Fassung vom 21.2.05

Unterlegung der Thesen von: "Thesen zur Wertediskussion: Patriotismus, Leitkultur und Leistungskultur"

Wolfram Pfreundschuh (02/2005)

 

Die Wertediskussion: Patriotismus, Leitkultur und Leistungskultur

 

Ökonomie, Kultur und Staat der bürgerlichen Gesellschaft zeigen ihren abstrakten Zusammenhang nirgends deutlicher als in Krisenzeiten. Da entstehen Bruchstellen im Gebälk der Gewohnheiten, Risse im Zusammenwirken der Existenzgrundlagen einer Gesellschaft, zunächst als Probleme mit der Finanzierbarkeit der Staatsangelegenheiten, dann als Sinnfrage überhaupt. Wenn die wesentlichen Ideale einer Gesellschaft ihre Unerfüllbarkeit wirklich zeigen, dann wird auch schon mal ihre Legitimation vakant. Wenn Lebensstandard, Bildung, Rente, Gesundheitswesen, Kultureinrichtungen usw. reduziert werden müssen, weil Geld fehlt, was soll aus dieser Gesellschaft werden? Waren es nicht gerade noch die wesentlichsten Ziele in ihrem Selbstverständnis, jedem Menschen zur Selbstverwirklichung zu verhelfen, seine Würde zu schützen und ihm bei seinen Versorgungsnöten Sicherheit zu bieten?

Im vierten Jahr der Rezession treibt den Staat aber nicht mehr so sehr die Frage, was die Menschen dieser Gesellschaft sich von deren Entwicklung vorstellen, sondern wie er das beständige Wachstum seiner Verschuldung stoppen kann. Seine Gläubiger, die ihm über die Weltbank das nötige Geld leihen, verlangen Sicherheit. Ihr Geld soll nicht dadurch kaputt gehen, dass der Staat seine Aufgaben nicht erledigt - dass er vor allem die Geldwertstabilität beachtet, den durchschnittlichen Zinsfuß entsprechend feststellt, wirtschaftliche Bedingungen einer optimalen Verwertungslage absichert, soziale Planungen zur wirtschaftlichen Stabilsierung erbringt und dass er nicht selbst zahlungsunfähig wird. Der wirtschaftliche Druck hat den Sozialstaat überholt, von einem Wohlfahrtsstaat kann nicht mehr die Rede sein.

Der Staat krankt vor allem daran, dass der Binnenmarkt, der mit 60 % Anteil am deutschen Bruttosozialprodukt beteiligt ist und fast 80 % der Arbeitsplätze bietet, in der vollen Krise steht, keine nennenswerte Erträge einbringt und also weniger Steuer bezahlt, Arbeitslosigkeit am laufenden Band produziert und die Sozialkassen belastet. Über 13,5 % der Deutschen gelten inzwischen auch in offiziellen Statistiken der Bundesregierung als verarmt. Während die Hälfte der Bevölkerung schon 1996 so gut wie nichts besaß (1,3 % des Nettovermögens) waren 5 % der Deutschen im Besitz von 43 % des geldwerten Vermögens und 33 % des Immoblienvermögens (Quelle: DIW-Wochenbericht Nr. 30/96 S. 497ff).

Im offiziellen Armutsbericht der Bundesregierung (2001) wird festgestellt, dass sich die Zahl der Vermögensmillionäre von 1960 bis heute mehr als verhundertfacht hat, von 14.000 im Jahre 1960 über 270.000 im Jahre 1973 auf heute rund 1,5 Millionen. Dagegen vervierfachte sich die Zahl der Sozialhilfe empfangenden Menschen in Westdeutschland von 1973 bis 1998 auf 2,5 Millionen (insgesamt sind es etwa 2,88 Millionen). Dafür verantwortlich gemacht werden gestiegene Arbeitslosigkeit und sinkende Erwerbseinkommen. Der Bundesbericht konstatiert, dass das "permanente Erreichen überdurchschnittlicher Einkommenspositionen (...) in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre ebenso wieder zugenommen (hat) wie das Risiko eines dauerhaften Abstiegs in unterdurchschnittliche Einkommensklassen." (http://www.uni-muenster.de/PeaCon/global-texte/r-m/klundt-ArmutundReichtuminDeutschland.htm). Die überdurchschnittlichen Einkommenspositionen dürften inzwischenen rarer geworden sein.

Dies hat sich seitdem noch drastisch verschärft. Als größter Auftraggeber für den Binnenmarkt hat der deutsche Staat auch einen großen Anteil an dessen Probleme: Durch schrumpfende Staatskassen nehmen seine Aufträge ab und mit deren Abnahme schwindet wiederum der Geldrückfluss in diese Kassen. Natürlich weiß die politische Klasse, dass es den großen Kapitalkonzernen nicht schlecht geht, soweit sie weltweit operieren – im Gegenteil. Ihre Gewinne haben Rekordniveau. Auf dem Weltmarkt steht Deutschland gut da. Nur nutzt das dem Staat recht wenig. Von dort kommen wenig Steuern, dort buhlt er mit Steuergeschenken, um überhaupt noch versteuern zu können, um anteilig noch ein wenig dabei zu sein. Das Kapital ist mit seiner Globalisierung zu einer blindwütigen Wertmasse geworden, für die auch Staaten und Gemeinwesen zunehmend Verwertungsobjekte geworden sind. Mal sind sie nützlich, mal nicht. Je nachdem, was zur Wachstumsproduktion gerade ansteht, wie die Verwertungslage und die Arbeitskosten beziehungsweise Konkurrenzen dort sind und welche Zugeständnisse der Staat an das Kapital zu machen bereit ist. Das Kapital nimmt, was es zur Verwertung seines Geldes nutzen kann, also die Prosperität einzelner Branchen, Staaten, Kulturen. Wer sich selbst hierfür gut herrichtet, hat Chancen, am Geldfluss teilzuhaben.

Derweil treiben die Entwicklungen von Kapital und Staat auseinander. Während das staatenlose Kapital immer mächtiger wird, sorgen sich die Staaten selbst um ihre Konkurrenzfähigkeit als "Wirtschaftsstandorte". Wie Einzelunternehmungen treten die Staatsmänner auf dem internationalen Parkett auf und bewerben sich um Aufträge, für die sie bereit sind, ihre Infrastrukturen und Sozialpolitik anzupassen. Und wie Betriebswirtschafter richten sie ihr Volkswirtschaft her, mit selbem Erfolg wie diese: Während die Finanzmärkte boomen, hängt das Sozialwesen am Tropf. Die Sozialsysteme brechen zusammen, bürgerliche Strukturen in Arbeit und Familie zerfallen, Moral und Werte verlieren ihren Sinn. Man hatte das gerade noch als Fortschritte des "Postfordismus" gepriesen, doch der zugleich aufkommende Eindruck, dass darin auch jede sinnvolle Beziehung unmöglich wird, hinterlässt Ratlosigkeit. Und die Verschuldungsfallen schnappen zu.

Was nicht mehr so einfach zusammengeht muss zusammengehalten werden, und so beginnt dann wieder jene eigentümliche Kraftmeierei mit Begrifflichkeiten, von denen zuvor weniger zu hören und noch seltener zu erfüllen war: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, jetzt als Anspruch des Staates an seine Bürger. Für die Freiheit müsse gekämpft werden, für die "gerechte Sache" des Staates müssen alle einstehen, die durch ihn verschuldet sind, also alle Staatsbürger, und die Solidargemeinschaft benötigt immer mehr Geld zum Selbsterhalt als Wirtschaftsstandort auf dem Weltmarkt und verlangt daher Minderung der Sozialkosten und Sozialabgaben. Und mit solchen Sprüchen muss die Bevölkerung die Reduktion ihrer Ansprüche an das Sozialwesen Staat dann ertragen. Es geht vor allem um Geld, um alle möglichen Formen der Beitrags- und Steuererhöhungen und Kostensenkung, um alles, was dem Staat zur Effizienzsteigerung seiner internationalen Konkurrenzlage und seiner nationalen Armutsverwaltung möglich ist. Deutschland ist reich an Exportwirtschaft aber arm im eigenen Haushalt.

