln kann, dass sich die Technologie amortisiert und akkumuliert, dass die Kultur den Bürgern genehm ist und der Staat sich um die Verbesserung der allgemeinen Produktions- und Lebensbedingungen bemühen kann und sich alles in einem Kreislauf bewegen lässt, das ist längst nicht mehr der Fall und war es auch nur relativ kurz in der Blütezeit der Aufklärung.

Das Kapital hat sich demgegenüber vollkommen verselbständigt. Die wirklich akkumulierte Kapitalmasse, d.h. die Wertmasse, die wirklich in Maschinerie, Gebäude, Inventar usw. steckt und darin sich verausgabt, ist nur noch 2 % der gesamten Kapitalmasse. Alles andere ist Finanzkapital, teils fiktiv als Aktienkapital, teils aus Zinsen, teils aus Grundrente. Das muss man sich heute so vorstellen, dass in der Globalisierung das wirklich Herrschende, das Kapital, eine wahnsinnige Wertmasse ist, die keine konkrete Erdung mehr hat und um den Erdball schwebt und irgendwo auf der Welt hier und da tausendfach angewandt wird und ebenso tausendfach irgend jemandem in irgendeiner Aktie oder sonst wo ein bisschen was bringt. Nur die Masse machts und die Masse bringt’s. Und die ist das Herausgesetzte aus jeglichem Stoffwechsel, das "Zugriffspotenzial" des Geldes, das Anwendung sucht. Das ist zwar schon in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt, aber nun vollkommen selbstständig geworden.

Wertbildung setzt zwar nach wie vor irgendwo auf der Welt sehr viel menschliche Arbeit voraus, realisiert sich hierzulande aber vor allem in Grundrenten (Immobilien, Miete usw.) und Verkehrswerten (Lizenzen und Technik der Kommunikation). Von daher gibt es eigentlich für uns nur noch Kapital als eine völlig unwirkliche Lebensgrundlage, d.h. es gibt keinen Nationalstaat in dem Sinn, dass er Wirtschaftskreisläufe überhaupt noch handhaben kann, wie es bis in die Siebzigerjahre je noch versucht worden ist. Und es gibt keine letztliche Sicherheit für den Sozialstaat, der das große Projekt der Nachkriegszeit war, z.B. auch keine Sicherheit, dass die Renten stabil sind, weil sie einfach weltmarktmäßig sich stabilisieren müssen und alles von der Weltmarktsituation abhängig ist. Der Nationalstaat hat keine wesentlich bedeutsamere Funktion mehr als ein Bundesland und wird im europäischen Staatenbund aufgehen müssen, wenn die Kapitalwirtschaft sich noch erhalten können soll – dann allerdings immer mehr zum Nachteil der Besitzlosen. Aber der Staat nützt ihnen so oder so immer weniger – so weit eben wie er als Sozialstaat noch funktioniert, wenn überhaupt.

E.Th. Da will ich noch konkretisieren: Im Grunde genommen sind wir auch Teil des Problems, wenn z.B. das Geld meiner Lebensversicherung, meiner Altersversicherung angelegt werden musste, da wurden Versprechungen gemacht. Um dieses Geld handelt es sich auch.

W.Pf. Geld ist zum großen Teil nur noch denkbar als Finanzkapital. D.h., auch wenn wir nur ganz einfache Sachen machen, wie uns um unser Alter Sorgen zu machen, z.B. eine Lebensversicherung abzuschließen, werden wir zum Teil eines Finanzkapitals. Wir sind nicht mehr in den Kreisläufen der Generationen und was die Theorie von der Rente und dem Generationenvertrag ist, das ist nichts anders als Betrug, weil das Geld verwirtschaftet wird und weiter lebt in diesen Sphären, in denen es angewandt wird. Also, es gibt von daher keine bürgerlichen Sicherheiten mehr, die eigentlich die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Ausgang hatte. "Unser Geld" ist längst nicht mehr unser Geld, "unser Staat" längst nicht mehr unser Staat usw.

E.Th. Ein anderer Punkt: Da gibt es große Ungleichzeitigkeiten auf der Welt. Es gibt Staaten, wie Kosovo, Albanien oder andere, die sind in der Staatsgründungsphase und gleichzeitig gibt es die EU, die ist schon dabei über Brüssel soundsoviele staatliche Funktionen wegzudelegieren. D.h., der Staat macht sich auch dadurch, dass er ‚modern’ auf den Markt reagiert, überflüssig. Herr Schröder führt es ja vor, da könne man nichts machen, wir müssen uns nur anpassen.

