Emanuel Kapfinger (2009/06)

Die Enteignung der Bildung durch den Bologna-Prozess

 

Der Text basiert auf Diskussionen innerhalb der Hochschulgruppe „Demokratische Linke“ an der Uni Frankfurt.

 

Der Bologna-Prozess erzeugt ein instrumentelles Verhältnis der Studierenden zum Studium und eine verdinglichte Wissenschaft. Seine Umsetzung besteht nicht bloß aus einer formal anderen Studienordnung. Vielmehr wirken deren Zwänge bestimmend auf die Subjektivität der Studierenden selbst. Stark erhöhte Leistungsanforderungen, beständige Leistungskontrollen und vorgegebene Studienplänen hinterlassen ihre Spuren in den Studierenden und haben ihre Wirkung darauf, wie diese ihr Studium angehen und welche Ziele sie darin verfolgen.

 

Kritik der Modularisierung

 Das Schlagwort der neuen Studienordnungen ist die sogenannte Modularisierung. Die Fächer werden dabei in selbständig zu verfolgende Teildisziplinen, die „Module“, aufgeteilt. Damit werden die für das Fach wesentlichen Verbindungen zwischen seinen Teildisziplinen aufgetrennt. Dies treibt den Unsinn einer Wissenszerstückelung, wie sie mit Fächern überhaupt gegeben ist, fort.

Zumeist schreiben die neuen Studienordnungen das Studium aller Module vor. Darin ist bis auf eine sogenannte Spezialisierung kurz vor Ende des Studiums keine individuelle Schwerpunktsetzung möglich, weder ein Studium von Bereichen außerhalb des Modulkanons, noch das Nichtstudium von Modulen, die dem eigenen Erkenntnisinteresse entgegenstehen oder für es nicht zielführend sind. Aber ein solches wird an der modernen Universität gar nicht mehr erwartet. Es wird vielmehr systematisch unterbunden.

Bildung erhält mit der Modularisierung ein Schema, das von anderer Stelle oktroyiert wird. Erstellt wird der Modulkanon in Gremien fernab des Einflusses der Studierenden. Mit ihm wird ein Design eines Akademikers entworfen, dessen Fähigkeiten wie aus dem Baukasten zusammengestückt sind. Was in der professoralen Vorstellung als modellhafter Akademiker fungiert, gerät später zum tatsächlichen Produkt der Bildungsfabrik, zu welcher die Universität derzeit umgestaltet wird. Dass Bildung nur mit Interesse an der Sache überhaupt funktioniert und gerade die Universität der Ort wissenschaftlicher Arbeit ist, wird nicht vergessen, sondern zielgerichtet hintertrieben. Die Kriterien dieses Akademiker-Designs werden nicht wissenschaftsimmanent, sondern nach vermeintlicher Marktnützlichkeit getroffen, denn der Bachelor gilt nicht als wissenschaftlicher, sondern berufsqualifizierender Abschluss. Solche Kriterien kann man zwar nicht als falsch bezeichnen; sie sind ja durchaus „gut gemeint“ und sollen dem Absolventen zu Erfolg auf dem Arbeitsmarkt verhelfen. Aber Wissenschaft muss andere Zwecke verfolgen als der Markt. Sie muss zwar die Gesellschaft, das Gemeinwohl zum Zweck haben, aber nicht in der einseitigen und dem Gemeinwohl an und für sich entgegengerichteten Weise der Kapitalverwertung und der Herrschaftssicherung.

In manchen Studiengängen können zu Beginn des Studiums einige Module ausgewählt werden – die restlichen bleiben hier ganz außen vor, die Auseinandersetzung abseits dieser „Spezialisierung“ erscheint als unnötig. Hier wird das Design, die Zusammenstellung des künftigen „gemachten Mannes“ oder der „gemachten Frau“, von den Studierenden selbst erstellt. Die Kriterien dieses Designs können in der Regel ebenfalls nicht wissenschaftsimmanent getroffen werden, weil zu Beginn des Studiums noch keine nähere Kenntnis des Fachs gegeben ist.

