Josef Zehentbauer / J�rgen H�rle (1986)

�ber die Aufl�sung der psychiatrischen Anstalten in Italien

�ber die sehr eindrucksvollen Erfolge der Neuen Psychiatrie und �ber die noch ungel�sten Probleme

 

Die meisten westdeutschen Psychiater behaupten, psychiatrische Krankenh�user seien dazu da, um "psychisch kranken" Patienten zu helfen, sie zu therapieren und zu heilen.

Aber: In Wahrheit ist es so, da� psychiatrische Anstalten und Kliniken dem Gro�teil der Patienten noch zus�tzlichen Schaden zuf�gen (durch Zwangsma�n�hmen, geschlossene Stationen, Elektroschock, Psychopharmaka) - die eigentlichen Ursachen psychischen Leidens bleiben fast unver�ndert bestehen!

Menschen, die lange Zeit in psychiatrischen Anstalten untergebracht sind, erleiden psychische St�rungen, die schlimmer sind, als die "Krankheit", die urspr�nglich zur Klinikeinweisung f�hrte. Franco Basaglia, ein italienischer Psychiater, von dern wesentliche Impulse f�r die Neue Psychiatrie ausgegangen sind, sagt hierzu: "Die mehr oder minder starke Regression dieser Patienten ist in unserem Augen nur das Ergebnis der Gewaltt�tigkeit, die in der Asyl-Situation, in den psychiatrischen Anstalten herrscht. Verantwortlich f�r den Zustand der Patienten sind die st�ndigen Demiitigungen, Pflichtverletzungen, Macht�bergriffe und die Gewalt der Institution gegen�ber den Patienten. "

Schonungslose Kritik an den Anstalten war der Anfang der Neuen Psychiatrie

Die Diskussionen �ber die unmenschlichen Zust�nde in den Irrenh�userrt und �ber die fragw�rdige Rolle der Psychiatrie haben in Italien seit Anfang der 60er Jahre dazu gef�hrt, da� immer mehr Menschen radikale Anderungen verlangten. Fortschrittliche Psychiatrie-Mitarbeiter, Studenten, einige Politiker, Patienten und Angeh�rige von Patienten machten durch zahlreiche Manifestationen, Flugbl�tter und andere Ver�ffentlichungen die Psychiatrie zu einem der wichtigen Themen.

Die jahrzehntelangen Schranken des Schweigens wurden niedergerissen. Es wurde klargemacht, da� psychisch abweichende Menschen vor allem deshalb eingesperrt werden, damit die �brige Gesellschaft sich nicht mit ihnen auseinandersetzen mu�.

Man betrachtete die psychischen St�rungen nicht mehr l�nger als unheilbare, k�rperliche Krankheiten, sondern vor allem als das Ergebnis der herrschenden sozialpolitischen und kulturellen Bedingungen.

Die wachsende Verbreitung dieser kritischen Psychiatrie wurde beg�nstigt durch die allgemeine Bereitschaft f�r politisch-soziale �nderungen um 1968 und durch die Unterst�tzung einiger roter Provinzregierungen, aber auch durch die Mitarbeit christlich-demokratischer Gruppierungen.

Ein gewisser H�hepunkt f�r die Bewegung der neuen demokratischen Psychiatrie war das Inkrafttreten eines Gesetzes im Jahre 1978, das die, Aufl�sung aller psychiatrischen Anstalten und die Errichtung alternativer Strukturen in den folgenden Jahren vorsah. Dieses auch im Ausland sehr bekannt gewordene Gesetz Nr. 180 ist sp�ter Teil einer allgemeinen Gesundheitsreform geworden, aber nach wie vor g�ltig! Obwohl konservative Kreise in den Regierungsparteien (zu denen auch die sozialistische Partei geh�rt) seit Jahren eine Versch�rfung der Psychiatriegesetze anstrebt, ist mit gro�er Wahrscheinlichkeit in n�chster Zeit nicht mit einer Gesetzes�nderung zu rechnen!

Radikale Reformen schon lange vor dem Gesetz Nr. 180

Der erste Versuch, sich kritisch mit der sog. Geisteskrankheit auseinanderzusetzen, wurde 1961 in Gorizia von einer Gruppe um Franco Basaglia unternommen: Geschlossene Stationen wurden ge�ffnet, Festbinden von Patienten wurde verboten, mit Psychopharmaka wurde extrem zur�ckhaltend urngegangen, bisher unbezahlte Patientenarbeit wurde honoriert, viele Patienten konnten entlassen werden und erhielten Hilfe f�r ein Leben au�erhalb der Anstaltsmauern. Auch die hierarchischen Beziehungen zwischen den �rzten, Schwestern, Pflegern und Patienten wurden in Frage gestellt, und zusammen mit den Patienten wurde versucht, eine neue Antwort zu finden auf das, was man als seelisches Leiden, psychische Abweichung, Verr�cktheit oder Wahnsinn bezeichnet.