W.Pf. Ich denke, der Staat macht sich nicht ganz überflüssig, er wird mehr zu so was wie einem politischen Händler. D.h. es ist schon wichtig, welche Bündnisse betrieben werden; z.B. war es sicherlich wichtig, das sich die SPD nicht in den Irak-Krieg hineinziehen hat lassen, weil sie einfach kapiert hat, dass es für die europäische Entwicklung besser ist, sich herauszuhalten. Frau Merkel hätte das sicher anders gemacht. Von daher sind die Entscheidungsräume der Politik zunehmend selbstständig geworden. Was dahinter steht an Problem des Kapitals, das lässt sich nicht mehr national fassen, aber die Entscheidung, wie die Verträge entwickelt werden und wie sich die USA und die Europäer auf dem Weltmarkt positionieren, das ist schon noch die politische Geschichte, die der Staat zumindest als ein Vertragspartner politischer Absprachen macht. Das bringt aber nicht unbedingt die Menschen weiter, hält aber die Mächte noch zusammen und kann sich auch anderer Politik noch entgegensetzen.

E.Th. Man hört es täglich: Politik schafft keine Arbeitsplätze, sie schafft nur Rahmenbedingungen und damit geben sie den Schwarzen Peter weiter, sind aber gleichzeitig hilflos.

W.Pf. Politik besteht aus einem politischen Willen. Was da alles eingeht, das sind entweder Vorstellungen, wie die Wirtschaft laufen könnte, und das sind dann alles Konditionen, Ideologien und abstrakte Interessen. Es ist nicht mehr so, dass man sagen könnte, in der Politik vertritt sich ein ganz konkretes Interesse eines ganz konkreten Kapitals. Es ist nur noch eine Wertmasse, die Probleme macht und die man steuern muss. Und eigentlich besteht die ganze Politik, wenn man’s ganz kurz nimmt, aus so was wie einem Krisenmanagement, weil man ständig erfährt, dass das Ganze nicht hinhaut und mal wieder eine "neue" gegenläufige Politik versucht. Eigentlich ist die Politik in dem Sinn schon negativ bestimmt. Es ist einfach nur ein permanentes Reparaturgehabe, wo sich jeder politische Mensch in der politischen Klasse eigentlich zunehmend als Handlanger verstehen muss - und dann sagt auch mal manch einer, dass es einfach keinen Spaß mehr macht.

E.Th. Dazu kommt noch die Nivellierung der Parteien. Man kann sie kaum noch unterscheiden. Für Bildung muss was getan werden, Innovationen fehlen, neue Märkte müssen gefunden werden. Welche Legitimierung haben überhaupt noch Parteien. Das scheint mir mehr eine Sache der Duftmarken zu sein, als der tatsächlichen Interessenvertretung.

W.Pf. Der Unterschied ist schon, dass jeweils andere Vorstellungen vom Krisenmanagement herrschen. Ich sage nicht, dass es nur Duftmarken sind. Sicherlich sind Ideologien dahinter, wenn der eine leichter zu bewegen ist, in einen Krieg einzusteigen, als der andere. Aber es ist auch eine Frage von so was wie einer Staatstechnik, so dass die politische Klasse zunehmend zu Funktionären des Kapitals wird, indem sie mehr oder weniger gut in der Lage ist, seine Probleme anzugehen oder zu beheben. Sie ist zu so was wie eine Reparaturanstalt der Krise geworden. Und die Frage der Politik ist, welche Reparatur man vorzieht.

E.Th. Wobei, auch das beim Bürger kaum ankommt. Z.B. irgendwelche Exportvorschriften für Chemiemittel, das sind ja Dinge, die entziehen sich der Wahrnehmung des einzelnen. Wo bleibt der Arbeitnehmer da?

W.Pf. Die Loslösung der Politik von den Interessen der Bevölkerung ist eindeutig da. Das merkt jeder. Die Politikverdrossenheit hat ja zur Zeit einen Prozentsatz von über 70 %, wie ich gelesen habe. Aber von noch weittragenderer Bedeutung ist, dass diese Ablösung der Politik auch institutionell fixiert ist. Sie wird ja auch in der EU so verwaltet. Die EU-Verfassung sieht vor, sich auf einen Weltmarkt einzustellen, der sich praktisch nur noch am Kapital selber orientiert und mit dem Leben der Bevölkerung fast nichts mehr zu tun hat. Und diese Verselbständigung hat sich auch innerhalb der Parteien oder in der SPD z.B. in dem Konflikt zwischen Lafontaine und Schröder gezeigt. Der Schröder hat schon ganz eindeutig einen Kurs eingeschlagen, den man neoliberal nennen muss und Lafontaine hat sich auf das sozial-demokratische Herz besonnen und meinte, man könne diesen Prozess aufhalten durch eine andere Politik, was ich bezweifle, wenn man die Probleme genauer anschaut.

E.Th. Das bringt mich zur Frage: Was kann man von den Parteien heute noch erwarten. Das Krisenmanagement schaffen sie ja auch nicht so richtig. Was bleibt oder was kann man dem Wähler raten, wie soll er sich orientieren.

