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Alte, veraltete und neue Antipsychiatrie
Zusammenfassung. Die Antipsychiatrie entwickelte sich seit den 60er Jahren von einer eher akademisch orientierten Disziplin zu einer neuen, im wesentlichen von Psychiatriebetroffenen getragenen Bewegung. In deren Mittelpunkt steht die Forderung nach nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten Alternativen zur Psychiatrie und nach Verzicht auf toxische Substanzen. Die Sozialpsychiatrie machte sich die Psychiatriekritik lediglich zunutze, um unter Ausblendung der Behandlungssch�den ein umfassendes, Rechtsverst��e und Langzeitsch�den beg�nstigendes System der Gemeindepsychiatrie aufzubauen. Die auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie l�uft angesichts vorhandener alternativer Konzepte Gefahr, trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu werden.
Summary: Since the 60s antipsychiatry has evolved from a more academically orientated discipline towards a new movement, mainly led by (ex-)users and survivors of psychiatry. Its key issue is the demand for user-run and user-controlled alternatives to psychiatry and for rejection of toxic drugs. Ignoring treatment damages social-psychiatry only used the criticism of psychiatry to built a comprehensive system of community psychiatry, which is favouring juridical assault and long-time damages. In spite of radical positions the old antipsychiatry that makes no headway runs the risk of becoming an obstacle to progress in view of present alternative concepts.
Die Antipsychiatrie der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde im wesentlichen von Psychiatern wie zum Beispiel Ronald D. Laing und David Cooper vertreten. Diese machten deutlich, da� es f�r psychiatrische Diagnosen keine objektiven klinischen Kriterien gibt und sogenannte Schizophrenien lediglich Versuche sind, unter unertr�glichen Familienbedingungen und kapitalistischen Ausbeutungsverh�ltnissen psychisch zu �berleben. Wenn auch dem patriarchalischen Denken verhaftet, schufen sie doch die Grundlagen der neueren Entwicklung der Psychiatriekritik. Der konservative US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz leitete die historische Entwicklung der Psychiatrie aus der Hexenverfolgung ab und legte die moderne psychiatrische Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit blo� sowie die psychiatrische Lehre als gr��ten wissenschaftlichen Betrug dieses Jahrhunderts.
In der BRD traten mit der 68er Studentenbewegung noch andere akademisch orientierte Kritiker auf, die sich aufgrund ihrer rein theoretischen und wiederum m�nnlichen Orientierung unf�hig zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Psychiatriebetroffenen erwiesen – mit Ausnahme der Sozialistischen Selbsthilfe e.V. K�ln, einem Wohn- und Arbeitskollektiv mit ehemals schlagkr�ftigen Aktionen gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen.
Den Schwung der Psychiatriekritik nutzten sozialpsychiatrische ReformerInnen (�Aufl�sung der Gro�kliniken�), die von der sogenannten demokratischen Psychiatrie des Italieners Franco Basaglia inspiriert wurden, um das System der Psychiatrie zu verdoppeln: Die Anstalten wurden verkleinert und baulich renoviert, psychiatrische Abteilungen an Krankenh�usern sowie ein umfassendes System der Gemeindepsychiatrie mit unterschiedlichsten Einrichtungen neu geschaffen. Den Betroffenen gelingt kaum noch der Ausstieg aus diesem Komplettsystem, das auf der Verabreichung von psychiatrischen ›Medikamenten‹ mit mehrw�chiger Halbwertzeit basiert, den Depotneuroleptika.
Besonders diese neurotoxischen Psychodrogen k�nnen katastrophale Sch�den verursachen. In einer Studie von 1991 �ber eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch behandelter und zum Teil in ›betreutem‹ Einzelwohnen oder ›therapeutischen‹ Wohngemeinschaften lebender BerlinerInnen sprach eine Autorengruppe von einem durchschnittlichen Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien. Dies sind veitstanzartige und von anhaltenden und schmerzhaften Kr�mpfen begleitete Muskel- und Bewegungsst�rungen, die im Laufe der Behandlung, beim Absetzen oder danach im Gesicht, am Rumpf oder an den Extremit�ten auftreten, nicht behandelbar sind, sozial stigmatisieren und mit einer Verk�rzung der Lebenserwartung einhergehen (Lehmann 1996b, S. 208 ff.).