Auch in einigen anderen Provinzen Italiens wurden �hnliche, radikale �nderungen durchgef�hrt. Etwa 1965 begann in Perugia eine allm�hliche �ffnung der psychiatrischen Anstalt, immer rnehr Anstaltsinsassen bekamen die M�glichkeit, in Wohngemeinschaften oder Apartements innerhalb der Altstadt einzuziehen; sp�ter wurden mehrere psychosoziale Au�enzentren errichtet. Perugia ist in Italien das �lteste Beispiel f�r eine allm�hliche erfolgreiche Aufl�sung einer psychiatrischen Anstalt.

In Turin entstand 1967 die "Associazione per la lotta alle malattie mentali" (Vereinigung f�r den Kampf gegen die Geisteskrankheiten), eine �berwiegend aus "Laien" zusammengesetzte Organisation, die durch ausgedehnte �ffentlichkeitsarbeit lilid durch Zusammenarbeit mit Studentenorganisationen die Kritik an der Psychiatrie mit Vehemenz vorantrieb.

W�hrend der 68er/69er Studenten- und Arbeiterrevolten besetzte in Parma eine Gruppe von Studenten und einigen Pflegern das dortige Irrenhaus �ber einen Monat lang - der Provinzverwaltung konnten schlie�lich weitreichende Verbesserungen abgetrotzt werden.

In Triest fing 1971 ein sehr enaacriertes Team um Franco Basaglia mit einer langfristigen"Entv�lkerung" des Irrenhauses an; schon ein Jahr vor der Psychiatrie-Reform wurden in Triest die Aufnahmestationen geschlossen, und es wurde das symbolische Ende der alten Anstalt von Triest erkl�rt.

Seit etwa 1970 begannen in mehreren Provinzen wesentliche Umstrukturierungen in der psychosozialen Versorgung, so z.B. in Ferrara, Reggion Emilia, Parma, Florenz usw. In dieser Zeit wurde auch die Organisation"Psichiatria Dem ocra tica " gegr�ndet, sie sollte als Sammelbbcken aller fortschrittlichen Psychiatrie-Mitarbeiter die begonnenen Reformen rasch vorantreiben.

Die noch junge Bewegung f�r eine Neue Psychiatrie wurde von Anfang an von den "linken" Parteien unterst�tzt, allen voran durch die kommunistische Partei; auch die fortschrittlichen Gewerkschaften bezogen eine �hnliche Haltung. Es mu� aber betont werden, da� ausgedehnte Psychiatriereformen auch in einigen Provinzen, wo die KPI nicht das Sagen hatte, durchgesetzt werden konnten.

Die Verabschiedung des Gesetzes �ber die Aufl�sung der Irrenh�user ist letztendlich den Aktivit�ten der Patientenselbsthilfeorganisation C.A.R.M. zu verdanken: Diese Gruppe organisierie ein Volksreferendum mit dern Ziel, da� sofort alle zwangseingewiesenen Patienten entlassen werden m��ten. Aus Angst vor diesem Referendum verabschiedete das Parlament in Eile das oben schon mehrfach genannte Gesetz Nr. 180.

Nach diesem Gesetz mu�ten eigentlich alle Provinzen Italiens damit beginnen, ihre psychiatrischen Anstalten aufzul�sen - aber konservative Psychiater und Politiker boykottieren oft das Gesetz, verweigern notwendige Zusch�sse usw. Dadurch entstanden Mi�st�nde, die von der konservativen Presse, auch in der BRD, begierig aufgegriffen wurden, um'das angebliche Scheitern der.italienischen Psychiatriereform zu zeigen.

 

Die "Normalen" sollen etwas verr�ckter werden ...

Die �llm�hliche Aufl�sung der Irrenh�user ist das Kernst�ck der Neuen Psychiatrie: es werden keine neuen Patienten mehr aufgenomrnen (da dies gesetzlich verboten ist), und den bisherigen Anstaltsinsassen wird geholfen, sich ein weitgehend selbst�ndiges Leben au�erhalb der Irrenhaus-Mauern aufzubauen (soweit die Provinz hierf�r Mittel zur Verf�gung stellt).

Der Kampf gegen das Irrenhaus ist auch ein Kampf gegen die gesamte traditionelle Psychiatrie mit ihrer menschenverachtenden Theorie. W�hrend ein Patient in einer psychiatrischen Klinik mehr oder weniger entrechtet ist und sich den Weisungen der �rzte und Pfleger unterzuordnen hat, will die Neue Psychiatrie einen Patienten als Individuum sehen: ein Psycho-Patient soll auch die M�glichkeit haben, v�llig anders zu leben, verr�ckt zu sein, ohne gleich therapiert zu werden.

Anders-sein und trotzdem in Freiheit leben k�nnen - dadurch werden die sog. Normalen mit dem Anders-sein konfrontiert, m�ssen sich mit abweichenden, verr�cken Menschen auseinandersetzen ...

Manche fortschrittlichen Psychiater in Italien verstehen sich als Vermittler zwischen Normalit�t und Verr�cktheit: die herrschende Normalit�t k�nnte ein bi�chen verr�ckter werden und die Verr�ckten ein bi�chen normaler.