Aber der deutsche Staat braucht auch wirklich Geld, um seinen Aufgaben nachzukommen. Nicht nur dies. Er braucht auch die Regularien, um es einzutreiben oder zu ersparen, er braucht Gesetze, die ihm einen erweiterten Zugriff auf das Vermögen seiner Bevölkerung erlaubt. Nicht nur auf das Geldvermögen. Es geht auch um die Veränderung der Anteilnahme und Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen der Nation, um das Lebensverständnis, das hier mit eingehen muss, um sich an den Nöten des Großen und Ganzen zu beteiligen, eigene Erwartungen herabzusetzen und eigenes Selbstverständnis dem staatlichen zu unterordnen. Was bislang mit dem Anliegen so glanzvoller Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verpackt war, klingt plötzlich ziemlich verhärmt und spröde. Die Ökonomie im Inland bringt es nicht mehr, weil sie für die im Ausland sparsam wirtschaften muss. Der große Boom findet transnational statt, in den transnationalen Konzernen und großen Aktiengesellschaften, die ihr Kapital massenweise und zugleich tröpfchenweise zergliedern und anlegen. Das Sozialwesen Staat muss man jetzt anders verstehen. Es dient einem höheren Zweck. Man muss an die Zukunft des Ganzen glauben oder an Nachbarschaftshilfe oder an das große Irgendwann. Jedenfalls kommt die Binnenwirtschaft, der sogenannte Mittelstand, nicht mehr so einfach weiter, wie bisher. Ihre Entwicklung ist so ziemlich am Ende, zunehmend in den Dimensionen einer Reproduktionswirtschaft, unter die niemand gehen kann, auch nicht die Gewerkschaften.

Und dann solle man auch bedenken: Die Zeiten sind schlecht und wir müssen doch etwas tun! Es geht doch immerhin um unser Leben als solches, um unsere Kultur. Davon war bisher nicht so sehr die Rede. Das war immer eine aparte Selbstverständlichkeit, Produkt der eigenen Glücksschmiede, ins Private abgetrennte Entfaltungsmöglichkeit. Doch das gehört jetzt plötzlich dazu: Wir sitzen wieder mal alle "im selben Boot". Das wohl Separierte soll jetzt wieder aufeinander bezogen werden, das Eine für das Andere herhalten, Kultur für Ökonomie, Ökonomie für Staat und Staat für Kultur oder einfach auch alles zusammen.

In diesem Sinne taucht zugleich eine Richtungsweisung auf, zu der sich der Staat normalerweise nicht bemüßigt sieht. In den Phasen, in denen die Wirtschaft relativ gut läuft, tritt er gerne in den Hintergrund, und lässt die Verhältnisse selbst regeln und bestimmen, was ihnen nötig ist. Direktiv tritt er erst in Erscheinung, wenn Funktionsbrüche offenbar werden und die Entwicklung stören oder sogar verunmöglichen, also dann, wenn die Krisen der Wirtschaft deren Prosperität wieder eingeholt haben und Geld nicht mehr so luftig funktioniert wie vordem. Aber da gibt es nach Phasen des relativen Wohlstands ein Problem: Seine Regulationsmöglichkeiten per Gesetz, z.B. Sozialgesetze wie Hartz IV, sind nicht so richtig glaubhaft ohne eine gewisse Dosis von Angst. Die muss man vermitteln und da muss dann eben auch mit Kultur gedroht werden: Es sei eine schlichte Notwendigkeit unserer Kultur, unsres "Vaterlandes", dafür einzustehen, dass sich seine Lage wieder bessert. Für dessen Erhalt seien Regulationen nötig, die "vielleicht auch ein bisschen weh tun". Patriotismus ist wieder gefragt. Das "Vaterland" ruft zur Pflicht. Das meint nicht nur die CSU (Stoiber) und der CDU-Parteitag (2004), sondern auch eine ziemlich breite Strömung in der politischen Klasse, auch wenn es manchmal anders benennt. "Uns" geht es nicht mehr so gut und "wir" müssen jetzt zusammensteht. Das klingt ja sehr bodenständig und menschlich und macht die Verhältnisse zwischen Bürger und Staat familiär und kameradschaftlich, vor allem seelisch. Damit argumentiert auch Schröder, wenn er den "Missbrauch des Staats durch den Bürger" bekämpfen will, von Fair-Play spricht, auch wenn dieses "Spiel" für die Staatsbürger bitterer Ernst ist. Das kommt an. Das versteht jeder, der sich um seine Lieben sorgt. Schließlich ist ja der Staat auch "unser Staat" und also etwas Menschliches, oder?

Aber es erscheint erst mal etwas paradox. Gerade verliert der Staat seine wichtigsten wirtschaftlichen Steuerinstrumente und muss seine nationale Position dem internationalen Markt beugen, da soll er schon wieder patriotisch bedacht werden? Man soll sich wieder seiner Kultur besinnen, wo wir doch von jeder Staatskultur die Schnauze bis oben hin voll haben. Der Staat tritt tatsächlich wieder persönlich auf. Man soll ihn wieder lieben, weil er sich um uns sorge. Ja, gerade deswegen. Er kann sich nur wieder einkriegen, wenn ihm zumindest menschlich alle zustimmen, wenn alle sich ihm gegenüber dankbar zeigen.

Und Dank verpflichtet: Weil der Staat für den internationalen Markt dereguliert wurde, weil er das Bündnis mit der Bevölkerung längst aufgegeben hat, weil er einen Großteil seines Vermögens privatisiert hat, müssen seine Regularien deutlich mit dem politischen Willen eines Gemeinwesens begründet werden, das seit längerem obsolet gewesen war, und wieder heftig zur Pflicht ruft, nicht als gebietender Staat, sondern als notwendiger, als unser aller Besorgnis. Was er im Großen und Ganzen betrieben hat und betreibt, das sind ja nur die Staatsgeschäfte. Aber in seiner Not als Konkurrent auf dem Weltmarkt, als Wirtschaftsstandort Deutschland, soll er zu unserem Anliegen werden. Wir sollen uns um ihn sorgen, seinen Notwendigkeiten Folge leisten, seinem Defizit dienstbar sein, unsere Bedürfnisse und Forderungen den seinen unterstellen. Deshalb geht es wieder um Werte, nicht um die der Ökonomie, sondern die der Kultur. Es geht um Kultur als Anleitung der Bürger zu ihren Verpflichtungen gegenüber dem Staat, um Patriotismus und dessen Funktion als Leitkultur, damit wir uns ökonomisch unterwerfen, damit kein Insitieren auf Lebensstanard, auf Lohnforderungen und Kürzung von Arbeitszeit "überhand" nehmen. Die neuen Ideale treten auf wie die alten. Aber sie haben einen anderen Grund: Sie bündeln nicht das Ganze in einem mehr oder weniger abstrakten Ziel; sie stellen jetzt die Notwendigkeiten des Ganzen über alles, was im Einzelnen nötig ist. Es sind jetzt unmittelbar die Ideale eines abstrakten wirtschaftlichen Fortkommens, des Mehrwerts, wie er dem Wirtschaftsstandort Deutschland geboten ist.

 

Der ideologisierte Mehrwert

Die Wirtschaftskrisen des Kapitalismus, Verhältnisse, die seit über 200 Jahren bestehen und seitdem auch – möglichst seitab der öffentlichen Meinung - diskutiert wurden, werden plötzlich zum Brennpunkt des öffentlichen Bewusstseins, wie eine schier übergeschichtliche Notlage, die nur noch durch den Beitrag eines jeden zu beheben sei. Was bisher als Makel des Kapitalismus besser verheimlicht bleiben sollte, wird jetzt von großer Bedeutung, wenn es keine Alternativen zu geben scheint. Eines kann man damit nämlich auf jeden Fall vermitteln: Alle müssen jetzt dran glauben. Steuern und Sozialabgaben haben wir ja schon immer bezahlt und daran darf auch nicht mehr viel geändert werden, soll unser Bruttosozialprodukt nicht zu teuer und damit unsere Weltmarktpotenz geschmälert sein. Beitragserhöhungen und Wirtschaftssteuerung bringen da in der Tat nicht mehr viel, nicht, weil es die Neoliberalen uns eingeredet hätten, sondern weil dort längst alles ausgeschöpft und erschöpft ist. Nein: Wir stehen nicht nur auf den nationalen Märkten in Konkurrenz, sondern weltweit, und müssen uns hierfür selbst zurichten.