W.Pf. Ich würde jede Partei daraufhin anschauen, ob sie es zulässt oder möglich macht, dass und wie andere Entwicklungen jenseits der bestehenden Politik mit ihr denkbar sind. Da gibt es einige Überlegungen, die diskutiert werden. Ich denke da z.B. an die Grundversorgung, die oft Grundsicherung genannt wird. Wie lässt sich die machen, ohne dass sie nur eine andere Form der Sozialhilfe oder Rente wird. Bei den Parteien wird so etwas derzeit leider nur über Geld diskutiert, als eine Lohnumverteilung der Geringstverdiener mit den Geringerverdienenden. Das Thema Grundversorgung wäre wichtig. Aber es muss ganz anders angegangen werden. Grundsicherung muss was Organisches, ein kommunales Projekt werden, worin einzelne Existenzen in eine Veränderung des Gemeinwesens eingehen, worin die Menschen ihre Selbsterhaltung in einer kommunalen Versorgungsarbeit oder in kommunaler Industrie finden können sollen, sei es dadurch, dass man die reproduktive Arbeit selbst strukturiert in lokale und überregionale Reproduktionskreisläufe oder wie auch immer. Die ganze Entwicklung muss vom Geld weg, zumindest Geld auf seine Funktion als Zahlungsmittel reduzieren. Große Geldbewegungen können auf Dauer nichts verändern, weil sie keine gesellschaftliche Formen verändern und weil sich darin Wert vermittelt und weil Geld dann schon wieder als Kapital fungiert, wenn es zur Reproduktion vorgestreckt wird. Wir können nicht drum herum, dass Politik in der Lage sein muss, Lebensinteressen der Bevölkerung zu artikulieren und sich von den Lösungen über Geld frei zu machen.

E.Th. Brauchen wir die Demokratie in der Form, wie sie existiert oder ist sie eher eine antiquierte Veranstaltung des 19. Jahrhunderts. Wir haben keine Stände mehr, die Parteien gingen ja aus der Ständegesellschaft hervor. Die Unterschiede sind nivelliert worden. Brauchen wir andere politische Werkzeuge für eine Demokratie?

W.Pf. Was wir bestimmt nicht brauchen, ist eine repräsentative Demokratie. Das ist auch schon im EU-Parlament absurd geworden, dass die Vermittlung nach oben von einem Repräsentanten zum nächsten, zum übernächsten immer nur über Repräsentation, über die Aufhäufung von Stimmabgaben läuft. Das kann nicht richtig sein. Es muss so etwas wie ein Bestimmungefüge geben, das sich hin und zurück vermittelt, eine Demokratie, die so eine Art Rätedemokratie ist und zugleich auch eine Bezirksdemokratie - oder wie auch immer man das nennen mag - in der sich eine gesellschaftliche Auseinandersetzung auch wirklich fortbestimmt. Und darin muss es subsidiar zugehen, so dass diese Fortbestimmung notwendig von unten nach oben geht, die Bestimmungen kontrolliert weitergegeben werden können und von unten nach oben auch vermittelbar so sind wie von oben nach unter, also allgemein durchsichtig. Das würde ich als ein Ziel sehen, eine Demokratie so herzustellen, dass sie sich aus den Lebensinteressen bestimmter Regionen ergibt und sich daraus auch mit anderen verbindet und auch in überregionalen Interessen zusammenkommt, z.B. ist ja das Verkehrswesen bestimmt ein überregionales Interesse, das nicht nur regional bestimmbar ist. Wie das alles ausschaut, das ist natürlich kompliziert. Aber es kann nur richtig sein, dass nicht über Repräsentation und über Meinungsbildung der Bestimmungsweg verläuft, sondern über Problemstellung und Lösung des Problems, wo auch die Wissenschaften eine bestimmte Funktion darin haben müssen.

E.Th. Das sind jetzt Vokabeln, die auch der Herr Stoiber benutzt. Das Europa der Regionen, z.B., das sind ja Gedanken, die sicher weiter zu spinnen sind. Aber ich könnte mir vorstellen, dass wir die Parteienherrschaft weglassen müssen. Das ist ja scheinbar schon eine Bremse für sich, die das Fell schon untereinander verteilt hat, ohne die Menschen zu berücksichtigen.

W.Pf. Das ist ja eben repräsentative Demokratie. Parteiendemokratie ist dasselbe. Wenn der Stoiber so redet, meint er nicht das, was ich meine. Er meint ja nicht, dass sich aus Lebensinteressen heraus etwas entwickelt, sondern aus politischen Interessen. Und damit meint er seine staatspolitischen Interessen und vor allem die Geldbewegung, die darin geregelt werden soll. Das ist ein großer Unterschied.