"La libert� � terapeutica" (= Freiheit heilt) steht in gro�en Lettern auf einem der ehemaligen Irrenhaus-Pavillons in Triest - Freiheit ist eine unabdingbare Voraussetzung, um seelisches Leiden zu �berwinden. "La libert� � terapeutica" hei�t aber nicht, da� man Psycho-Patienten einfach auf die Stra�e setzt, ihnen die Freiheit gibt, ohne finanzielle oder andere Hilfe anzubieten: es mu� f�r Wohnen, Essen, vielleicht auch f�r Arbeit usw. gesorgt sein, die sog. normale �ffentlichkeit mu� entsprechend vorbereitet werden, durch Diskussionen, Versammlungen, gemeinsame Feste usw. usw.

 

"Gegen das Irrenhaus und gegen jede Form von institutioneller Autorit�t"

Die italienische Anti-Irrenhaus-Bewegung hat nicht nur die Psychiatrie in Frage gestellt, sondern hat das gesamte gesellschaftliche Gef�ge - wenigstens ein bi�chen - in Bewegung gebracht. Die Kritik an den psychiatrischen Institutionen weitete sich vielerorts zu einer Kritik an den anderen systemtragenden Institutionen aus, Institutionen wie Gef�ngnisse, Polizeiapparate, Fabriken, Schulen usw. "Es ist jetzt die Zeit, da� wir die Fr�chte des neuen Bewu�tseins emten, des Bewu�tseins, das w�hrend der K�mpfe 1968169 entstanden ist. In diesen Jahren ... bewirkten die Arbeiterklasse und die anderen Gesellschaftsklassen sichtbare sozial�konomische Ver�nderungen... F�r die Psychiatrie bedeutet diese Zeit, da� sich derKampf gegen das Irrenhaus und gegenjede Form von institutionellerAutorit�t ausweitet zu einem Kampf gegen die Machtzentren des Staates. Es ist ein Kampf der auch auf eine umfassende Ver�nderung der Herrschaftsideologie ausgerichtet ist." (aus einer Schrift der Schwestern und Pfleger der psychiatrischen Einrichtungen von Ferrara).

Die Neue Psychiatrie in Italien ist mehr als nur eine Variante der Sozial-Psychiatrie mit stadtteilorientierten psychosozialen Versorgungsnetzen. Die Neue Psychiatrie ist Teil einer �u�erst kritischen politisch-kulturellen Bewegung, f�r die die W�rde des einzelnen Menschen unvergleichlich wichtiger ist als die staatlichen Iristitutionen mit ihrem Ordnungsdenken.

Die progressiven Mitarbeiter innerhalb der Neuen Psychiatrie haben sich von der traditionellen, autorit�ren Psychiatrie deutlich distanziert, lehnen die diskriminierende diagnostische Etikettierung ebenso ab wie jegliche Zwangsma�nahmen oder die Verabreichung von pers�nlichkeitsver�ndernden Medikamenten - sie versuchen, einem psychisch leidenden, abweichenden, verr�ckten Menschen so zu begegnen, da� sie seine menschliche W�rde, sein Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung uneingeschr�nkt akzeptieren und ihrn notfalls helfen, diese Grundrechte gegen �bergriffe der Psychiatrie, Medizin oder Justiz zu verteidigen ...

Wer sich mit den Problemen eines Patienten auseinander~ setzen will, kann sich nicht hinter einern Wall von Definitionen und Krankheits-Schemata zur�ckziehen - nur in der direkten Begegnung ist eine echte, hilfreiche Beziehung m�glich. Ob hierf�r Psycho-Experten notwendig sind, oder gar hinderlich?

Ziel w�re, da� jeder Patient sein eigener Therapeut werden kann und so auch zum Therapeuten f�r andere Patienten.

... ein Mensch ist bed�rftig, f�hlt sich elend und schlecht, und die Psychiater sagen, er ist schizophren" (Franco Basaglia)

Die Ablehnung des traditionellen Krankheitsbegriffs durch die Neue Psychiatrie

Was man gemeinhein als "Geisteskrankheit" versteht, ist im wesentlichen eine vielschichtige Reaktion auf unertr�gliche Lebenssituationen, auf zerm�rbende Arbeitsund Wohnbedingungen, auf die Vereinsamung und Hoffnungslosigkeit, auf die Unterdr�ckung als Frau oder auf die Isolierung im Alter usw. Auch die Erfahrungen in der Kindheit, die undurchschaubaren Konflikte, die von den herrschenden Erwachsenen ausgehen, k�nnen unter ung�nstigen Lebensbedingungen wieder hervorbrechen und dann von der unbeteiligten Umwelt als "Geisteskrankheit” betrachtet werden.

Verr�cktheit ist eine unter mehreren M�glichkeiten, um zu zeigen, da� die herrschenden Lebensbedingungen niclht l�nger ertr�glich sind. So gesehen wird Verr�cktheit oder Wahnsinn zu einer Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung, zu einer unerw�nschten "Systemst�rung", die m�glichst rasch von der Bildfl�che verschwinden sollte - "Verr�ckte" werden in Irrenh�user gesperrt oder mit allen Mitteln in die vorher krankmachende Normalit�t zur�ckgezwungen.