Durch die Modularisierung wird das ganze Studium starr vorgegeben. Die Bewegungsfreiheit und damit die Entfaltungsmöglichkeit im Studium sind daher stark eingeschränkt. Zusammenhänge zwischen den Teildisziplinen, die einem wissenschaftlich relevant erscheinen, können nicht verfolgt werden. Desgleichen sind vertiefte Beschäftigungen, die einem durch seine Entwicklung während des Studiums notwendig erscheinen, nicht möglich. Das Curriculum ist vorgegeben – erst „Basismodule“, dann „Aufbaumodule“, schließlich „Vertiefungsmodule“ – und bestimmt so hoheitlich den Fortschritt der Studentin oder des Studenten. Eine selbständige Einschätzung ihrer Fähigkeiten wird ihnen nicht ermöglicht, ebenso entzieht diese Aufteilung in levels der Idee einer Lerngemeinschaft von älteren und jüngeren Studierenden den Boden: Beide Gruppen haben nur mehr selten miteinander zu tun. Schlechte und uninteressante Veranstaltungen können wegen der Teilnahmeverpflichtungen nicht abgebrochen werden.

Die Modularisierung ist der Feind des selbstbestimmten Studiums.

 

Das Bildungskonzept des Bologna-Prozesses

Der Modularisierung liegt eine Auffassung von Bildung zugrunde, für die selbige völlig abstrakt und dinglich ist, und neben der man gar keine andere mehr kennt. Deshalb versteht sich die Modularisierung nicht als Zurichtung der Studierenden, sondern als Hilfe, als Vereinfachung des Studiums. Nach dieser Auffassung besteht Wissen aus reiner Information. Es kann objektiv festgehalten, klassifiziert und in solcher Stückung per „Lehre“ in der Studentin oder im Studenten gespeichert werden. Inbesondere geistes- und sozialwissenschaftlichem Wissen steht das unheimlich fern. Es ist dies eben der positivistische Wissenschaftsbegriff, wie er von der Kritischen Theorie stets kritisiert wurde. Theorie von dieser Art trachtet permanent nach Quantifizierung und Formalisierung aller Zusammenhänge, kennt dagegen keinerlei qualitatives Sinnverstehen. Sie meint, wissenschaftlich-neutral von der Gesellschaft unabhängig zu sein, während sie sich zugleich ohne Rest unter ökonomische Nützlichkeit stellt.

Entsprechend verläuft das Studium. Mit der Belegung des Basismoduls hat man das Grundwissen für die Teildisziplin erworben und erhält dies durch die bestandene Prüfung bestätigt. Man kann den Kurs abhaken. Es ist objektiv klassifizierter Wissenskanon, der aufzunehmen ist und abgeprüft werden kann. Die Modularisierung verkennt völlig Wissen als Resultat des Lernprozesses eines selbsttätigen und interessierten Subjekts, und selbst unter den Zwangsbedingungen der Modularisierung kann Bildung und Erkenntnis nur nach diesem Prinzip entstehen.

Adorno hat dieses verdinglichte Denken in einem Aphorismus in den „Minima Moralia“ auf den Punkt gebracht:

Der Gedanke, der Autonomie verlor, getraut sich nicht mehr, Wirkliches um seiner selbst willen in Freiheit zu begreifen. ... Zu seinen Gegenständen verhält es [das Denken] sich wie zu bloßen Hürden, als permanenter Test des eigenen in Form Seins. Überlegungen, die sich durch Beziehung zur Sache und damit vor sich selber verantworten möchten, fordern den Argwohn heraus, sie seien eitle, windige, asoziale Selbstbefriedigung. (Adorno, Minima Moralia, Aph. 126).

 

Die Mechanisierung des Lernens

Die neuen Studienordnungen multiplizieren aber auch die Leistungsanforderungen, während sie gleichzeitig die Studienzeit beschränken. Ist etwa der Bachelor nach acht Semestern nicht abgeschlossen, folgt die Zwangsexmatrikulation. Denjenigen, die den neuen Studienordnungen ausgesetzt sind, wird ein enormes Pensum, unzählige Prüfungen und Hausarbeiten abverlangt. Alle  Noten im Studium gehen unmittelbar in die Abschlussnote ein. Das erhöht den Druck noch einmal und reduziert Lernen auf den Zweck der Bestnote. Die Wahl von Lehrveranstaltungen nach Interesse wird unter diesem Pensum unmöglich. Man kann sich nur mehr im vorab gewählten Modulschema bewegen.