Die Entwicklung der deutschen Wirtschaft bestimmt sich also nicht mehr so sehr aus der Entwicklung des nationalen Marktes und den Investitionen im Inland. Daher muss der deutsche Staat jetzt die Bevölkerung ausrichte und Herrichten für ein optimales Verhältnis auf dem internationalen Markt. Unser Problem sei die Produktivkraft Deutschland, welche noch nicht optimal ist, weil ihre "Betriebskosten" zu hoch seien: Arbeitslohn, Arbeitszeit, Ausfallszeit (Krankheit, Urlaub), Rente, Gesundheit und Sozialkosten. Unsere Weltmarktposition hänge davon ab, wie effektiv sich unser Sozialwesen gestalten ließe, wie flexibel man es eben machen kann. Flexibilität heißt optimaler Nutzen durch Anpassung an das Nötige, Beweglichkeit, Veränderung, Sortierung und Ausgrenzung des Unnützen. Das sind die Maßgaben, nach denen nun der Staat seine Bevölkerung auszurichten hat.

So bestimmt sich die Konkurrenz des Weltmarktes bis in die intimsten Ecken unseres Staatshaushaltes fort. Als erstes geht es um die Sortierung. Nur wenn jeder weiß, wo er hin gehört und was ihm zusteht, wann und wohin er gehen und kommen darf, kann er wirtschaftlich funktional einbezogen und können entsprechende Erwartungen geregelt werden. Was sich bisher jeder so gedacht und vorgestellt und erwartet hat, kann vom ganz großen Markt nicht mehr erfüllt werden. Grundlage können nicht länger die Bedürfnisse der Menschen sein, ihre Eigentümlichkeiten und Berufsvortellungen. Das alles muss durch veränderte Teilnahme am Ganzen gemanaged werden, durch anderes Verhalten gegenüber Bildung (Forschung für die Praxis, Numerus Clausus, Unterhaltungsindustrie), gegenüber Ausgaben (z.B. Gesundheitskosten, die zu Krankheitskosten werden müssen) und Alltagsnotwendigkeiten (z.B. Mehrarbeit, Disziplin, Anpassung). Es geht jetzt also zu allererst um uns selbst als Teil einer nationalen Unternehmung, um unsere "nationale Identität", mit der wir dem Ganzen zustimmen sollen, um unsere Beiträge (wie z.B. Bereitschaft für Mehrarbeit, für Bescheidenheit, für Selbstdisziplin und Gemeinsinn), um unsere Einstellungen und Haltungen, um unsere Ängste und Erwartungen, unsere Sicherheit und Ordnung.

Identität ist eigentlich etwas sehr Komplexes und hätte viel mit Auseinandersetzung, Selbsterkenntnis und Wahrheitsfindung zu tun – und es bliebe vor allem die Frage übrig, ob es nationale Identität überhaupt wirklich gibt. Aber es geht einfacher, wenn man die Frage nach der Identität umkehrt. Wir wären vielleicht nicht von selbst drauf gekommen: Was uns verbindet ist das Gegenteil von dem, was uns trennt. Es trennen uns Interessen, die sich nicht einfügen in das nicht vorhandene Ganze unserer Nation. Da fällt denn auch mal wieder das Stichwort "nationale Identität" mit einem gänzlich neuen Hintersinn: Natürlich gibt es immer Probleme mit solcher Identität, die ja nicht immer mit der Geburt gegeben ist, weder bei den Deutschen, noch bei den Ausländern. Also packt man dieses Identitätsproblem damit an,. dass die Unterscheidung von "gewachsener Identität" und "konstruierter Identität" bemüht wird; das fördert die Klärung der Ausrichtung. Diesmal hat sich kein Deutscher da als erster vorgewagt, sondern ein Ausländer, der in Deutschland lebt und es besonders gut machen will und zugleich vorgibt, für Europa zu reden: Der Journalist und Kulturtheoretiker Bassam Tibi (siehe http://www.bpb.de/publikationen/40QIUX,0,0,Leitkultur_als_Wertekonsens.html). Wir hätten das ja fast vergessen, hatten wir uns doch mit der "konstruierten Identität" (was für ein widersinniger Begriff!) in jeder Hinsicht längst abgefunden. Nicht dass die Konstruktion von Identität verrückt oder schlecht, ein Widersinn in sich wäre, nein, nur geordnet muss sie sein! Und dazu sei eben jetzt wichtig, eine "gewachsene Identität" der "konstruierten Identität" voranzustellen. Wer oder was nun das Gewachsene verkörpert, sei dahingestellt. Bisher war Kultur aus den wie auch immer gewordenen Lebensverhältnissen der Menschen entstanden. Jetzt sollen sich die Zugereisten dem beugen – nicht nur in Bayern.

Es ist der Klassiker einer Diskriminierung: Das Bestehende will sich seiner Gegenwart nicht überlassen, sich nicht in ihm aufgehoben begreifen, sondern auf eine Geschichte bestehen, die sich dem Gegenwärtigen zu überordnen sei als Anleitung für dessen Behandlung. Es ist der Standort des Erziehers, der dem "Neuling" erst zu sagen habe, was das Alte mal war. Die Konstruktion eines Bruchs der Geschichte macht die Verleugnung einer in sich selbst gebrochenen Geschichte. Damit verleugneten sich einst auch die Eltern vor ihren Kindern, denen sie die Teilhabe an der Welt streitig machen wollten. Sie seien dafür noch nicht "groß genug". Und so geht es heute mit der Kultur: Wer hier lebt und arbeitet ist noch lange nicht hier und schon gar nicht kultiviert. Er hat bestenfalls eine "konstruierte Identität" und benötigt daher eine Leitkultur. Damit kann man endlich mal aufräumen. Vor allem mit der "Beliebigkeit des Multikulturalismus" und zur "Schaffung eines Konsens über zentrale Normen und Werte hierzulande" (ebd). Nur gut sei sie gemeint, Ausdruck von Verantwortung für das Ganze. Denn auch auf uns ist nur Verlass, wo wir unser eigenes Haus bestellen und ordnen und wissen, was hierfür gut ist. Wir sollten uns endlich wieder darauf besinnen, dass wir für unser Leben und unsere Lieben da sind - und das macht ja unsere Werte aus. Nur wo man sich wohl fühlt, setzt man sich auch richtig ein und weiß was richtig ist. Und nur da greift das, was erforderlich ist, was verlangt und gefordert werden kann, was Wert hat, ohne dass es was kostet - im Großen sei das wie im Kleinen. Den Rest besorgt ja dann auch immer noch die Sachgewalt: Die Existenz, wenn sie Angst macht, und das Geld, das wieder "wirklich verdient" sein muss und deshalb zu jedweder Leistung verpflichtet.

Aber es braucht einen Begriff für kulturelle Werte, damit das Volk dahin gezogen werden kann, dem allgemein Notwendigen zu folgen, auch wenn es dabei nicht seine eigene Notwendigkeiten aufhebt, sondern die "des Ganzen", des ganzen Volkes eben. Dafür taugt erst mal die Feststellung einer Führungskultur – natürlich eine gegen andere, gegen die Ausländer, zumindest für’s Erste. Leitkultur ist der Begriff einer Elite, die herausgesetzt aus den Verhältnissen, worin multiple Kulturen zusammengebracht wurden, feststellen kann, was für die Einheit der Kultur nötig sei. Und das muss unter dieser Bedingung eigentlich eine Fiktion sein. Aber als Ausrichtung für andere ist es ein pädagogisches Konzept der Mächtigen, eine Handlungsanweisung und Sortierung dessen, was sich einem bestimmten Ziel beugt und was nicht. Natürlich ist der Begriff einer Führungskultur nicht nur für Ausländer gedacht, also nicht nur für Menschen, die aus anderen Kulturen kommen; es geht hierbei um Anleitung zu bestimmten Zielen und Zwecken schlechthin, um die Errichtung einer nicht vorhandenen Hochkultur, welche die Ordnung und Verfügungsmacht einer Exportgesellschaft durchsetzen soll. Und der werden Ausländer wie Deutsche unterwiesen; da gibt es auf Dauer keine Unterschiede mehr. Wie bei Hartz IV geht es nicht um Sicherheit, die mit solchen Begriffen vorgegaukelt wird, sondern um Leistung. Und schon ist auch so ganz nebenbei der Begriff Leistungskultur gefallen. Und der Reihe nach werden sich noch einige Führungsbegriffe einfinden, die mit den "kulturellen Notwendigkeiten" dieses "unseren Landes" begründet werden. Kultur ist das letzte und stärkste Argument, das dem Staat möglich ist. Und eine Führungskultur ist haargenau die Sache, auf die er wieder mal hinaus muss, um von seiner Krise wegzukommen.