E.Th. Wo gibt es noch Elemente, wo man sagen kann, der bürgerliche Staat erfüllt seine Funktionen nicht oder wird seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht? Kultur, Bildung haben wir bis jetzt vernachlässigt.

W.Pf. Das ist ein wichtiger Punkt, dass sich das Bildungssystem, das Gesundheitssystem und das Rentensystem anders entwickelt, als wir es von dem bundesdeutschen Wirtschaftswunderland kannten. Bei der Bildung schält sich z.B. heraus, dass es um eine Hierarchisierung der Bildung geht, also dass zunehmend Elite-Bildung gemeint ist, die sich auch durch Geld abschottet, dass Leute was zahlen müssen, wenn sie in die Elite reinwollen – die Entwicklungen und die Überlegungen laufen schon darauf hinaus - und dass die ganze Bildungspolitik sich einen Arbeitsmarkt in zwanzig Jahren vorstellt, in dem es nicht mehr Arbeit für jeden gibt. Nicht dass dann jeder seine Freizeit hat, sondern dass eben diese Spaltung zwischen einer Elite und den Leuten, die wenig verdienen und als Drohung leben müssen für die anderen, dass das immer größer wird.

E.Th. Wir haben ja auch jetzt schon eine Zweidrittel-Gesellschaft. Da hilft uns, glaube ich, der Klassenbegriff nicht weiter, weil es sowohl bei den Reichen wie bei den Armen kreuz und quer geht mit der ökonomischen Funktion. Welche Kategorie wäre da dann jetzt angebracht?

W.Pf. Ja, der Klassenbegriff hilft auf der phänomenalen Ebene nicht weiter, weil man Klassen so nicht mehr ohne weiteres erkennen kann. Wenn man von Klassen spricht, muss man von der ganzen Welt sprechen. Die Arbeiterklasse als solche z.B. besteht heute zu einem beträchtlichen Teil aus einzelnen Menschen, die irgendwo in Taiwan, oder in Polen oder in USA oder irgendwo in irgendeinem Betrieb oder zu Hause einen Teil zusammenschrauben. Die Industrie als wirklicher Ort der Verbindung von Arbeitsteilung, ein Treffpunkt des Arbeitszusammenhangs durch Menschen, die somit wirklich eine ökonomische Macht verkörpern können, den gibt’s so nicht mehr. Die Abhängigkeit der Menschen vom Kapital ist wirklich total geworden. Das heißt zwar nicht, dass es den Klassenbegriff logisch nicht mehr gibt. Das heißt aber, dass der Klassenbegriff kein Begriff mehr ist, mit dem sich noch Wirklichkeit erklären und erhellen lässt, weil er keine wirklich anschauliche Aussage mehr machen kann. Tatsache ist, dass der Klassengegensatz zunehmend eigentlich nur noch zwischen Finanzkapital und Bevölkerung überhaupt besteht. Das geht zunehmend in den Gegensatz, dass alle Menschen fast zur Klasse werden und das Finanzkapital zum Übermenschen - wenn man diese Anschauung mal zu Ende führt. Dann muss man sich so ein Machtgeschwebe vorstellen, das seine Erdung sucht und sich irgenwo mal herabbegibt und sich auch schnell wieder zurücknimmt. Es ist eine handgreifliche Mythologie: Da wo früher ein Gott im Himmel vermutet war, da sitzen jetzt die Götter des Finanzkapitals und hetzen durch die Algorythmen der Spekulation in den Computern der Börsen und Broker der Welt.

E.Th. Dazu kommt die Tendenz über Unternehmensberater, die Unternehmen so zu animieren, dass der einzelne Arbeiter quasi sowohl den Arbeitgeber als auch den Arbeitnehmer in sich hat. Er soll so kontrolliert werden, dass er sich selber soweit diszipliniert, dass er sich Rechenschaft abgibt, ob das was er macht, effektiv usw. ist. Da sind wir schon Teil des Systems, schon mittendrin, wie ich meine.

W.Pf. Ja, das ist richtig. Es ist aber auch insofern leider real, dass, wenn sich die Gewerkschaften nicht überlegen, was aus ihren Forderungen wird, dass die dann leicht zu einem Schuss nach hinten werden. Das ist das Schlimmste hierbei ist, dass es real so ist, dass, wenn Arbeiter zu hohe Lohnforderungen stellen, sie sich selbst Schaden zufügen, z.B. indem es zu einer Inflation kommt, wenn sie den Arbeitspreis zu hoch durchsetzen könnten, und wenn sie zu geringe Löhne verlangen, kommt es zu einer Entwertung ihres Lebensstandards und ihrer Chancen, sich den Marktpreisen entsprechend zu reproduzieren. Es ist eine Situation da, in der sie alle in einer Zwickmühle sind, sich gar nicht mehr kämpferisch artikulieren können, sondern es meist zur Rechenaufgabe von Spezialisten wird, was da noch geht und was nicht. Eine Forderung als solche ist ziemlich egal, wenn sie sich tatsächlich nur gegen sie realisieren würde. Wenn man das so verdichtet sieht, dann können sie nur schaun, dass sie so viel Lohn und Arbeitszeitverringerung auf einer Verhandlungsebene herausholen, wie ihnen möglich ist, angesichts der Drohung, dass das Kapital sonst abwandert. Das ist insgesamt keine erträgliche Situation. Es ist letztlich nur noch die blanke Erpressung einer Sachlogik, die sich durch Forderungen alleine nicht mehr wirklich und mit einiger Konsequenz ändern lässt ...