Indem man die Irrenh�user abschafft, treten die Konflikte wieder offen zutage, und wir m�ssen nach anderen L�sungsm�glichkeiten suchen.

"Jede Institutionalisierung eines Problems hindert clich daran, dich mit diesem Problem, auseinanderzusetzen. Das gilt auch f�r den psychisch Kranken: du kannst dich seinen Problemen nicht stellen, solange seine Probleme institutionalisiert sind, er im Irrenhaus ist und einer totalen sozialen Kontrolle unterliegt. In dem Augenblick, in dem du das Irrenhaus abschaffst, siehst du �berhaupt erst das Problem, n�mlich das Problem des Wahnsinns. Und wie willst du mit diesem Problem des Wahnsinns umgehen? Das wird der entscheidende Punkt sein.

Viele progressive Psychiater Italiens lehnen die �bliche, diskriminierende Diagnose-Einteilung ab, weil sie oft reine Willk�r ist und bei der Auseinandersetzung mit psychischem Leid nur hindert. Der amerikanische Psychiater Prof. Rosenhan sagte einmal: "Psychiater und Psychologen sind au�erstande, geistig Gesunde von Geisteskranken zu unterscheiden".

Nicht wenige sozialpsychiatrische Zentren bem�hen sich, seelische Konflikte, psychisches Leid nicht als individuelles Problem zu sehen, sondern zu fragen, woher die "Krankheit" kommt. Sie gehen in die Familie, in die Wohngegend, in den Betrieb usw. - dori versuchen sie, soweit es geht, die krankmachenden Faktoren auszuschalten oder wenigstens zu verringern.

Die Ursache psychischer St�rungen sind vielf�ltig. So wird auch verst�ndlich, da� es keine einheitlichen Rezepte gegen "Geisteikrankheiten" gibt und da� die L�sungen der sozialen und politisch-kulturellen Widerspr�che ebenso wichtig sind wie das Eingehen auf die individuelle Problernatik.

Aber dieses Eingehen auf die individuelle Problematik ist keineswegs gleichbedeutend mit einem psychologischen Vorgehen: "Einige Verr�ckte, die fr�her ins Irrenhaus gebracht worden w�ren, leben jetzt auf den Stra�en und Pl�tzen. Die Schwierigkeit f�r diese Menschen ist nicht ihre angebliche Geisteskrankheit, sondern ihre Armut und ihr Elend." (Franco Basaglia)

Die Neue Psychiatrie hat auch gezeigt, da� die angebliche Gef�hrlichkeit von" Verr�ckten" ein gef�hrliches Vorurteil in den K�pfen der Normalb�rger ist: Bei den entlassenen Psychiatriepatienten beispielsweise inrriest, Perugia oder Arezzo wurden nicht mehr Zwischenf�lle beobachtet als bei einer vergleichbaren Gruppe von sog. Normalb�rgern.

 

Kurz zu den gesetzlichen Grundlagen der Psychiatrie-Reform

Das psychiatrische Reformgesetz Nr. 180 aus dem Jahre 1978 wurde sp�ter Teil einer allgemeinen Gesundheitsreform. In dieser Zeit wurden auch alle Krankenkassen verstaatlicht, um die B�rokratie zu vereinfachen.

Die wesentlicheh Punkte des Psychiatrie-Gesetzes sind: Verbot des Neubaus staatlicher psychiatrischer Kliniken oder Abteilungen; Verbot der station�ren Aufnahme von "neuen Patienten" in die noch bestehenden psychiatrischen Anstalten; Schaffung der gesetzlichen Grundlage f�r den Aufbau alternatiVer Einrichtungen,(ambulante Dienste, "Notfall- Betten" im Allgemein-Krankenhaus, Wohngemeinschaften etc.); erhebliche Erschwerung von Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung (nur im Allgemein-Krankenhaus m�glich).

Die neuen Gesetze gehen nicht mehr davon aus, da� es unheilbare, chronische "Geisteskranke" gibt, die in irgendwelche Anstalten untergebracht werden sollen. Auch das Konzept vom "gef�hrlichen Verr�ckten", vor dem die �ffentlichkeit angeblich gesch�tzt werden m��te, wurde fallengelassen - stattdessen steht im Vordergrund, da� ein Mensch in psychischer Krise das Recht auf entsprechende Hilfe hat, wobei die ambulante Betreuung den absoluten Vorrang hat, eine station�re Behandlung (im Allgemein-Krankenhaus) ist nur f�r den Notfall vorgesehen (die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Krankenhaus liegt unter zwei Wochen).

Wer sich f�r Einzelheiten in der Gesetzgebung interessiert, kann sich an die Verfasser wenden.

 

Die gegenw�rtigen alternativen psychosozialen Einrichtungen

Die psychiatriche Versorgung in Italien l��t sich im wesentlichen in drei Bereiche einteilen:

Therapeutische Wohngemeinschaften, soweit sie nicht auf dem Anstaltsgel�nde untergebracht sind, werden meist von den Sozialpsychiatrischen Ambulatorien betreut. Kooperativen, in denen psychiatrische Patienten mit sog. Normalb�rgern zusammenarbeiten, haben oft keinen regelm��igen Kontakt z� den psychiatrischen Einrichtungen. Sie versuchen, m�glichst selbst�ndig zu sein. Sogenannte besch�tzte Werkst�tten, wie sie in der BRD sehr h�ufig sind, gibt es in Italien eher selten.