Aufgrund der neuroleptika- und antidepressivabedingten Langzeitsch�den kommt auch der im italienischen Faschismus von Schweineschlachth�usern abgeguckte Elektroschock wieder verst�rkt in Gebrauch. Mit ihm werden in den Gehirnen der Behandelten – zu 80% Frauen – epileptische Anf�lle ausgel�st, was irreversible massive Nervenzellausf�lle bewirkt (Lehmann 1996a, S. 20ff.; Frank 1996). Reaktion auch der fortschrittlichen Reformpsychiater: Schweigen (Lehmann 2001). Ein ebenso lautes Schweigen schwappt einem entgegen, wenn man sie um ihre Meinung zu der vom Europarat geplanten Ethikerkl�rung zu den Rechten Zwangspsychiatrisierter befragt, die unter anderem eine gewaltsame Neuroleptikaverabreichung inner- und au�erhalb von Anstalten sowie gewaltsame Elektroschocks legalisieren soll (Arbeitskreis des Steering Committee on Bioethics des Europarates 2000).
Mit einer Vielzahl von gut bezahlten Arbeitspl�tzen und Teilhabe an der Machtaus�bung korrumpiert das psychiatrische System die MitarbeiterInnen. Obwohl die Langzeitsch�den von Elektroschocks oder Neuroleptika himmelschreiend sind, bleiben die psychiatrisch T�tigen in aller Regel stumm, die politisch Verantwortlichen in den Parteien und den Gesundheitsb�rokratien tatenlos und die Betroffenen verloren, sofern sie sich nicht zusammenschlie�en.
Ein Vierteljahrhundert, nachdem dissidente Psychiater ihre Wissenschaft als Antipsychiatrie neu erfanden, artikuliert sich seit den fr�hen achtziger Jahren zunehmend eine radikale Kritik, die als neue Antipsychiatrie bezeichnet werden kann. Sie wird nicht von Professionellen getragen, die f�r und �ber ›psychisch Kranke‹ reden wollen, sondern von Psychiatriebetroffenen, die sich auf allgemeine Menschenrechtserkl�rungen berufen und die wissen, da� es Geisteskrankheiten (im Gegensatz zu Hirnkrankheiten) als medizinische Komplexe mit kategorisierbaren Ursachen, Verl�ufen und Prognosen nicht gibt. Sie wollen die Psychiatrie nicht reformieren, sondern ein System mitmenschlicher Hilfeleistung f�r Menschen in psychischen Notlagen sozialer Natur entwickeln, neue – mehr oder weniger institutionelle – Formen des Lebens mit Verr�cktheit und Andersartigkeit. Sie setzen sich zudem ein f�r deren rechtliche Gleichstellung mit gesunden sowie kranken Normalen (d.h. straffreie Behandlung nur nach informierter Zustimmung auf Grundlage des allgemeing�ltigen und von der Haltung zur Psychiatrie unabh�ngigen Menschenrechts auf k�rperliche Unversehrtheit), f�r ihre Organisierung und die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen, f�r die Unterst�tzung beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka, f�r die �chtung von Elektroschocks sowie den Schutz vor ambulanter Zwangsbehandlung, die durch den Ausbau der Gemeindepsychiatrie beg�nstigt wird.
Ein prominenter Vertreter der neuen Antipsychiatrie ist der D�ne Karl Bach Jensen, ehemaliger Vorsitzender des Europ�ischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen. Er brachte 1998 die Position der neuen Antipsychiatrie auf den Punkt:
�Das �berkommene Konzept der psychischen Krankheit und des Bedarfs an synthetischen Psychopharmaka abzulehnen, speziell wenn sie �ber lange Zeit oder gar lebensl�nglich verordnet werden, kann nat�rlich nicht hei�en, die Augen zuzumachen vor den realen Problemen, die viele Menschen haben. Ich will keineswegs darauf hinaus, da� wir uns um andere, wenn sie verr�ckt werden, etwa gar nicht k�mmern sollten, da� die Leute eingesperrt und allein gelassen werden sollten.
Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer Dienste w�rde darin bestehen, Menschen bei der Bew�ltigung ihrer Probleme zu helfen – unter anderem durch gegenseitige Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative Medizin, gesunde Ern�hrung, nat�rliche Heilverfahren und spirituelle �bungen. Die alternative Arzneimittelkunde hat beispielsweise ein gro�es Wissen �ber die Wirkung von Kr�utern und Hom�opathika, die dem K�rper und der Psyche helfen k�nnen, Entspannung zu finden und das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Mit solchen Dingen kann man m�glicherweise nicht so viel Geld verdienen, doch sie sind es, die Zukunft haben.
In diesem Feld k�nnen Psychiatriebetroffene eine wichtige Rolle als MitarbeiterInnen und RatgeberInnen spielen, denn sie haben das Wissen dar�ber, was ihnen geholfen hat. Solche mit einer positiven Subkultur_Identit�t und W�rde verbundenen Dienste k�nnen von der Allgemeinheit zur Verf�gung gestellt werden oder, mit �ffentlicher finanzieller Unterst�tzung, von der Betroffenenbewegung selbst, wobei Menschen einfach ein Ort gegeben w�rde, sich zu treffen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Falls Menschen eingesperrt werden m�ssen, um ihnen das Leben zu retten oder um sie davon abzuhalten, anderen ernsthaften Schaden zuzuf�gen, sollte niemand das Recht haben, ihnen irgendeine Art von Behandlung aufzuzwingen. Zum Schutz vor Zwangsbehandlung sollten Psychiatrische Testamente oder andere Vorausverf�gungen (in denen steht, welche Form der Behandlung eine Person w�nscht oder nicht w�nscht, falls es zu einer Zwangseinweisung kommt) in allen Staaten und L�ndern rechtskr�ftig werden.
Alternative Systeme und dezentrale Dienste m��ten sich um die Bed�rfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen in einer Weise k�mmern, da� der Gebrauch von synthetischen und giftigen psychiatrischen Psychopharmaka minimiert und auf lange Sicht �berfl�ssig wird.
Einen integrierten Teil eines zuk�nftigen, �kologisch und humanistisch ausgerichteten Gesellschaftssystems stellt der Verzicht auf toxische Stoffe in der Natur, im Wohnbereich, in der Ern�hrung und in der Medizin dar. Der Verzicht auf den Einsatz chemischer Gifte im psychosozialen Bereich k�nnte unter folgenden Gesichtspunkten entwickelt werden:
Die neue Antipsychiatrie in Deutschland wurde im wesentlichen von der Berliner Selbsthilfeorganisation Irren-Offensive e.V. entwickelt. Schon kurz nach ihrer Gr�ndung 1980 hatten ihre Mitglieder, AkademikerInnen wie NichtakademikerInnen, Frauen wie M�nner, den entwertenden Krankheitsbegriff �ber Bord geworfen. All die Schritte der ›alten‹ Irren-Offensive, nachzulesen in Tina St�ckles Buch �Die Irren-Offensive – M�glichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer Selbsthilfe� (St�ckle 1983, 2000), sind inzwischen auch von einigen neugegr�ndeten Gruppen in anderen St�dten nachvollzogen worden oder werden zumindest teilweise angestrebt:
(Nichtangeleitete) Selbsthilfe zur L�sung psychischer Probleme und Verarbeitung verr�ckter (›psychotischer‹) Erfahrungen – unter Verneinung der Zust�ndigkeit von MedizinerInnen und unter Abwehr sexistischer Verhaltens- und Denkweisen
Veraltete und neue Antipsychiatrie im Konflikt
Letztlich spiegelt sich in der Entwicklung der Irren-Offensive in den letzten zw�lf Jahren der Konflikt zwischen alter und neuer Antipsychiatrie. Nahezu alle ehemals antipsychiatrisch aktiven Mitglieder dieser Gruppe wechselten Anfang der 90er Jahre zum Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und seinem Weglaufhausprojekt �ber, nachdem eine Reihe der damaligen Mitglieder zum Schritt von reiner Selbsthilfe hin zum Aufbau einer nutzerkontrollierten Alternative zur Psychiatrie ansetzten (Lehmann 1998). W�hrend das 1996 in Berlin er�ffnete Alternativprojekt durch seine Praxis Positionskl�rungen erm�glichte bzw. erzwang, blieben die bei reiner Psychiatriekritik stehengebliebenen Mitglieder der neuen Irren-Offensive letztlich auf dem Szasz'schen Entwicklungsstand verhaftet: mit der Abschaffung der Psychiatrie w�rden die Probleme psychiatrisierter Menschen verschwinden.