Der CDU-Parteitag 2004 hat das dann auch gleich weitergesponnen und hat umworben, was der gesamten politischen Klasse in der Republik nötig ist: Staatspflicht nicht als Sorgepflicht des Staats für seine Bürger, sondern als Bürgerpflicht gegenüber dem Staat. Das ist eine einfache Umkehr des bisherigen Verhalts. Es wurde bezahlt, es wurde vorgesorgt. Jetzt verlangt die Vorsorge nach Bezahlung im Nachhinein! Als ob ein Unglück vom Himmel gefallen wäre, werden nun staatliche Disziplinierungsmaßnahmen als Katastrophenschutz ausgegeben. Da ist dann niemand mehr seines Glückes Schmied, sondern jeder muss etwas opfern, damit das Gemeinwesen wieder in die Gänge komme. Die christlich titulierte Partei, die den einfachsten Umgang mit Begriffen wie "Nächstenliebe", menschlicher Gemeinschaft usw. pflegt, will sich jetzt als Fahnenführerin positionieren. Und also wird es ausgesprochen: Eine "Diskussion" um Patriotismus, um Vaterlandsliebe soll "klare Ziele" setzen, denn nur hierdurch ist ja "Leitkultur" letztlich auch zu begründen. Und nur hieraus ergebe sich "ein klarer Kurs" (Stoiber), der ansonsten wohl nicht mehr zu vermerken sei. "Schluss mit der Negativdebatte" forderten die Redner einer trauten Runde bei Maischberger, denn nur aus "positiven Gefühlen" zum Land und durch Werte, die sie befördern, sei auch der Glaube an sich selbst und an "die Zukunft" möglich. Die Durchsetzung einer Führungskultur verlangt eben auch eine positive Beziehung zum eigenen Land.

Und so hatte sich plötzlich und unter der Hand wieder der "Patriotismus" als Begriff persönlich formulierter Staatserfordernisse gebildet. Weder die Erfordernisse des Kapitals, die dahinter stehen, treten darin auf, noch die des Staates, der von sich ablenken will. Es ist der väterliche Appell zur Gefolgsbereitschaft – es ruft sich das Vaterland in Erinnerung wie ein Elternhaus, das man vergessen hat. Es ist der Aufruf zur Liebe. Hatte Roman Herzog sich noch wenige Jahre zuvor sehr klar hiergegen gesetzt mit der Feststellung, dass ein Staat eine Instition sei, und dass man Institutionen nicht lieben könne, so wird diese Liebe jetzt sehr schnell nötig. Vaterlandsliebe dient nämlich schon immer der Erziehung zum Staatsbürger, wo das einfache Vertragsverhältnis nicht mehr hinreicht. Die Erfüllung der Bürgerpflichten wie Steuereinzahlung, Meldepflicht usw. lässt sich leicht erzwingen. Da braucht’s der Liebe nicht. Die ist nötig für die freiwillige Unterwerfung unter eine sinnliche Notwendigkeit, um ein Stillhalten und Erfüllen jenseits aller Vertragsverhältnisse die jeder Bürger mit seinem Staat so eingeht. Und Unterwerfung vollzieht sich nur wirklich sinnvoll in der Selbsterhöhung, die ein Individuum erfährt, wenn es sich als Teil eines Gesellschaftsganzen Selbstgewissheit verschafft,, einem Ganzen, das es nicht wirklich gestaltet, das es aber mit sich als eine gemeinschaftliche Gestalt von Individuum und Gesellschaft identifiziert: Vaterland als Kulturgestalt, als Vater und Land in einem. Vaterlandsliebe ist noch nicht Nationalismus, darin sind sich alle einig, die den Begriff verwendet haben wollen. Aber es die kindliche Form des Nationalismus, er wächst zu ihm heran. Immerhin macht er schon das Individuum einer Nation zum nationalen Kultursubjekt, das nicht sich, sondern ein Ganzes vertritt, auch wenn es dies nicht vertreten kann. Und er macht dies zugleich auch schon zu einem Objekt: Pflichtschuldig gegen seine Liebe zu Volk und Vaterland. Vaterlandsliebe ist die Grundform einer subjektiven Objektivität, in die sich jeder Mensch begibt, der sich ihr unterstellt. Er kann auch sich nur mögen, wenn er sein Land mag. Das weiß Stoiber bestens zu vermitteln. Wer keine Liebe zu sich selbst habe, habe sich aufgegeben, und dies sei das Grundübel in Deutschland (Stoiber bei Maischberger).

Das ist nicht nur eine Drohung; es ist auch ein Trost für diejenigen, die aus ihrer Isolation nur so abstrakt herausfinden, wie sie hineingeraten sind: Die Heimat Suchenden. Schließlich ist das Vaterland nicht nur irgendeine ideelle Gemeinschaft, es ist der Begriff, der für eine kulturelle Ganzheit steht, in der sich jeder geborgen fühlen kann, sobald er darauf Anspruch hat. Und Anspruch darauf hat eben jeder Deutsche von Geburt. Es ist eine gewaltige Verführung für vereinsamte Menschen, sich darin hochzuziehen und sich auch dazu noch anteilig zu verstehen an der Staatsmacht, welche diese Kultur hat. Durch solche kulturelle Nationalität ist mit einem Mal alles überwunden, was ansonsten Bedrängnis bedeutet: Einsame Ohnmacht. Es ist die Gemeinschaft der Kulturmächtigkeit, die sich hiergegen verbrüdert. Und die wirkt in das ganze Selbstverständnis hinein. Das kulturnationale Selbstverständnis ist eine Verführung zur Verbrüderung der Ohnmächtigen im kulturellen Machtbesitz. So selten und außergewöhnlich ist das nicht. Besonders die christlichen Staatsagenten machen aus der Verführung zu dieser Macht gerne eine Pflicht. Es steckt ja bereits in ihrem Kontext: Liebe deinen Staat wie dich selbst!

Wie immer, wenn Verhältnisse sich nicht mehr von selbst erfüllen, wird Liebe zur Pflicht. Dass dies gut zu nutzen ist, das wissen die Politiker, die es als Grundlage der eigenen wie einer allgemeinen Identität brauchen, als Identifizierung der isolierten Individuen mit der Pflicht des Bürgers eines Nationalstaats. Das hatte doch schon mal John F. Kennedy so schön gesagt, als er mitten im Vietnamkrieg zur Volkseinheit rief: "Schaue nicht, was dein Land für dich tun soll, schaue, was du für dein Land tun kannst!" Krüppel und zerstörte Menschen kamen aus dem Krieg zurück, die Wirtschaft lag danieder und nur Devisenmanipulationen mit der damaligen Weltleitwährung Dollar konnten die USA über Wasser halten. War die Herzog-Rede über den "Ruck" der durch Deutschland gehen müsse, um das Land weiter zu bringen, nicht auch so etwas ähnliches wie die Kennedey-Rede? Wenn alle pflichtschuldigst ihre Mehrbelastung ertragen, dann wird auch der Mehrwert wieder entstehen, der die Staatsschulden ausgleichen soll. Wenn nicht, dann ist zappenduster. Dann muss der Staat offen gewaltsam werden, nicht als Sozialstaat, der mit 1-Euro-Jobs die Menschen aus ihrer Isolation befreit, sondern durch Fronarbeit, durch die der Staat wieder in Gang kommt – und sei diese auch die "Arbeit mit der Waffe". Das mögen wir doch alle nicht und das kostet ungemein viel Aufwand. Da sollten wir uns besinnen. Und dafür appelliert Stoiber gerne auch mal an die Identitätslosigkeit: Wir seien imstande, unsere Herkunft aus dem christlichen Glauben, dem bewährten Geist des Abendlandes, den Werten und den Autoritäten, die sie verkörpern, zu verleugnen, wenn wir nicht für unser Land einstehen. Und wenn wir dieses nicht mehr achten könnten, dann würden wir auch nicht unsere Geschichte, uns selbst nicht achten. Das hieße vor allem, Leistung zu verkennen, Mut und Charakter zu verlieren, der Leistungskultur, die uns ausmacht, zu entfliehen. Wenn wir nur zusähen, wie unser Land ausblutet und ausgenutzt wird, dann wären wir unser selbst verlustig, krank. Nein, das Ganze solle umgekehrt laufen: Die Deutschen müssten sich wehren gegen Miesmacher, charakterlose Gestalten und Drückeberger. Hierzu auch nur zu schweigen, sei schon verwerflich. Deutschland müsse vorwärts schauen und "wer dem nicht zustimmt, der ist im falschen Land" (Stoiber aaO.).