 

Die wichtigsten Zielsetzungen der Neuen Psychiatrie

Die grundlegenden Elemente der Neuen italienischen Psychiatrie k�nnen folgenderma�en umrissen werden:

1. Aufl�sung der Irrenh�user.

Der Kampf um die endg�ltige Abschaffung der psychiatrischen Anstalten steht nach wie vor im Zentrum der fortschrittlichen Kr�fte der italienischen Psychiatrie. "Ohne clie Irrenh�user abzuschaffen, ist es unm�glich, wirklich alternative Einrichtungen aufzubauen!" (Franco Basaglia). Parallel zu der allm�hlichen �berwindung der Anstalt m�ssen die erforderlichen Strukturen' in den einzelnen Stadtteilen und Gemeinden aufgebaut werden: Sozialpsychiatrische Dienste, Wohngemeinschaften, andere Wohnm�glichkeiten, Zusammenarbeit mit Kooperativen usw.

2. Station�re Aufnahmen sollen weitgehend verhindert werden, insbesondere die Zwangseinweisungen in die Abteilungen f�r Psychiatrie im Allgemeinkrankenhaus.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, da� die Aufenthaltsdauer von psychiatrischen Patienten im Allgemeinkrankenhaus unvergleichlich k�rzer ist als fr�her im Irrenhaus (siehe oben).

3. Ein einseitiges psychiatrisches Einschreiten mu� vermieden werden.

Die wirklichen Bed�rfnisse eines Menschen mit psychischem Leiden m�ssen besser erkannt werden, die Zusammenh�nge mit sozialen und materiellen Problemen m�ssen aufgedeckt werden. Dazu geh�rt auch der Kontakt zur Familie, zum Arbeitsplatz, zur Gemeinde, zum Stadtteil usw. - auch mit dem Ziel, die Entstehung psychischer St�rungen m�glichst zu verhindern_ Wenn man versucht, mit einem leidenden Menschen Kontakt aufzunehmen, ohne Vorurteile, ohne diagnostische Etikettierung, dann wird deutlich, da� eine ausschlie�lich psychodynamische Intervention fragw�rdig ist, da� eine umfassendere Reaktion auf die Bed�rfnisse eines Kranken notwendig isC (Paolo Tranquina). Das Ambulatorium versucht, mit dem Benutzer eine ganzheitliche Begegnung zu schaffen, in der der Mensch im Vordergrund steht und nicht die Krankheit.

4. �berpr�fung des von der Psychiatrie �bernommenen Auftrages.

"... auch hier hat es eine Wende gegeben: Die demokratischen Psychiater haben sich nicht hinter die herrschenden sozialen Wertvorstellungen getellt, nach denen die Schw�chsten, die Abweichenden, ausgeschlossen werden, und sie haben gezeigt, da� sich unter dem Etikett der Psychiatrie eine Menge sozialer Widerspr�che verbirgt. Die Analyse des gesellschaftlichen Auftrags an die Psychiatrie hat deutlich gemacht, da� die Psychiatrie als soziale Kontrollinstanz fungiert. Die Psychiatrie ist dar�ber hinaus der Ietzte Hafen, in dem diejenigen stranden, mit denen andere gesellschaftliche Einrichtungen, Mediziner, Sozialarbeiter, P�dagogen, nicht fertig geworden sind ... Heilen, ohne sich um anderes zu k�mmern, hei�t: Wiederanpassen, Sch�den zu reparieren, ohne nach den Gr�nden zu fragen, soziale Kontrolle aus�ben." (Paolo Tranquina).

Die Neue Psychiatrie hilft auf der einen Seite Leid lindern, auf der anderen Seite gleicht sie den Widerspruch zwischen Wahnsinn und"Normalit�t" aus und tr�gt so zu einer Stabilisierung des herrschenden politischen Systems bei. Diesen Konflikt erkennen viele kritische Psychiater in Italien - in der BRD finden wir solche selbstkritischen Psychiatrie-Mitarbeiter leider nur ziemlich selten.

5. Mitbestimmung aller Beteiligten.

Die vielen Diskussion �ber alternative Arbeit haben in Italien auch dazu gef�hrt, da� mehr M�glichkeiten der Mitwirkung und Mitbestimmung gefordert wird, und zwar f�r alle Beteiligten: Nicht nur f�r �rzte, sondern auch f�r Pfleger, Krankenschwestern, Sozialarbeiter und f�r freiwillige Helfer und Patienten. Von ei,nem Abbau der hierarchischen Strukturen wird immer wieder geredet, von einer Realisierung ist man in den allermeisten Ambulatorien allerdings noch weit entfernt.

 

Psychopharmaka - die moderne Zwagigsjacke?