E.Th. ... wohl wissend, dass auch Erfolge im sogenannten Lohnkampf keine Lösung sind. Wenn überhaupt sind sie nur ein Sieg für kurze Zeit. Das kann sich sehr schnell wieder umdrehen.

W.Pf. Die Frage ist auch, wie sich diese Lohnkämpfe in eine antikapitalistische Politik einbeziehen lassen. Ich denke es gibt schon vieles, was man da tun kann, aber das Wichtigste daran liegt auf der Ebene eines Bewusstseins gegenüber dem ganzen Kapitalverhältnis, also dass man sich darüber klar wird, an welchem Gängelband oder in welchem Hamsterrad man gerade leben muss und dass man da überhaupt raus will, dass man von der Überzeugung getrieben wird, dass es keinen anderen Weg gibt, als eine Verbindung innerhalb der Existenzen der Bevölkerung, dass es keine Auswege über große politische Aktionen im klassischen, im ursprünglichen Sinn des Arbeitskampfes mehr gibt. Den unmittelbar geschichtlich handelnden aufgeklärten Menschen, der nur wissen muss, was ihm nötig ist, um dessen Verwirklichung anzustreben, den gibt es nicht mehr, auch nicht, wenn er als Masse auftritt, weil die dann logisch sich gegen sich stellen würde.

E.Th. Du hast von Aufklärung geredet. Aufklärung hatte immer einen positiven Bezug, hat sich immmer verbunden mit Fortschritt, Weiterentwicklung der Gesellschaft, Entwicklung der Produktivkräfte. Nur muss man konstatieren, wir haben jetzt 200 Jahre Aufklärung und wir müssen feststellen, wir verstehen unsere eigene Gesellschaft nicht. Also da muss was schief gelaufen sein.

W.Pf. Es ist vielleicht mehr die Frage, was verstehen heißt. Wir können sie verstehen oder nicht verstehen, das ist manchmal gar nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, was wir wirklich tun und tun können. Wichtig ist schon hierbei, ein Bewusstsein zu entwickeln. Das ist aber z.B. von Marx nicht als aufklärerisches Bewusstsein verstanden, sondern als wissendes Sein, also als Wissen dessen, was ist, und was nicht ist, was geht, was gehen kann und was nicht. Das ist etwas anderes, als wenn ich jemanden erkläre, was vernünftig wäre, um ein Ziel zu erreichen, also z.B. einen optimal angepassten Lohn. Die Aufklärung gründet auf Vernunft, d.h. es gibt eine Vernunft des Bestehenden und in dieser Logik musst du das und das tun, dann hast du das und das als Folge. Das ist nicht notwendig Bewusstsein. Es ist eher so etwas wie eine Anwendungswissenschaft.

Die Aufklärung ist wirklich vorbei. Das Wissen, was läuft wie es läuft wenn es läuft, das haben wir zur Genüge. Und es hat eigentlich letztlich eine affirmative Funktion, weil wir ja nur die Logik des Bestehenden als Vernunft nachvollziehen. Aber das, was Bewusstsein ist, heißt, dass jeder sein Leben ernst nimmt und sich von seinem Sein aus wissend verhält und dann auch vor allem über sich weiß, was für ihn wichtig ist, was ihm nötig ist und was deshalb zu tun ist. Da geht es nicht um Wissen einer Vernunft, Wissen als solches, sondern um Menschen. Und das ist ein Ansatzpunkt, der ganz andere Folgerungen ergibt, wenn man dann z.B. feststellt, dass die politischen Parteien keine wirkliche Änderung bringen, sondern bestenfalls irgendwelche Helfer sein können. Und dann muss ich auch zugleich feststellen, dass ich was ganz anders tun muss, weil ich was anderes vorhabe und rauskriegen muss, wie das gehen kann. Und dann kann man die Frage nach den Parteien so rum stellen, was die dabei bringen können und wenn’s vielleicht nur das ist, dass ich irgendeine Partei wähle, weil von der die meisten Infos rüberkommen. Es gibt ja tausend Gründe zu wählen, wenn die Wahlstimme sowieso keinen Wert hat und wenn ich begriffen habe, dass ich meine Ziele nicht per Wählerstimme übereignen kann.