 

Leitkultur, das ist vor allem Leistungskultur

Das sind klare Worte, zweifellos: Wer Leistungskultur ablehnt, der soll das Land verlassen, - so wie man ja auch das Kino verlässt, wenn man im falschen Film ist. Protestieren, Jammern und Motzen hilft da nichts! Wer nichts leisten will, verdient nicht, hier zu sein. Damit wird allerdings auch ein großer Teil der Deutschen zum Ausländersein bestimmt - Geburt reicht ja wohl irgendwie nicht mehr aus, wenn mensch seine Kultur als Anleitung begreifen soll, als Anleitung zu Leistung, die ihm aus Liebe zu seinem Staat nötig sein soll. Fremd ist der Fremde nicht mehr nur in der Fremde (frei nach Karl Valentin). Aber traut ist der Mensch als "überzeugter Patriot", als fundamentaler Patriot, der nicht duldet, dass die Falschen im Land bleiben und die Richtigen sich hier nicht mehr wohl fühlen. Jedenfalls ist das mit dem Patriotismus durchaus politisch gewollt und nicht einfach eine Parteitagslaune auf der Stimmensuche nach Rechts und auch kein schneller Vorstoß der Parteirechten aus der Kalkulation eines Machtvakuums heraus. Es ist ernst gemeint als Antwort auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft, auf die vielen Anmutungen von Niedergang und Unheil, die sich mit den Berichten der Wirtschaftsinstitute ja auch fundieren lassen. Es sind und waren die Nationalstaaten, die in den letzten Jahrzehnten die internationale Krisenbewältigung des globalen Kapitals getragen haben. Nun ist Ende. Die Probleme mit der Staatsknete zu konstatieren, reicht nicht mehr aus, um sie zu beheben. Was fehlt ist Geschlossenheit im Zusammenhalt, Einsatz für die Nation, Ertragen von Verschlechterungen und Mehrarbeit. Also geht es darum, zu unserer Kultur zu stehen und sie als verbindlichen Anleitung für alle, als vaterländische Leitkultur zu begreifen. Die Ausgrenzung von fremder Kultur ist dabei der Kulturmotor zum Leistungsantrieb. Sie erzeugt Angst und Selbstbewusstsein, je nachdem, ob man ihr unterliegt oder sie übersteht. Es muss nicht jeder ein Ausländer sein, der hierbei durchfällt. Und es ist auch nicht jeder ein Deutscher, der mit deutscher Kultur vertraut ist.

In der deutschen Kultur tut sich was - eigentlich schon seit längerem. Nachdem die Politik begriffen hatte, dass sie die objektiven Probleme der Nationalökonomie nicht mehr lösen konnte und jetzt selbst nur noch Vollstrecker ihrer Sachzwänge ist, greift sie zur altbewährten Gesinnungsmache durch Stimmungsmache. Damit kommt man immer weiter, mal als Forderung aus der Staatsnot, mal als ein romantischer Appell ans vertraute Glück einstiger Ursprünglichkeit. Für die staatsbürgerliche Gesinnung taugt vor allem die Vertrauensposition des Staats im Bewusstsein der Staatsbürger, am besten also per Verweis auf die Gefahr der Verfremdung, der Überfremdung. Damit schwindet jeder kritische Bezug auf sein Tun. Belebt wird ein Zweifel gegen etwas Unbekanntes, der da auch schon im Lebensalltag nagt, gegen das schlechthin Unkontrollierbare, das man ins Land gerufen hatte, um den Arbeitsmarkt zu "optimieren", um Löhne zu drücken, indem Konkurrenz unter den Arbeitskräften erhöht wird. Aber jetzt reicht es nicht mehr hin. Man muss auch absondern, was nicht mehr taugt, schließlich nimmt der Arbeitsmarkt nicht immer nur auf. Es muss Zurückweisung möglich sein, zu viele Arbeitskräfte sind ja derzeit eher das Problem der Marktwirtschaft. Um das Beigeholte auch wieder ausweisen zu können, muss jetzt knallhart kalkuliert und alles kontrollierbarer werden. Die Sozialknete ist knapp und die soll möglichst kulturbereinigend verwendet werden. Fremde Kultur könnte unter Arbeitslosen Ghettos erzeugen. Und zugleich verschwindet dann auch ein beträchtliches politisches Potenzial an Wählern. Fremdenfeindlichkeit wird vor allem virulent, wenn Neid um das Sozialgeld aufkommt. Und Neid grassiert besonders in der Armut, einem zunehmenden Wahlthema mit zunehmenden Anteilen in der Bevölkerung.

Da tut Führung not. Aber die betrifft alle und das ist praktisch: Da nämlich müssen sie alle sich einfügen in die Notwendigkeiten wirtschaftlicher, staatlicher und kultureller Anforderungen. Als ob sie das nicht längst schon täten und als ob ohne dies hier überhaupt zu existieren wäre! Aber jetzt soll nach höherem Maß sortiert werden: Nicht wer existieren kann und wer nicht, sondern wer fügsam ist und wer nicht; das alleine regelt schon einiges mehr. Zumindest macht es Angst und die spornt an zur Anpassung – nicht nur die Ausländer. Und also macht man Menschengruppen aus, die des Vertrauens vielleicht nicht mehr würdig sind, weil sie anderes im Sinn haben könnten, weil sie fremd erscheinen und vielleicht sogar eine kulturelle Basis haben, die sich nicht einkriegen lässt von der deutschen. Jenseits der Arbeitsstätte bedeutet fremde Kultur schließlich Parallelgesellschaft. Da ist etwas entglitten, was das vertraute Leben vielleicht bedrohen könnte, was in der Arbeitslosigkeit nicht nur depressiv wird. Fremde Kultur stört, weil sie Ziele hat, die nicht so einfach kontrollierbar sind, weil sie von etwas Jenseitigem zehren, sich nicht vollständig unterordnen lassen. Und wenn Fremdes erst mal von da her als unsinnig klassifiziert ist, dann wird Vertrautes fast übersinnlich. Das fördert die politische Kultur der Krisenbewältigung. Es ist die Vorbereitung der Ausgrenzung "überflüssig gewordener Menschen" aus unserem Sozialwesen.

Seit der Erfindung der "Leitkultur", die von Friedrich Merz begeistert aufgegriffen wurde, gibt es die Forderung zur Anpassung an kulturelle Leitwerte auch in höchst offizieller Form. Ihre Begründung war einfach: Den Ausländern werden erst mal so ganz allgemein die Fähigkeiten abgesprochen, die ihnen schon alleine existenziell nötig sind, um hier leben und arbeiten zu können: Deutschkenntnisse im Lesen und Schreiben und Sprechen. Klar: Was so einsichtig ist, dem kann jeder leicht zustimmen - und da finden sich auch immer einige, die es noch nicht können, weil sie hierfür weder Zeit noch Geld hatten. Und die freuen sich auch sicher, wenn ihnen Kurse und vor allem Mittel und Zeit hierfür zur Verfügung gestellt werden. Aber das war nur die Einführung. Eigentlich wird ihnen vorgeworfen, dass sie unkontrollierbar seien, dass sie vor allem unsere "Werte" nicht verstünden, jenseits unserer Ethik stünden und das könne Kriminalität fördern und Terrorismus säen. Zwar zeigt die Statistik, dass dies bei Ausländern nicht höher ist als bei deutschen, wenn man die Einkommensverhältnisse einbezieht. Aber dies lässt sich durch strikte Anforderungen so weit verschärfen, bis die verbleibenden Ausländer die Musterkinder des Vaterlandes sind.

Aber gibt es überhaupt das kulturelle Problem von einer Parallelgesellschaft? Kommt nicht jeder, wenn er sein Haus verlässt, aus einer Parallelgesellschaft, aus einem Reich privater Welten und Vorstellungen, die relativ wenig mit seinem Arbeitsplatz zu tun haben? Und kann eine "Leitkultur" hierfür irgendetwas ändern, etwa kulturelle Anliegen in die vermeintliche Schattenwelt vermitteln? Natürlich kann sie das nicht, und das weiß man auch. Und man weiß auch, dass die behaupteten Fakten gar keine hinreichende Allgemeinheit haben, um bedeutsam zu sein. Und schließlich hat sich allgemein eher bewiesen, dass die Menschen verschiedener Kulturen gut miteinander können, wo ihre Unterschiede frei zusammenkommen, also ohne wirtschaftlichen oder ideologischen Druck bestimmt sind, als dass dies Grund für Streit wäre oder "Kulturkampf". Das ist das Bedeutsame: Die Herbeizitierung kultureller Begründungen ist auch dort falsch, wo sie zutreffen: Parallelkultur ist alle Kultur, weil es keine Kultur als solche gibt, es sei denn als Staatskultur. Und die soll jetzt gebildet werden. Der Unterschied von Fremdem und Trautem wird zu ihrer Machtbegründung. Wenn es schon eine deutsche Kultur geben sollte, dann muss sie auch schon mal dem deutschen Staat nützlich sein, zum Staatserhalt taugen.