Die Mitarbeiter der Demokratischen Psychiatrie stehen dem Einsatz von Psychopharmaka sehr kritisch gegen�ber. Nach Ansicht vieler Mitarbeiter dienen die Psychopharmaka oft mehr den Bed�rfnissen der Institution als den Bed�rfnissen der Patienten. Dazu der italienische Psychiater Ferro: "Mit mehr ocler weniger Gewalt blockieren diese Techniken die Fragen, die Botschaften, werten in jedem Fall das Zuh�ren ab; sie erscheinen in tr�gerischer Weise therapeutisch, in Wirklichkeit verdecken sie jedoch Konflikte und Widerspr�che, die sich sowieso nur gegen Widerst�nde manifestieren k�nnen, wodurch die M�glichkeit eines Individuums, sich als solches zu definieren, eine Identit�t zu erwerben, sich im Verh�ltnis zu sich selbst, zu den anderen und der Welt zu best�tigen, fragm en tiert wird.

Psychopharmaka werden in der Demokratischen Psychiatrie als Instrument begriffen, das dann angewendet werden mu�, wenn alternative Mittel und M�glichkeiten der Intervention fehlen. Es dr�ckt gewisserma�en die Hilflosigkeit der Psychiatrie-Mitarbeiter aus.

Die Vergabe von Psychopharmaka ist in den einzelnen Orte sehr unterschiedlich; w�hrend beispielsweise in Uest und Arezzo die Pro-Kopf-Ausgabe von Psychopharmaka erheblich gesunken ist, spielt die Verwendung von Psychopharmaka in der psychiatrischen Praxis von Rom durchaus noch eine erhebliche Rolle. Aber �berall ist eine kritische Diskussion im Gange, es ist das Bestreben erkennbar, die Verabreichung von Psychopharmaka zu verringern oder auf die Vergabe ganz zu verzichten.

 

Der Mythos der Psychotherapie

Die kritische Haltung gegen�ber psychotherapeutischen Techniken war eines der Hauptprinzipien der antiinstitutionellen Bewegung in Italien. Der "Mythos der psychiatrischen Behandlung", sie k�nne eine Misere l�sen, deren Entstehungsgr�nde vor allem in den sozialen und gesellschaftlichen Umst�nden zu suchen sind, wurde als "falsches Bewu�tsein" entlarvt. Franco Rotelli, Leiter der psychiatrischen Einrichtungen von Triest, nirnmt dazu folgenderrna�en Stellung: "Wir lehnen die Psychotherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechtes festlegt, das ein jeder iiber eine Beziehungen selbst entscheiden k�nnen mu�; wir lehnen die Gruppentherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechtes festlegt, sich aufgrund eines eigenen Interesseszu organisieren; wirlehnen die Arbeitstherapie ab, weil sie die Weigerung des Rechtes festlegt, f�r die Arbeit tariflich entlohnt zu werden; wir lehnen schlie�lich die Spieltherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechtes festlegt, Feste zu feiern, wann und wie man will."

Obwohl diese "antitherapeutische Praxis" der Psychiatrie in Triest nicht f�r die gesamte italienische Psychiatrie gilt, spiegelt sie doch die anf�nglich ablehnende und kritische Einstellung zu therapeutischen Techniken wieder. Dies h�ngt mit der geschichtlichen Entwicklung der italienischen Psychiatrie zusamrnen.

Das Irrenhaus, das es als erstes zu �berwinden galt, zeigte sich als Ort der Ausgrenzung und der sozialen Kontrolle - zun�chst ging es also darum, die unterdr�ckende Funktion dieser Einrichtung einer breiten �ffentlichkeit ins Bewu�tsein zu rufen und auf einer sozialen und politischen Ebene dagegen zu k�mpfen. Die Widerspr�che, die sich in den vielen Einzelschicksalen der psychiatrischen Anstalten offenbarten, sollten an die Gesellschaft zur�ckgegeben werden. Der Kampf f�r materielle und b�rgerliche Rechte der Patienten war wichtiger als die Diskussion um irgendwelche psychotherapeutische Techniken.

Mittlerweile ist in einigen ambulanten Zentren die Bedeutung der psychotherapeutischen Techniken aber erheblich gewachsen. Au�er den sozialen und materiellen Schwierigkeiten gibt es auch Probleme, die mit der eigenen Entwicklung zusammenh�ngen, mit der Beziehung zu Freunden oder Familienangeh�rigen usw. Menschen, die mit solchen Konflikten an einen Sozialpsychiatrischen Dienst herantreten, erwarten von den Ambulatoriums-Mitarbeitern eine Antwoii, die auf die individuelle Situation eingeht. Immer mehr Mitarbeiter der Ambulatorien neigen daher dazu, in privater Initiative eine therapeutische Zusatzausbildung zu machen.

Saracino, ein italienischer Psychiater, kritisiert diese Entwicklung und gibt zu bedenken: "Der Kampf gegen die Anstalten steht noch am Anfang und kann nicht verdr�ngt werden zugunsten von Problemen, die als komplexer betrachtet werden m�ssen."

Vor dein Hintergrund des gesellschaftlichen Auftrags der Psychiatrie, Kontrolle und Befriedung auszu�ben, sehen viele Vertreter der Psichiatria Democratica nicht mehr das Problem der Technik. Ausschlaggebend ist vielmehr, inwieweit unter Mithilfe einer psychotherapeutischen Technik der Handlungsspielraum und das Bewu�tsein der betreffenden Person erweitert werden kann oder nicht.