So war es ›zuf�llig‹ die Person von Thomas Szasz, an der sich am 1. Mai 1998 dieser Konflikt konkretisierte. Im Jahr zuvor hatte der erzkonservative und mit den Scientologen eng verquickte Psychiater in Berlin sein Buch �Grausames Mitleid� pr�sentiert. Darin stellte er Psychiatriebetroffene auf eine Stufe mit Verbrechern und Landstreichern und forderte den Verzicht auf jegliche sozialstaatliche T�tigkeit, das Wahlrecht nur f�r Steuerzahler, daf�r das Recht auf Armut, auf Obdachlosigkeit, Sucht und Drogentod f�r alle �brigen. Er formulierte unter anderem:
�Ein Individuum, das nicht produktiv werden kann oder will, mu� ein Abh�ngiger oder ein R�uber werden oder zugrunde gehen. (...) Einfach ausgedr�ckt, jemand, der Diabetes oder Bluthochdruck hat, ist nicht notwendigerweise unproduktiv oder kriminell, w�hrend Personen, bei denen Schizophrenie oder antisoziale Pers�nlichkeitsst�rung diagnostiziert wurde, typischerweise unproduktiv sind und sich h�ufig in einer Weise verhalten, die als gesellschaftsfeindlich oder kriminell bezeichnet wird. (...) Die simple Wahrheit ist, da� manche Menschen es vorziehen, ihr Geld nicht f�r eine Behausung aufzuwenden (sondern vielleicht lieber f�r den Kauf von Drogen), da� sie es ablehnen, bei Familienmitgliedern zu wohnen, die bereit w�ren sie aufzunehmen, und ein Leben in psychischer Krankheit, Verbrechen und Landstreicherei bevorzugen.� (Szsaz 1997, S. 213, 211, 140)
In seiner Presseerkl�rung zur Einladung zum �Foucault-Tribunal�, einem von der ›neuen‹ Irren-Offensive 1998 in Berlin veranstalteten Tribunal gegen die Psychiatrie, schrieb der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.:
�Sehr geehrte Damen und Herren von den Medien, wir m�chten unseren Unmut ausdr�cken dar�ber, da� beim ›Foucault-Tribunal‹ ausgerechnet Thomas Szasz als Vertreter der antipsychiatrischen Anklage auftreten soll bzw. sollte. Wir halten dies f�r einen Affront gegen�ber Psychiatriebetroffenen, die Strategien entwickeln, um die psychiatrische Bedrohung abzuwehren und M�glichkeiten echter Unterst�tzung f�r Menschen in psychischen Notlagen sozialer Natur zu schaffen, die sich f�r den politischen Zusammenschlu� mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen einsetzen sowie f�r neue Formen des Lebens mit Verr�cktheit, f�r Verr�ckten- und Weglaufh�user.
Dabei sind die historischen Verdienste von Thomas Szasz um die Kritik der Psychiatrie unbenommen. Allerdings hat er in letzter Zeit, speziell in seinem Buch ›Grausames Mitleid‹, eine immer drastischere Wendung unternommen in Richtung Primitivstkapitalismus (sinngem�� ›Rechte nur f�r diejenigen, die Geld machen‹), wobei er zuletzt diejenigen, die am Ende der sozialen Hierarchie stehen, n�mlich Psychiatriebetroffene und insbesondere wohnungslose Psychiatriebetroffene, als tendenziell kriminelle Sozialschmarotzer diffamiert und f�r die Abschaffung des Sozialstaats eintritt.