Fremdes als solches gibt es ja eigentlich nicht, wenn man Tag für Tag miteinander zu tun hat. Es gibt lediglich Unbekanntes, zum Beispiel andere Religionen. Und ohne dass man dazu Näheres weiß und kennt, hat man vor allem Vorurteile. Zum Beispiel die Frauenfeindlichkeit im Islam. Aber die ist auch nicht wesentlich anders als die des Katholizismus. Hier ist man lediglich an die schmerzensreiche Mutter des Dornengekrönten durch das Marienbild und die Sexualethik der Kirche gewohnt. Und dieses wird von einem Papst vertreten, der sich allgemeiner Beliebtheit erfreut. Die Frauenfeindlichkeit des Islams aber steht schlicht für das Andere, das Fremde, das sich mit dem uns Vertrauten gar nicht mehr vergleichen lassen können soll und von seinem negativen Eindruck her besser ausbreiten lässt. Oder das Thema Terrorismus: Wenn Ausländer als potenzielle Kulturkämpfer hingestellt werden, so entbehrt das jeder Grundlage. Es ist die Schutzbehauptung gegen ihre Kultur, die für das Anderssein steht, die als Bedrohung der Sicherheit aufgefasst werden muss, um Disziplin durch Kultur zu erheischen. Es sollen Feinde benannt werden, um vorgreifende Disziplinierungsmaßnahmen des Staates zu untermauern. Die Rechtsmittel reichen schon lange aus, um jeden Terroristen dingfest zu machen. Es geht gegen die Freiheit der Kultur überhaupt, um ihre Beugung für politische Eingriffe, um die Kultivation der Staatsgewalt, die vor allem zur Erhöhung der Leistungsbereitschaft dienen soll.

Leitkultur macht Kultur überhaupt erst zu einem Wert, der politische Funktion hat und mit dem der Staat sein politisches Eingreifen in die Lebensstandards unterlegt. Er will dort Einstellungen und Anschauungen ändern, um neue "Gewohnheiten" einzurichten, Ziele zu formulieren und diese auch umzusetzen. Es geht ihm um Leitkultur als Leistungskultur, Herrichtung eines völkischen Selbstverständnisses zum Hinhalten der Bevölkerung an die Bedürfnisse der Kapitalwirtschaft. Der Staat wird hierfür nicht aus ideologischen Überzeugungen tätig, auch nicht aus einer Verschwörung mit Interessen des Kapitals, sondern aus der vollen Überzeugung, die ihm seine Sachzwänge aufgeben, dass nur hierüber die Nation zu retten ist. Der Wille seiner Politik zielt notwendig nach rechts, weil der Rechtsstaat eine Ordnung hat, die ihre Grundlagen durch ökonomische und soziale Prozesse zu verlieren droht, weil die ökonomischen Zwänge sich längst nicht mehr in gewöhnlichen Kreisläufen bewegen, sondern sich eine Wertmasse gebildet hat, die alles an Aufwand erfordert, was Menschen erbringen können, um ihre Selbstverwertung in Gang zu halten. Der Staat erfährt das zwar "nur" als Forderung von verschiedenen Seiten, von seinen Gläubigern, seinen Unternehmungen, seinen Instituten und seinen Bürgern. Aber es gibt für ihn keine andere Möglichkeit aus der Zusammenrechnung all dieser Bedrängnisse, als das zu tun, was die "Wirtschaft wieder in Gang setzt", und sei es ein Krieg.

Für all dies braucht er neue Hoheitsrechte, und seien es erst mal auch nur ideelle. Der Staatswille formiert sich zum Kulturanliegen einer Leitkultur und meint damit eine "Leistungskultur", die als allgemeine Selbstverständlichkeit gelten soll, damit die Bürger dem Staat etwas schuldig sind, sich auch wieder zu "kleinen Opfern" bereit finden, zu Mehrarbeit. Denn nur die erzeugt Mehrwert. Und den muss der Staat aus der Wiederbelebung des Binnenmarktes schöpfen, um von seiner Schuldenlast herunter zu kommen. Solche Kultur will einfach führendes Selbstverständnis sein, der Staat im Kopf der Menschen, durch den es keinen wirklichen Staatseingriff mehr braucht. Entsprechende Gesetze können dann "wie von selbst" entstehen, weil sie einfach nötig gelten, um Disziplinierungen "gerecht" zu verteilen – z.B. die Arbeitsentwertung durch Billigjobs, die Abhörgesetze, die Datenkontrolle und die Einblicksrechte der Ämter in die Kontenführung und Buchhaltung. Es ist die Grundlage für den gläsernen Bürger, die in der Vermengung von Leistungskultur mit Führungskultur geschaffen wird. Natürlich hat solche Führungskultur nichts mit Kultur zu tun. Es ist Kultur im Staatsgebrauch als Disziplinierungsmittel für die Bevölkerung. Und für diese wäre es gut, das zu erkennen und zu begreifen. Jedoch gibt es zugleich auch kulturelle Prozesse, die solche Erkenntnis erschweren.

 

Patriotismus, das ist Fremdkultur!

Welcher Politiker stellt sich gerne gegen seine Wähler oder outet sich freiwillig als Hampelmann kapitalistischer Verwertungsinteressen? Eine politische Klasse, die ihrem Wahlvolk etwas abverlangen muss, kann ihm nicht ohne Beschädigung ihrer Kompetenz als Dirigent, Gestalter und Problemlöser der nationalen und internationalen Verhältnisse dies so vermitteln, wie es ist. "Geld oder Leben" stellen nur Räuber und Mörder zur Alternative. Die Politiker und Politikerinnen müssen jetzt als Vertreter eines Ganzen auftreten, das auch einen Anspruch auf Unterstützung hat, auch wenn es als ökonomisches Ganzes nicht mehr funktioniert. Es geht daher um das Kulturelle, wie es die Politik versteht, um die ganze politische Kulturhohheit. Patriotismus ist nur ein Wort, das so etwas wie ein Liebesverständnis für die Anliegen einer Kulturgemeinschaft erbringen soll, die mit den Anliegen des Staates gleichgesetzt wird. Am besten, wenn es sich als kulturelle Notwendigkeit des "Heimatlandes" herstellen lässt. Und das geschieht durch die Bedrohung derselben durch große Not, durch Armut durch Entfremdung. Da mag es der Wirtschaft ruhig auch gut gehen. Wahr bleibt, dass Armut sich ausbreitet und mit ihr Gewalt und Konflikte mit den Fremden, die meist arm sind. Entfremdung von unserem Gemeinwesen erfahren wir ja alle irgendwie. Aber es muss nicht unbedingt unser Problem sein. Denn Fremdheit entsteht ja vor allem durch die Fremden, nicht nur die Ausländer, sondern auch die, die sich dem Anliegen der Heimat entfremdet haben. Es geht um den inneren Feind, der für die Armut schuld haben soll.

Kapital braucht Armut in dem Maße, wie sie diese erzeugt. Wertabschöpfung entsteht durch die Kapitalkonzentration auf der einen Seite und durch die Mehrarbeit auf der anderen, Arbeit, die ihren Wert nur für das Kapital hat. Um den Wert seiner Produkte zu realisieren, benötigt Wertwachstum auch ein beständiges Wachstum der Bevölkerung. Je mehr Besitzlose auf seine Produkte angewiesen sind, desto besser lässt sich Kapital umsetzen. So ist ihm das Wachstum einer armen Bevölkerungsschicht nötig, die für relativ geringen Lohn arbeitet, z.B. auch solche, die aus noch größerer Armut entflohen ist. Das hatte dazu geführt, dass immer mehr Ausländer angezogen wurden, zumal die Geburtenrate der Deutschen zugleich sank. Sie boten außerdem den "Vorteil für das System", dass sie politisch nicht integriert und sie daher auch nach Maßgabe des Bedarfs in ihrem Gebrauch angezogen oder abgestoßen werden konnten. Besonders gut war eben, dass sie nicht zu "unserer Kultur" gehörten, dass sie durch ihre Sorge um die wirtschaftliche Lage ihrer Familien im Ausland gezwungen waren, alles zu tun, was ihnen irgend möglich ist.