Insgesamt kann gesagt werden, da� die st�ndige Diskussion um psychotherapeutische Techniken bei dern Psychiatrie-Mitarbeitern ein hohes Bewu�tsein �ber diese Problemtik geschaffen hat. jervis schreibt hierzu: "Ich glaube, wenn wir den Ausdruck Psychotherapie die Bedeutung einer f�r die Heilung n�tzlichen zwischenmenschlichen Beziehung geben, dann spielt die Psychotherapie in den psychiatrischen Anstalten und in den Sozialpsychiatrischen Diensten eine grQ�e Rolle. In der Tat wird das Studium der Psychotherapie als bewu�te therapeutische Beziehung leider h�ufig vernachl�ssigt. "

Das Eingehen auf die individuelle Problematik schlie�t die Auseinandersetzung mit dem brennenden gesellschaftspolitischen Schwierigkeiten keineswegs aus. "In einer Welt, die irnmer mehr Leiden, Zerst�rung und Tod bis hin zurm�glichen Vernichtung dermenschlichen G-attung produziert, ... sich einfach in dieser Welt hinzustellen und vorzugeben, nur zu heilen, erweist sich als reaktion�r! Nur zu heilen bedeutet in der Tat, zu versuchen, die Person an ihre Leidenssituation anzupassen, ohne die Ursachen zu ergr�nden. In unserer Arbeit versuchen wir viel mehr auch im individuellen Leiden das aufzugreifen, was sozial und kollektiv ist... In diesen Fragen verflechten sich Krise der Familie, Wohn ungsnot, das festgefahrene kapitalistische Produktionssystem mit psychologischen Motiven des Leidens. " (Paolo Tranquina).

 

Die �berlasteten Familien

Ein wesentlicher Punkt im Konzept der Neuen Psychiatrie ist es, ehemalige Anstaltsinsassen wieder in ihre Ursprungs-Familien zu integrieren. Dar�ber hinaus sollten auch diejenigen Menschen, die auf irgendwelchen psychischen Konflikten aus der Bahn geraten sind, m�glichst lange in der Familie gehalten werden. Man vermeidet damit den sch�dlichen Aufenthalt in einer psychiatrischen Abteilung - aber der famili�re Scho� ist keineswegs der ideale Ort, wieder aus seiner seelischen Krise herauszufinden.

Auf der einen Seite kann die Familie krank machen, auf der anderen Seite soll der krank-Gemachte m�glichst lang in der Familie gehalten werden oder wieder in die Familie zur�ckgeschickt werden: Dieser Widerspruch ist ein h�ufiger Diskussionspunkt in der Neuen Psychiatrie, aber es fehlt an ausreichenden Alternativen.

Viele Familien sind mit Familienageh�rigen, die aus dem Irrenhaus kommen oder neu in eine schwere psychische Krise geraten, einfach �berfordert, trotz massivster Unterst�tzung durch die Sozialpsychiatrischen Ambulatorien. Aber es mu� an dieser Stelle noch einm�l klar betont werden: Keine Familie wird gezwungen, einen "psychiatrischen Patienten", unbedingt aufzunehmen oder zu behalten!

�ltere "psychiatrische Patienten" werden bei �bei-lastung der Familie zum Beispiel an A Itersheime vermittelt, f�r j�ngere Patienten sucht man Pl�tze in Wohnge'meinschaften, notfalls in Rehabilitationseinrichtungen; manche Sozialpsychiatrische Dienste haben auch die M�glichkeit, f�r k�rzere Zeit Patienten zu beherbergen.

Es gibt Familien-Initiativen vor allem in Rom, die f�r eine �nderung des bestehenden Gesetzes eintreten und den Aufbau von Einrichtungen wollen, wo sog. chronisch Kranke untergebracht werden k�nnten. Es gibt allerdings auch Familienorganisationen, die f�r das bestehende Gesetz k�mpfen, und die Verwirklichung aller in diesem Gesetz vorgesehenen M�glichkeiten wollen.

Eine wichtige Alternative zur Familie sind die in Italien immer h�ufiger werdenden Kooperativen, in denen man zusammenlebt, arbeitet und versucht, gemeinsam Kreatives zu schaffen.

 

Die psychiatrischen Privatkliniken

Die psychiatrischen Privatkliniken werden vom Gesetz �ber die Aufl�sung von psychiatrischen Anstalten nicht betroffen. Aber die in unserer Presse immer wieder gemachte Behauptung, diese Privatkliniken w�rden immer mehr Patienten aufnehmen, ist falsch: In den ersten drei, vier Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes hat die Anzahl der Behandlungen in Privatkliniken (und psychiatrischen Universit�tskliniken) nicht zugenommen! Au�erdem mu� betont werden, da� sie in den Zentren der Neuen Psychiatrie, also z.B. in Triest, Arezzo, Perugia, Florenz, Venedig usw. �berhaupt keine Rolle spielen; in den meisten dieser Provinzen gibt es gar keine privaten Nervenkliniken. Die meisten Privatkliniken sind in Rom und in der Umgebung von Rom. Zwangsbehandlungen sind in psychiatrischen Privatkliniken nicht zul�ssig.