Am 1. Januar 1996 nahm das Weglaufhaus in Berlin-Reinickendorf seinen Betrieb auf. 13 obdachlose Psychiatriebetroffene, die das psychiatrische Netz verlassen haben und ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen wollen, finden f�r maximal ein halbes Jahr Unterkunft und Unterst�tzung bei der Bew�ltigung ihrer vielf�ltigen Probleme. Im Team arbeiten zehn Teilzeitkr�fte (unter anderem SozialarbeiterInnen, ehemalige Psychiatriebetroffene, PsychologInnen). Die MitarbeiterInnen und BewohnerInnen finden es absurd, Thomas Szasz als antipsychiatrisches Zugpferd einzuladen und ihm publizistische Gelegenheit zu geben, weiter Wasser auf die M�hlen derer zu kippen, die derzeit den Sozialstaat demontieren. Szasz steht mit seinen Aussagen diametral entgegengesetzt zu den existentiellen Bed�rfnissen vieler Psychiatriebetroffener nach sozialer Unterst�tzung. Insbesondere im Weglaufhaus, in dem weggelaufene wohnungslose Psychiatriebetroffene Unterst�tzung suchen, finanziert nach � 72 BSHG (›Hilfe in besonderen sozialen Schwierigkeiten‹), findet die Einladung von Thomas Szasz keinerlei Verst�ndnis. Unklar bleibt auch, wie Angeh�rige der Freien Universit�t Berlin, die gegen Mittelstreichung im Bildungswesen eintreten, hinter der Einladung eines Mannes stehen, der offenbar in den USA eine solche Mittelstreichung publizistisch unterst�tzt und anscheinend letztlich den gesamten Staat privatisieren m�chte – mit Ausnahme vielleicht von Gef�ngnissen, in die er am liebsten Psychiatriebetroffene gesteckt haben m�chte (...).
Wir werden nicht sprachlos zusehen, wie das – auch von uns – m�hevoll aufgebaute positive Image der neuen Antipsychiatrie zerst�rt wird von einigen Besserverdienenden, die m�glicherweise gerne einfach im Rampenlicht stehen m�chten und sich nicht um m�gliche Konsequenzen ihres Tuns f�r die sozial Schw�chsten k�mmern. Deshalb sehen wir uns gezwungen, mit unserer Kritik an die �ffentlichkeit zu gehen. (...) �brigens beschimpft Thomas Szasz nicht nur (Psychiater und) Psychiatriebetroffene als tendenzielle Feinde der Freiheit, sondern auch Kommunisten, Psychoanalytiker, Feministinnen und Laingianer.� (Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. 1998)
Die neue Antipsychiatrie in der Praxis
Wie die Ablehnung der psychiatrischen Ideologie den Blick auf die besonderen Bed�rfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen geradezu erzwingt – Empathie und Interesse f�r diese Menschen vorausgesetzt –, geht aus einem 2000 von Thilo von Trotha verfa�ten Diskussionspapier des Weglaufhausteams hervor. Mit seiner Reflexion reagierten die MitarbeiterInnen auf spezifische Fragen, die ihnen h�ufig vor allem von Professionellen aus anderen Einrichtungen gestellt werden, wenn diese mit dem Weglaufhaus konfrontiert werden. Das Papier setzt daher schon gewisse allgemeine Kenntnisse �ber das Projekt voraus und gibt, f�r sich allein genommen, kein vollst�ndiges und angemessenes Bild der Arbeit des Weglaufhauses, sondern beleuchtet nur einen sehr spezifischen Ausschnitt:
�Antipsychiatrie bedeutet f�r unsere t�gliche Praxis, da� im Weglaufhaus der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung, Entwicklung und St�rkung der Selbstbestimmung von psychiatrieerfahrenen Menschen liegt. Ma�geblich f�r die Unterst�tzung, die die BewohnerInnen des Weglaufhauses erfahren, sind die jeweils eigenen Vorstellungen der BewohnerInnen dar�ber, welche Formen der Beratung, der Hilfe und des Schutzes ihnen w�nschenswert erscheinen.