E.Th. Lässt sich über parlamentarische Arbeit, über Wahlen, über die Parteien eine andere Gesellschaft herstellen oder ist es eher so, dass die Parteien der Deckel auf dem Topf sind, der Kapitalismus heißt und die den auch verwalten, so schlecht und recht wie’s passiert?

W.Pf. Die ganze repräsentative Politik besteht daraus, dass sie gewählt wird, weil die Leute sich Vorstellungen davon machen, dass sie durch ihre Wählermeinung ein parlamentarisches Kräfteverhältnis bilden würden, durch das die Politik weitergebracht wird. Aber das Kräfteverhältnis ist eine Illusion, weil es nur politischer Wille im Rahmen des Bestehenden bleibt. Es ist wirklich ein Deckel, der auf die Verhältnisse gesetzt wird: Da entstehen bestimmte Probleme, meistens sind es die Probleme des Kapitals, die wir zu lösen haben, und dann gibt es ein paar unterschiedliche Auffassungen, wie die zu beheben sind. Da kann man wählen. Aber es gibt auch wirkliche, andere Probleme, die durch repräsentative Politik nur dahin beantwortet werden, dass der Staat als Institution durch seine Mittel, durch Steuermittel oder durch seine Gewalt, durch Kriegsführung, irgendetwas zu lösen hat, was für das Ganze stabilisierend ist und er daher letztlich nur restauriert und konserviert, was eigentlich ganz anders werden müsste. Und das hat nichts mehr mit dem zu tun, was für die Menschen richtig ist.

E.Th. Das heißt doch, dass Fortschritt für die Gesellschaft, Fortschritt für die Menschen, nur sehr bedingt von den Parteien möglich ist. Von den Abgeordneten ist nur zu erwarten: Wenn, dann darf der Fortschritt nichts kosten und darf nicht im Widerspruch stehen zu wichtigen Interessenverbänden.

W.Pf. Ja, so weit sind wir eigentlich heute. Die Entwicklung, die man im Augenblick absehen kann, ist - zumindest aus meiner Sicht - keine weiterführende Entwicklung für die Entwicklung der Menschen. Das Ganze, was bisher innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft noch antreibend war, die Entwicklung von Technologie, von Produktionsmitteln, von Erleichterung der Arbeit, die dann zur Erleichterung des Kapitalverkehrs wurde, das ist keine Entwicklung, die überhaupt noch rückvermittelbar ist, außer vielleicht durch bessere Konsummöglichkeiten, durch ein paar Gags in der Kultur oder auf dem Musikmarkt oder ähnliches. Die Entwicklung durch welche Menschen sich ihrer Gesellschaft gewisser werden und ihres Miteinanderlebens und in der auch wieder Reichtum geschaffen wird, der wirklich für ihr Leben etwas bedeutet, die ist dadurch nicht mehr zu erwarten.

E.Th. Zum Thema: Bürgerliche Gesellschaft am Ende, wie du es beschrieben hast. In welchen Punkten kann man da von einem Ende reden oder wo zeichnet sich da was ab?

W.Pf. Die bürgerliche Gesellschaft ist eigentlich eine Gesellschaft, die einen Produktionskreislauf, ein bestimmtes Verhältnis einer Wirtschaft zwischen Produktion und Konsumtion darstellt, das sich auf dem Markt durch Waren vermittelt. In diesem Wirtschaftsverhältnis war tragend, dass Waren getauscht wurden, dass es einen Staat gibt, der den Warenverkehr und auch die Produktion sichert und mit entsprechender Gewalt auch stützt und dass es eine Kultur gibt, in der sich die Menschen je nach den Möglichkeiten ihres Besitzstandes bilden, ausbilden, verfeinern und entwickeln. Bürgerlich heißt ja eigentlich ‚burgherrlich’ und ist eine in einem befestigten Kreislauf sich vollziehende Wirtschaft, in der sich diese gesellschaftlichen Momente vermitteln und aufeinander beziehen. Das Kapital wurde darin zu einem allgemeinen Subjekt der Produktion und des Handels, das den Reichtum, der hierin gebildet wird, in als Mehrwert aufsammelt und weiter verwertet.