Inzwischen sind Ausländer längst regulärer Bestandteil der deutschen Bevölkerung. Doch jetzt geraten auch sie in den Kreis der Betroffenen der Rezession, werden zu Empfängern von Sozialleistungen. So war das nicht gedacht, denn diese Leistungen sollte der Sozialkultur der Deutschen geschuldet sein. Die Ausländer waren beworben für Arbeiten, zu denen die deutschen Arbeitskräfte nicht hinreichten oder zu teuer waren. Jetzt werden sie zum Teil selbst zu "überflüssigen Arbeitskräften" und sollten zu diesem Teil am besten wieder abgestoßen werden. Hierfür zählt man jetzt ihre "kulturellen Nachteile" auf: Sprachschwierigkeiten, kulturelle Abschottung (Parallelgesellschaft), Aufhebung eines allgemeinen kulturellen Mittelpunkts. Helmut Schmidt sagt heute, "wir hätten sie nicht holen sollen". Damals hatte er sie dringend gebraucht. Wir hätten ohne sie die wirtschaftlichen Probleme, die Krise der 70ger Jahre nicht lösen können und könnten auch heute ohne sie nicht auskommen. Aber jetzt haben wir wieder Probleme mit unserer Wirtschaft, mit den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie, mit der es uns doch mal so gut gegangen war. Also muss jetzt auch ein Teil der Deutschen daran erinnert werden, dass ihre Arbeit nicht teuer sein darf, dass soziale Leistung etwas kostet, dass man sich den Sozialstaat abschminken kann, wenn man dafür nicht auch seine Ansprüche senkt, dass man bereit ist, einen Teil der Lebensumstände von Ausländern auf sich zu nehmen (z.B. Zumutbarkeit von jeder Arbeit an jedem Ort, Billigarbeit um praktisch jeden Preis, Auflösung von Tarifbindungen). Die Armut schwappt auch auf die Deutschen über, denen die Arbeitslosenhilfe bislang noch gegönnt war.

Leitkultur ist nicht nur ein ideologischer Appell an Ausländer; sie gilt der Armut überhaupt. Auch wir sollen uns besser herrichten, um in den "Genuss von Arbeit und Brot" zu kommen und nicht einfach nur Ansprüche an den Staat stellen und seine Sozialleistungen "verantwortunglos ausschlachten" (Gerhard Schröder). Ohne ein kultiviertes Verhältnis zu diesem Hüter des Ganzen, des Heils, des Grahls der Krisenbewältigung, geht nichts mehr weiter. Der Staat führt sich als Kultursubjekt auf, weil er die Armut kontrollieren und besser steuern will. Wir sind nicht mehr die, welche ihn bilden, wenn wir hierein geraten. Es geht um seine Notlage als Ganzes, dessen Augenmerk auf die Armutsverwaltung gerichtet ist. Das Ganze als "Vaterland" besteht aus der Macht des Reichtums. Die Vaterlandsliebe wird von den Armen gefordert.

Es geht darum, dass wir unsere Ansprüche an den Staat zurücknehmen, dass wir ihn als Retter unserer ganzen Lebensverhältnisse ansehen sollen, als einzigen Garanten zur Auflösung der Sorgen, die Kapitalverwertung nun mal so mit sich bringt: Arbeitslosigkeit, Armut, Zukunfssorgen, überflüssige Menschen, relative Überbevölkerung der Alten, wie es die Demografie begriffen haben will. Wir sollen ihn als so was wie einen Lebensgaranten ansehen: Wie einen Vater eben, Vaterland, Garant unserer Kultur, derweil er nichts anderes besorgt, als die Kultur des Kapitals, als die politische Kultur, absolute Fremdkultur. Und die gilt jetzt als bedroht. Die auftauchenden Untergangstheorien lassen es überall durchscheinen: Wenn wir nicht "zu unserem Staat" stehen, werden wir alle verlieren. Er sei alles hiergegen, und das seien ja eben vor allem wir selbst. Patriotismus, das meint eben das Bewusstsein einer Nation gemeinsinniger Menschen, die ihm als seine Kinder anhängen und in ihrer Gesinnung immer anhänglicher werden und derweil in ihrem Lebensstandard abbauen, eben als Opfer an diesen Vater.

 

Die Kinder des Vaterlands

Es geht nicht um Kultur, es geht um Politik, wenn von Leitkultur und Vaterlandsliebe die Rede ist, um Politik mit Kultur. Es soll kein Nationalismus sein, denn der sei keine Liebe, sondern ein Machtanspruch. Doch so verschieden ist das nicht. Wenn man etwas liebt, was pure Macht bedeutet, so ist der Machtanspruch impliziert. Das Scharfmachen der nationalistischen Zeitbombe hatte immer mit Patriotismus begonnen. Er meint doch auch Abweisung von dem, was nicht patriotisch ist: Die Bedürftigkeit, die Ohnmacht, die Armut, der soziale Anspruch. Mit Patriotismus will sich "Vater Staat" mächtig machen – und natürlich werden sich alle mächtig fühlen, die dem folgen.

Vermittelst der damit begründeten politischen Macht will der Staat "aufräumen" mit dem was unwertig für das Staatsinteresse ist, und das ist die Lieferung von Mehrarbeit an seine Gläubiger, ganz einfaches Kapitalinteresse. Damit drängt der Staat darauf hin, dass alle Ressourcen der Verwertbarkeit für den Systemerhalt durch Drosselung des staatlichen Sozialvermögens und Ausrichtung der Sozialleistungen auf nationalpolitische Zwecke ausgeschöpft und optimiert werden. Indem diese nur noch als Kostenfaktor reflektiert werden, wird ein ganzes Volk zum Spielball eines wirtschaftspolitischen Kraftakts, der ihm als Heilsnotwendigkeit von Kulturpolitik erklärt wird.

Dies funktioniert darüber, dass die Kultur als eine gesellschaftliche Allgemeinheit genommen wird, woraus unser ganzes geschichtlich gebildetes Vermögen besteht, wie ein Subjekt bürgerlicher Wesenheit, das bedroht ist von verschiedenen Unwesen. Darin kann sich jeder einzelne auch immer wiedererkennen. Es ist wie das allgemeine Spiegelbild seiner einzelnen Bedürftigkeit, Geschichten und Beziehungen. Darin ist er wirklich aufgehoben im vielfachen Sinne: Aufbewahrt als Mensch in allgemeinem Sinn, untergegangen als Individuum im besonderen Sinn und von den Niederungen seiner isolierten Existenz befreit, erhaben im sozialen Sinn. Kultur ist ja in der Tat menschliche Subjektivität. Doch für den Staat ist sie objektiv: Darin gilt ihm menschliche Subjektivität als Objekt seiner Politik, als Mittel einer allgemeinen Notwendigkeit, dem sich die einzelnen Menschen beugen müssen, um sich als allgemeine und abstrakte Menschen durch "Vater Staat" geschützt und erhalten zu können. Durch ihn wird jeder Mensch zum abstrakten Menschen, der aber durch eine persönliche Beziehung zu ihm die Welt als persönliches Erlebnis erfährt. In der allgemeinen Objektivität dieses persönlichen In-der-Welt-seins verliert er seine wirkliche Subjektivität in den allgemeinen Notwendigkeiten des Sachzwangs. Das ist nicht nur ein Phänomen des Bewusstseins, das wird ihm zu seiner Wirklichkeit.

Dem Kind des Vaterlands wird Subjektivität entwendet, indem sich seine ganze Erfahrung von Notwendigkeiten gegen es wendet. Da breiten sich die weltlichen Gefahren mächtig aus und bestärken seine Ohnmacht: Jedes Weltereignis wird ihm zu seiner Not, Gewalt und Macht entfremdeter Lebensverhältnisse zur Unausweichlichkeit seiner Selbsterfahrung, Kriminalität, Terrorismus und Multikulturismus zur eigenen Bedrohung. In der Gleichsetzung von kulturellen Problemen mit der politischen Wendung des Staates an die Menschen wird politische Kultur vollzogen: Nicht die Herkunft dieser Probleme und ihre Wirklichkeit interessiert, sondern ihre Vermeidung und Überwältigung.