Der psychiatrische Krankheitsbegriff und die entsprechenden Diagnosen spielen f�r die Arbeit mit den BewohnerInnen keine Rolle und werden von den MitarbeiterInnen als Arbeitsgrundlage prinzipiell abgelehnt. Die BewohnerInnen gelten weder als krank, noch als fremdbestimmt, sondern bleiben f�r ihr Leben, f�r ihre Handlungen und �u�erungen selbst verantwortlich. Einer der zentralen antipsychiatrischen Positionen besteht in der �berzeugung, da� es psychische Krankheit als medizinische Kategorie nicht gibt und da� mit der Diagnostizierung einer solchen ›Krankheit‹ neue Probleme erst geschaffen werden, statt bei der L�sung der bestehenden zu helfen.
Diese Position leugnet jedoch nicht – wie h�ufig f�lschlich behauptet – den gro�en Bedarf an Unterst�tzung, Zuwendung und Beistand, den Menschen mit Erfahrungen von Verr�cktheit, in Lebenskrisen und in den damit einhergehenden sozialen Existenzn�ten haben, im Gegenteil: Die Ablehnung der psychiatrischen Raster erm�glicht �berhaupt erst einen unvoreingenommenen Blick auf die besonderen Schwierigkeiten der Einzelnen und f�hrt zu einer radikalen individuellen Anpassung der jeweiligen Formen der Unterst�tzung an die spezifische Situation der Betroffenen. Eine zentrale Aufgabe der MitarbeiterInnen des Weglaufhauses besteht unter diesen Voraussetzungen darin, die Balance zwischen der Hilfebed�rftigkeit und der Selbstverantwortung der BewohnerInnen immer wieder neu auszutarieren und Umgangsweisen zu finden, die beiden Aspekten so weit als irgend m�glich gerecht werden, ohne dabei auf allgemeine Richtlinien oder Patentrezepte zur�ckgreifen zu k�nnen. (...)
Der Tr�gerverein hat die Konzeption des Weglaufhauses als praxisbezogene und um die Erfahrungen der Selbsthilfebewegung bereicherte Umsetzung antipsychiatrischer Positionen der siebziger und achtziger Jahre entwickelt. Das Weglaufhaus konnte sich so zu einem besch�tzten Ort entwickeln, an dem die Betroffenen meistens zum ersten Mal die Gelegenheit haben, zwischen Alternativen zu w�hlen und konkrete psychiatriefreie Lebensentw�rfe auch praktisch zu erproben.
Ohne die antipsychiatrische Grundhaltung des Projekts und die daraus resultierende bewu�te konzeptionelle Abgrenzung von psychiatrischen Diskursen und Praktiken w�rde sich das Weglaufhaus in einer psychosozialen Landschaft, die in aller Regel eng mit der Psychiatrie zusammenarbeitet, nach kurzer Zeit in wesentlichen Aspekten nicht mehr von Einrichtungen des sozialpsychiatrischen Versorgungsangebots unterscheiden und damit als Alternative entfallen.
In den Alltag des Weglaufhauses flie�en antipsychiatrische Positionen unter anderem in folgende konkrete Verhaltens- und Arbeitsweisen ein:
Aus der antipsychiatrischen Kritik folgt keine eindeutige und detaillierte Handlungsanweisung f�r die Realisierung eines alternativen Ortes zur Bew�ltigung tiefgreifender sozialer und psychischer Krisen. Eine Institution, die lediglich Theorie und Praxis der Psychiatrie mit umgekehrten Vorzeichen zu ihrer eigenen machte, br�chte sich um die Chance, etwas ganz Anderes und Neues in ihre Praxis zu integrieren. Deshalb ist das Weglaufhaus ein auf der Grundlage dieser Kritik konzipierter gesch�tzter Ort, an dem die jeweiligen BewohnerInnen gemeinsam mit den MitarbeiterInnen und den Mitgliedern des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt die Praxis einer antipsychiatrischen Institution �berhaupt erst hervorbringen, entwickeln und immer wieder revidieren.� (Weglaufhaus �Villa St�ckle� 2000)
Vieles an Angeboten haben die wenigen antipsychiatrisch ausgerichteten Gruppen verst�ndlicherweise nicht zu bieten. Sie haben notorisch zu wenig Geld und zu wenig MitarbeiterInnen. Psychiatriekritische Gruppen werden in aller Regel von staatlicher F�rderung ausgeschlossen. Propsychiatrische Einrichtungen werden dagegen vom Staat und der Pharmaindustrie mit Milliardenbetr�gen bedacht. Anliegen aller psychiatriekritischer Gruppen ist es deshalb, mit Spenden oder aktivem Engagement unterst�tzt zu werden. Das mindeste ist, ihr humanistisches Anliegen zu respektieren: Menschen in psychischen N�ten sozialer Natur nicht weiter den Anspruch auf Unterst�tzung und Hilfe zu verwehren, nicht weiter stumm zuzuschauen, wie diese Menschen elektrogeschockt oder mit synthetischen Psychopharmaka ruhiggestellt und als psychisch krank und damit als gemeingef�hrlich und behandlungsbed�rftig, letztlich nicht mehr ernst zu nehmen, verunglimpft werden.