Inzwischen hat es sich darüber hinaus entwickelt zu einer ungeheuerlichen Fiktion. Es ist als eine von allen bestimmten Verhältnissen abgehobene Wertmasse selbstständig geworden von diesen Wirtschaftskreisläufen in den unterschiedlichen Wirtschaftsräumen als fiktives Kapital, das nach Verwertung giert, wo immer die möglich ist. Es lag natürlich schon immer in der Natur des Kapitals, dass es alle Grenzen überschritten hat und sich überall nur dort eingesetzt hat, wo es sich Profit versprochen hat, wo es etwas vorfand, das es nutzen konnte, um sich zu vermehren, auszubeuten. Doch dieses Kapital ist inzwischen zu 98 % nur noch Finanzkapital und an keinerlei Ort gebunden, an keinen Raum und keinen Staat, Nation oder Kultur. Es macht nur noch Druck, alles zu verwerten, was dafür irgendwo auf der Welt taugt. Und dazu gehören inzwischen auch die Infrastrukturen ganzer Staaten und Kulturen, die der Gewalt einer unersättlichen Produktion und Konsumtion von Wert überlassen sind.

Es ist ein fiktives Kapital, das verwertungsgierig um den Globus schwirrt und in keiner Weise irgendwelche gesellschaftlich befestigten Lebensräume mehr sucht, in denen es bestimmte Produkte produziert, die in irgendeiner Form überhaupt noch als gesellschaftlicher Reichtum existieren. Das meinte ich mit bürgerlich und das ist zu Ende. Es gibt keine befestige Wirtschaft und auch keine, die sich durch irgendeine Lebensform – und sei es die der Nationalstaaten - noch darstellen könnte und verteidigen wollte. Die Beziehung von Ökonomie und einer politischen Gesellschaftsform, wie sie noch im 19. Jahrhundert tragend war, ist vorbei.

Die Globalisierung hat vor allem eins gebracht: Dass das Kapital als fremde Weltmacht selbst in die Staaten mehr hineingreift und diese nutzt, als dass sie dort noch wirklich einbezogen werden kann, dass also es diese Staaten nur noch als politische Gruppierungen gibt, in die das Kapital im einzelnen eingreift und im Vorbeigehen die Verhältnisse bestimmt, ohne noch groß vor Schranken zu stehen oder vor Grenzen.

Man kann das an einem Beispiel in der Dritten Welt z.B. daran zeigen, wie sich in Peru der Goldabbau verändert hat. Eine zeitlang war das ein Verhältnis, das über den peruanischen Staat lief, wo Gold exportiert wurde und auf den Devisenmärkten abgekauft wurde. Seit Ende der Siebzigerjahre hat sich der Goldabbau um 1.635 % erhöht, dadurch, dass das internationale Kapital sich in Peru direkt als Auftraggeber und Eigner entwickelt hat und die Produktion unmittelbar im Land bestimmt, als Kapital in die dort ansässigen Goldminen eingetragen ist und zum Teil mit einer Söldnermacht, einer Privatarmee oder -polizei dort eindringt und die Abbaugebiete abriegelt. Zurück bleiben Wüsten, zerstörte Landschaft, zerstörte Kultur, mit Zyaniden vergiftete Umwelt. Es gibt keinerlei Befestigungsweise eines Gemeininteresses mehr, keinen wirksamen Schutz der Bevölkerung hiergegen, keine Selbstverteidigung der einzelnen Regionen. Es gibt nur noch einen praktisch willkürlichen Eingriff in die Lebenszusamenhänge und Lebensgrundlagen der Menschen, soweit und solange sie nutzbar sind für einen Verwertungszusammenhang des Kapitals, für einen Kapitaleinasatz, ein transnationalen Konzern, für Aktien, die dort als Kapital solange angewandt werden, bis die Verwertungsquelle versiegt.

E.Th. Ganz aktuell gibt es die neue linke Partei, die sich gerade gründet. Lafontaine ist ein Verfechter der nationalen Ökonomie, d.h., er möchte mehr Eingriffe des Staates in die Wirtschaft, er möchte regeln. Ist das überhaupt denk- und machbar in Verhältnissen, wo es die WTO gibt, wo es die EU gibt. Das kann man doch als Nationalstaat gar nicht mehr alleine denken.

W.Pf. Das halte ich auch nicht mehr für möglich. Man muss sehen, woher die ganze Entwicklung kam. Es war nicht so, dass das Kapital durch einen bösen Einfall bösartiger geworden ist und heftiger und brutaler und auch noch die Staaten damit "rumgekriegt" hat. Es waren da nicht einfach ein paar böse Menschen am Werk, sondern es ist eine Logik in der Entwicklung der Globalisierung, der ganzen Geschichte, die damit angefangen hat, dass die Ausbeutung der Arbeiter und der Dritten Welt nicht mehr hinreichend war, um die inzwischen angesammelte Wertmasse des internationalen Kapitals zu verwerten, dass also die Kapitalkonzentration einfach zu hoch geworden war gegenüber den Möglichkeiten, die das Kapital hatte, sich darin auch umzuschlagen.