Der Staat verhält sich jetzt selbst als Kritiker seiner Gesellschaftsform. Er kritisiert die Unverträglichkeiten, die Widersprüche, die persönlichen Mächtigkeiten des Kapitals und er wendet sich gegen die Anarchie der bürgerlichen Lebensverhältnisse. Er ist wie die bürgerliche Ökonomie und Kultur Produkt und Bestandteil dieser Verhältnisse, aber er behauptet sich jetzt durch ihre Handhabung. Natürlich vollzieht er die weiterhin ökonomisch und kulturell, aber eben nur noch zum Nutzen ihrer Totalität. Nicht die Bildungsprozesse darin sind die Momente, die sein Handeln begründen, sondern die totale Form für sich: Die Formation des Kapitals als Sachzwang, die Formation der Kultur als Kulturmacht. Er wird zum Kulturstaat.

Patriotismus ist von daher das ursprünglichste Entwicklungsmoment von Faschismus. Der ist nichts anderes als die Bündelung der Gewalt, welche die Krisen der kapitalistischen Gesellschaft durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen hervorrufen. Der Faschismus ist eine Gesellschaftskritik, die sich gegen wirkliche Gesellschaft wendet, die alle zerstörenden Formen des Kapitals und der Kultur angreifen und vermengt, das Kapital als Kulturphänomen begreift und Kultur als Kapital, und beides durch Staatskultur kritisiert. Faschismus ist das antibürgerliche Bürgertum, das sich selbst als Macht gegen die Verhältnisse errichtet, von denen es zehrt, absoluter Besitz an ihrer Geschichte und Entwicklung.

Der Staat fungiert darin als Erzieher. Die Gesetze bekommen einen neuen Zweck: Nicht nur Verteilung und Gerechtigkeit steht darin an, sondern ein dubioses Gemeinwohl, das die gemeine Existenz bestimmt, sie diszipliniert, sie einordnet zum Teil eines gemeinschaftlichen Daseins ohne wirkliches Sein, zum Körperteil eines Volks und schließlich auch zur Gesinnung des Volksganzen, zur Volksseele.

Davon sind wir noch weit entfernt. Dennoch ist nötig, darauf hinzuweisen, dass die Entwicklung dahin eingeschlagen ist, wenn die Prognosen der Volkswirtschaft eine Handhabung der Sozialpolitik durch erzieherischen Maßnahmen bewältigen wollen. Das war wohl auch schon der staatspädagogische Kern von Hartz IV (siehe http://kulturkritik.net/oekonomie/hartz/index.html): Die staatliche Disziplinierung der Armut durch Verabsolutierung ihrer Existenzangst soll vor allem das Fortbestehen einer Kapitalentwicklung sichern, die nur noch immer mehr Armut und Krisen erzeugen kann, immer mehr Armut verwalten und immer weniger Reichtum vermitteln will. Auch wenn dies massenpsychologisch erst mal mit Patriotismus vorbereitet wird, so wird der hierfür nötige Gewalteinsatz zunehmend aus den Beweggründen eines neuen Nationalismus gespeist werden.

Die linken Postfordisten an der Regierungsmacht versuchen es noch aufzuhalten. Aber die regieren nicht mehr lang. Nationalisten werden sich bald damit stark machen, überall Nestbeschmutzer und Kulturfeinde zu wittern und Parasiten und Kriminelle und Terroristen, wo die eigenen Probleme nicht mehr wirklich angegangen werden sollen oder können, aber Unwirklichkeit als Mittel der Macht, als Ausweg für Machtbedürfnisse dient. Es ist deren Hinterhalt, Macht durch die Erscheinungsweisen wirtschaftlicher Not zu erwerben, durch den Vorhalt von Gefahren, die von ihr ausgehen, und sich als Heilsprinzip einer bedrohten Welt aufzubauen, an das eigentlich Gesunde zu appellieren, das krank geworden sei, weil es durch Fremdes gekränkt wäre. Dies verlangt eine besondere Vaterlandsliebe, eine, die nicht nur Leitkultur ist, sondern die dadurch Macht haben will, das sie selbst eine Heilserwartung verkörpert, eine Lösung gegen alle Gefährdungen böser Wirklichkeit erbringen soll. Nur mit dieser nämlich kann Wirklichkeit beherrscht werden, die in sich selbst aufgelöst ist. Vaterlandsliebe, das ist in diesem Sinne die Kulturhoheit eines Vaters für das Land. Das Land wird so zur Familie, zum seelischen Rückhalt der Bevölkerung. Nicht ohne Grund war "Vater Staat" und "Mutter Erde" der Inbegriff von Ursprünglichkeit, die Vorstellung einer Endlösung, einer naturalisierten Eintracht des Volkskörpers, Volksgesundheit als Heilsbewegung, Beseitigung der Entfremdung.

Das spricht besonders die seelischen Bedürfnisse identitätsloser Menschen an, die ihre Lebensangst und Selbstentfremdung in gesellschaftspolitischem Umfang aufgehoben haben wollen. Die gibt es inzwischen wieder zur Genüge, denn dies ist ja selbst eine Erscheinungsform des Problems: Wenn der Lebensalltag, vor allem die Arbeit und die zwischenmenschlichen Beziehungen, paralysiert und sinnentleert sind, dann entsteht Bedarf an etwas Sinnvollem, das über ihn hinausragt, etwas schier Übersinnliches, das Sinn macht - und dafür reicht schon ein Bekenntnis, die große Bestätigung von Gemeinsinn und die Vergemeinschaftung eines quasi seelischen Interesses: Vertrauen in sich selbst durch Misstrauen gegen Fremdes, gegen das Raunen des Unheils. Da entsteht Zugehörigkeit, Symbiose, oft auch Hörigkeit, denn es erzeugt Masse, Seelenmasse, eine Volksseele anhänglicher Menschen. Und sei dies auch nur eine Prothese, man kommt damit doch immerhin weiter.

Die Masse macht möglich, wozu einzelne Menschen nicht imstande wären: Selbsttäuschung durch Geisterbeschwörung. Das Fremde wird zum Geist der Entfremdung. Das Unheil bekommt Gesicht. Das komplexe wird einfach. Und dies macht dann die affirmative Antwort gegen die Zweifel am Wirtschaftsmechanismus der eigenen Gesellschaft aus und tritt zugleich auf als eine besondere Variante von Kapitalismuskritik: Es muss einen Schuldigen für die Probleme unserer Verhältnisse geben, einen Schadensverursacher, der mit unseren Interessen nichts gemein hat, der unserer Kultur abhold ist. So stellt dann die als Schuldfrage vermittelte Behauptung, dass es Schädlinge gebe, mit deren Behebung alle Probleme behoben seien, zugleich die viel einfachere Frage: Wer oder was schleppt dieses Unheil bei uns ein? Mit dieser Frage ist dann endlich die Antwort ausgesprochen, die man schon längst hatte, und damit ist das Heile geklärt, das Kranke benannt, und das Heil kann wieder dort gefunden werden, wo man es längst wusste: In den ursprünglichen Werten unserer Kultur. Also kann es nur um deren Gegenwärtigkeit gehen, um die Dominanz der Sitten und Gebräuche des Abendlandes und um seine Ethik. Heil mit dir, du Land der Deutschen mit deutscher Führungskultur und ausländischen "Mitbürgern" als Arbeitsgepäck. Nein, wegschicken will man die ja gar nicht! Ja, natürlich brauchen wir sie. Nur ihre Kultur, die können wir nicht brauchen, die ist schlecht verwertbar, weil sie keine Werte bestimmt, wie die unsere.

Wolfram Pfreundschuh

 

Quellen:

zu Staatsbankrott:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=staatsbankrott)

zu Bewertung:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=bewertung)

zu Patriotismus:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=patriotismus)

zu Unheil:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=unheil)

zu Masse:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=masse)

zu Nationalismus:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=nationalismus)

zu Gesinnung:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=gesinnung)

zu Fremdarbeit:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=fremdarbeit)

zu Fremdenfeindlichkeit:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=fremdenfeindlichkeit)

zu Rassismus:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=rassismus)

zu Ethik:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=ethik)

Ethikdiskussion in Kulturattac:
http://kulturkritik.net/forum_archiv/index_ethik.html

zu Heilsprinzip:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=heilsprinzip)

zu Kulturstaat:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=kulturstaat)

zu Nationalsozialismus:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=nationalsozialismus)