Nur wenn Psychiatriebetroffene in ihrem Streben nach Menschenrechten, rechtlicher Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen und nach finanzieller Absicherung und Unterst�tzung solidarisch unterst�tzt werden, kann sich an der jetzigen miserablen Situation etwas �ndern. Ein klarer Blick auf die bestehenden Probleme soll dabei helfen.
Angesichts der fortschreitenden Organisierung von Psychiatriebetroffenen und der Konkretisierung der von ihnen entwickelten alternativen Konzepte ger�t eine auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie in die Gefahr, sich trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu entwickeln. Die blo�e Kritik an psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen, und m�gen diese noch so drastisch sein, wird den Interessen und Problemen vieler Betroffener, die in ihren N�ten mangels Alternativen in der Psychiatrie Hilfe suchen, nicht mehr gerecht, wenn Alternativkonzepte und Organisationsformen der neuen Antipsychiatrie ignoriert werden.
Quellen
Arbeitskreis des Steering Committee on Bioethics des Europarates: �White Paper �ber den Schutz der Menschenrechte und der W�rde von Menschen, die an einer Geistes-St�rung leiden, insbesondere jener, welche als unfreiwillige Patienten in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind�, Diskussionspapier, Stra�burg, 3. Januar 2000; siehe http://www.bpe.berlinet.de/infopool/recht/initiativen/white_paper/text.htm
Bach Jensen, Karl: �Entgiftung – im gro�en wie im kleinen. F�r eine Kultur des Respekts�, in: Peter Lehmann (Hg): �Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern�, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998, S. 337 – 344
Frank, Leonard Roy: �Elektroschock�, in: Peter Lehmann: �Sch�ne neue Psychiatrie�, Band 1: �Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken�, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996, S. 287 – 319
Lehmann, Peter: �Blinde Flecken in der sozialpsychiatrischen Wahrnehmung�, in: Soziale Psychiatrie, 25. Jg. (2001), Nr. 1, S. 10 – 14
Lehmann, Peter: �Sch�ne neue Psychiatrie�, Band 1: �Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken�, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996a
Lehmann, Peter: �Sch�ne neue Psychiatrie�, Band 2: �Wie Psychopharmaka den K�rper ver�ndern�, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996b
Lehmann, Peter: �Zum Davonlaufen. Wie die Weglaufhausgruppe entstand�, in: Kerstin Kempker: �Flucht in die Wirklichkeit – Das Berliner Weglaufhaus�, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998, S. 30 – 37
St�ckle, Tina: �Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern�, Frankfurt a.M.: Extrabuchverlag 1983 (Wiederver�ffentlichung Berlin: Antipsychiatrieverlag 2000)
Szsaz, Thomas S.: �Grausames Mitleid. �ber die Aussonderung unerw�nschter Menschen�, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1997
Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. (Berlin): Presseerkl�rung zum �Foucault-Tribunal� vom 1. Mai 1998
Weglaufhaus �Villa St�ckle�: �Die Auswirkungen der antipsychiatrischen Konzeption auf die Arbeit im Weglaufhaus�, unver�ffentlichtes Manuskript, Berlin 2000
Peter Lehmann, Zabel-Krüger-Damm 183, D-13469 Berlin, Tel. +49-(0)30-85963706,
eMail mail@peter-lehmann.de, Internet www.peter-lehmann.de