Die Entwicklung lief nicht auf der staatlichen Ebene. Der Staat hat nur die Gewalt, das Ganze was geschieht zu beeinflussen oder politisch zu handhaben. Die Entwicklung lief auf der Ebene der Wertverhältnisse. Und da war die Entwicklung des Devisenmarktes ausschlaggebend gewesen, nämlich dass über die Devisen das Ausbeutungsverhältnis nicht mehr so gut laufen konnte, weil die Wertdeckung der Devisen mit deer Wermasse des insgeamt bewegten Kapitals nicht mehr mitkamen. Die einzelnen Staaten hatten sich dem gebeugt, dass das Kapital zum Teil größere Wertmengen umfasste als sie selber; es gab die Konzerne, die weitaus größer waren als die Nationen, in denen sie tätig waren und von daher eine reale Bestimmungsmacht hatten, der man entweder irgendwie folgen musste, um die eigee davon abhängige Wirtschaft noch eine Weile am Leben zu halten, oder der man etwas entgegensetzen hätte müssen, etwa eine Infrastruktur, die wichtiger geblieben wäre als alles andere. Das war der Punkt, wo die Globalisierung richtig ins Rudern kam und die Staaten wirklich ohnmächtig wurden.

Wir können deshalb jetzt, nachdem alles gelaufen ist, nicht einfach einen Staat erfinden, der praktisch ein bisschen gutmütiger funktioniert und das Ganze anders in die Hand nimmt, weil er von guten Menschen getragen ist. Also da gibt es ein ganz reales Problem, das sich so nicht so einfach und per Wahlentscheid ändern lässt. Von daher muss die ganze Politik daraufhin abgeklopft werden, wie weit sie das überhaupt begreift, überhaupt begreifen kann und konsequent umdenkt und ihre eigene politische Form in Frage zu stellen vermag. Wahrscheinlich muss man ihr dabei helfen.

E.Th. Zum Schluss noch die aktuelle Situation in Deutschland. Voraussichtlich wird die SPD nicht an der Macht bleiben, gleichzeitig malt sie den Teufel an die Wand, wenn sie die Situation mit Frau Merkel beschreibt. Was ist jetzt Dichtung und Wahrheit daran, am "ohne uns wird alles nur noch schlimmer"?

W.Pf. Die Geschichte ist jetzt, dass die Sozialdemokratie mit ihrem Latein am Ende ist und dass auch der Versuch von Schröder, sich auf die Seite des globalen Kapitals zu stellen, eigentlich auch nicht mehr sozialdemokratisch zu machen wäre. Ich finde schon, dass da was zu befürchten ist, das auf uns zukommt. Wenn man hinzunimmt, was der inzwischen vielzitierte Professor Sinn so sagt, wie er als Agent des global diensteifrigen Staats die Perspektiven sieht: Bis zum Jahr 2035 hat er alles hochgerechnet und festgestellt, dass diese Wirtschaft kaputt geht. Und dass jetzt alles zu tun wäre, um das aufzuhalten - nicht zum Vorteil der Menschen, sondern zum Vorteil des sogenannten "internationalen Wettbewerbs". Und das heißt praktisch weitergehende Restriktionen gegen die Bürger. Er kommt dabei auf ganz einschlägige Positionen, die auch von der CDU begeistert aufgenommen werden. Das Wesentliche daran ist die Wertediskussion, die dazu führen soll, dass die Verschärfung der Arbeitsrestriktionen und der Mittel, die Hartz IV und Agenda 2010 nur angedeutet haben, verschärft werden und dass wir schon davor stehen werden, dass der untere Arbeitsmarkt immer mehr abgetrennt wird von einem Elitemarkt und von daher auch keine Bewegung mehr hat, keine Aufstiegsmöglichkeiten von unten nach oben und die Gewerkschaften von daher nicht mehr in der Lage sind, Brücken zu bauen oder auszugleichen. Das wird wohl immer deutlicher, dass sie hinfällig werden und was uns erwartet, ist, dass die ganze Politik auf eine schräge, auf eine internationale Art und durch die Anforderungen der EU wieder zu einer Nationalpolitik wird gegen die Bevölkerung – diesmal in ganz Europa. Und wir können nur hoffen, dass nicht mehr gelingt. Aber wir sollten dazu auch etwas tun.

E.Th. Soweit unser Beitrag zum Thema: Ist der bürgerliche Staat in der Krise? Wer das Thema vertiefen möchte, der sollte sich bei http://kulturkritik.net einwählen. Wolfram Pfreundschuh von eben dieser Kulturkritik und Eckard Thiel verabschieden sich.

 

Zum Schluss noch etwas Versöhnliches: Wie auch immer der Zusammenschluss der Linken in Berlin ausgehen mag, eine neue Gesellschaft wird mit Sicherheit nicht durch die Parlamente entstehen. Deshalb bleiben wir gelassen und drehen lieber an den anderen Schrauben, die uns noch zur Verfügung stehen.

Radio Lora