Ohnehin lastet das große Leistungspensum mit derartigem Druck auf einem, dass die zahllosen Teilnahmeverpflichtungen, Seminare, schriftlichen Arbeiten nur schwerlich mit Interesse und Freude an der Sache verfolgt werden können. Die Leistungen erscheinen stattdessen als ungeliebter Aufwand, zu dem man keine andere Beziehung hat, als dass er für das Studium eben zu erbringen ist. Es findet hier keine subjektive Identifizierung mit der Sache statt. Insofern die Studierenden am Zweck des Studiums festhalten, wird ihnen die Selbstentfremdung aufgezwungen, eine ihnen gleichgültige Sache aufzunehmen, geistig zu verarbeiten, auswendig zu lernen. In Zeiten großen Drucks, die wegen der unzähligen Leistungen im modularisierten Studium häufig sind, fehlt einem die Energie, aus eigener Motivation zu lernen. Tag für Tag befindet man sich angesichts der geforderten Leistungen im Hintertreffen, Lesen wird eine rein mechanische Tätigkeit, Aufgaben schematisch bearbeitet. Nichts wird hinterfragt, weitergedacht, auf eigene Erfahrungen bezogen. Man wird auf eine bloße Funktion, den Mechanismus eines Lernens reduziert. „Ich habe mein Leben für mein Studium geopfert,“ äußerte sich ein Bachelor-Student zu seinem Studium. 

Nicht nur die Studierenden sind durch solche Kontrollinstrumente getroffen. Auch berufliche wissenschaftliche Arbeit an den Universitäten ist ähnlichen Zwängen ausgesetzt, etwa der Einwerbung von Drittmitteln und einer hohen Produktivität, und tendiert so gezwungenermaßen zu demselben Arbeitsverhalten.

Das wissenschaftliche Studium

Das Anliegen eines wissenschaftlichen Studiums wird durch die Modularisierung so gut wie unterbunden. Ein solches Studium gilt der wissenschaftlichen Aufarbeitung eigener Fragen, es eignet sich den Literaturkanon des Fachs in kritischer Auseinandersetzung an und hat vor allem die Ausbildung einer eigenen Position zum Ziel. Das Arbeiten an eigenen Themen oder bloß nur mit anderen Studierenden wird unter diesem Pensum zeitlich unmöglich. Wer mehr tut als nötig, wird für verrückt erklärt. Aber Studieren ist ohnehin nicht länger selbständige Bildungsarbeit, sondern das getreue Mitschreiben jedes Worts des Professors und sogar noch seiner Powerpoint-Präsentation. Mit der vielgepriesenen aber unerwünschten Kundenmentalität mahnt man den Professor ab, wenn er die Präsentation zu schnell durchklickt, als dass man mit dem Schreiben noch mitkommen könnte. Sich andere Themen zu setzen als den akademisch anerkannten und gesellschaftlich sanktionierten Kanon, im kritischen Studium ja täglich' Brot, zeugt nur von flegelhaftem Eigensinn, der sich ein Urteil über einen Autor doch noch gar nicht anmaßen kann.

 

Was soll das Ganze?

Eine ganz ähnliche Kritik kann man übrigens schon in der SDS-Hochschuldenkschrift von 1960 anlässlich der damaligen Studienstruktur lesen. Nachdem die Studentenbewegung eine Demokratisierung der Hochschule und eine Liberalisierung des Studiums erkämpft hatte, geht das Hochschulwesen heute reaktionär wieder zu starren Studienstrukturen zurück. Die heutige Tendenz besteht in der Erschaffung des unmündigen Studenten, der nicht denken und erkennen, sondern Datenmaschine fungieren soll, der sich nicht in die Kritik von Wissenschaft und Gesellschaft vertiefen, sondern sein Studium unter ökonomischen Gesichtspunkten planen soll. Vielleicht ist das aber gerade der Akademiker, den das Kapital unter den gegenwärtigen Verwertungsbedingungen braucht: der keine Fragen stellt und in der vorgegebenen Aufgabe immer noch unter Einhaltung von Effizienzkriterien selbständig arbeiten kann. Dem der Bezug zur Sache gleichgültig ist. Der gewohnt ist, unter Druck und ohne Sinn für sich durchzuhalten. Das wäre es jedenfalls, was wir heute im Studium wirklich lernen.

Emanuel Kapfinger