Ebenfalls ausgenommen von dem Gesetz �ber die Anstalt-saufl�sung sind"Manicomi criminali", d.h. die Anstalten

f�r sog. psychisch kranke Rechtsbrecher. Diese Einrich-tungen sind meist Gef�ngnissen angeschlossen. �hnlich wie in der BRD sind die Insassen dieser Ansalten auf bru-talste Weise der Willk�r der Psychiatrie und der Justiz ausgeliefert: "In den Anstalten f�r angeblich psychisch kranke Rechtsbrecher sind gewisserma�en zwei der schlimmsten Arten der Unterclr�ckung vereint - auf der einen Seite die Psychiatrisierung einer Straftat, auf der an-deren Seite die Kriminalisierung des Wahnsinns." (A. Ma-nacorda, ein italienischer Psychiater). Die Organisationen der Neuen Psychiatrie Italiens k�mpfen mit'viel Engage-ment auch f�r die Aufl�sung dieser Anstalten.

Sondereinrichtungen f�r Kinder, Erziehungsanstalten und �hnliches, fallen zwar auch nicht unter die PsychiatrieReform, sollen aber entsprechend einer neueren Gesetzgebung ebenfalls in den kommenden Jahren allm�hlich aufgel�st werden.

 

Neue Psychiatrie - neue Technik - neue soziale Kontrolle?

Die Auseinandersetzung mit Menschen, die unter ihren psychischen Konflikten leiden, ist viel zu bedeutend, als da� man sie den Psychiatern �berlassen k�nnte.

Auch �ie Alternative, die Neue Psychiatrie, bleibt immer noch Psychiatrie, eine Gruppe von Spezialisten, die sich zust�ndig erkl�ren f�r die Beurteilung und Behandlung von psychisch abweichenden Menschen.

Doch durch die Psychiatriereform, vor allem durch die ,Aufl�sung der Anstalten, ist in Italien ohne Zweifel eine menschlichere, kritische Psychiatrie entstanden, in der viele, �u�erst engagierte Mitarbeiter, f�r weitere Verbesserungen eintreten - dennoch: - auch diese alternative, demokratische Psychiatrie birgt Gefahren in sich.

"In einer bestimmten Phase der Entwicklung derpsychiatrischen Versorgung wird da~ Risiko sichtbar, clas ein sozialpsychiatrischer Dienst in negativer Weise auf seine Patienten einwirkt, nicht aufgrunci einer schlechten Organisation oder eines Fehlers..., sondern aufgrund seines Konzeptes ... Es entsteht das Risiko, da� das psychiatrische Einschreiten nicht zu einem Zugewinn an Freiheit verhilft, sondern einen Proze� in Gang bringt, den wir Psychiatrisierung nennen.�. Diese Psychiatrisierung f�hrt dazu, da� eine Person aus ihrer sozialen Umgebung herausgenommen wird,'isoliert wird, sichtbar isoliert durch die Aufnahme ins Krankenhaus ... Psychiatrisierung f�hrt dazu, da� diese Person als Sonclerfall abgestempelt wird und ihr schlie�lich die Verantwortung f�r ihr eigenes Tun genommen wird... Durch die Praktiken der Psychiatrisierung wird der Sozialpsychiatrische Dienst zu einer Institution der Unterclr�ckung und handelt gemeinsam mit anderen Institutionen der Unterdr�ckung. " (C. Brutti, Leiter eines psychiatrischen Ambulatoriums in Perugia).

Und Roberto M., ein politisch aktiver, ehemaliger Patient, meint hierzu: "Wenn du in irgendein Sozialpsychiatri-sches Ambula torium gehst, dann kannst du sie sehen, wie sie st�ndig unter sich Versammlungen machen und spre-chen, sprechen, sprechen. � . Nun, die Wahrheit ist, da� die Psychiatrie-Mitarbeiter endlich aufh�ren m�ssen, f�r uns zu denken und zu handeln; sie m�ssen auch uns einen Freiraum lassen und uns so akzeptieren, wie wir sind.

Viele Mitarbeiter in der Neuen, demokratischen Psychiatrie sind sich der angesprochenen Problematik bewu�t - doch was tun?

"Um die derzeitige Diskussion �ber die psychiatrische Versorgung zu �berwinden, brauchen wir keine alternative Psychiatrie, sondern eine Alternative zur Psychiatrie." (aus einem Flugblatt einer r�mischen Patientenorganisation) - erste Schritte in diese Richtung sind sicherlich selbstverwaltete Wohngemeinschaften, Kooperativen, Selbsthilfeorganisationen usw.

In einer Grundsatz-Erkl�rung eines psychiatrischen Am-bulatoriums in Perugia hei�t es: "Die B�rger und die von ihnen gew�hlten Vertretungen (Stadtteilr�te, Betriebsr�te und andere demokratische Basisorganisationen) m�ssen die Zielsetzung und die Aktivit�ten der psychiatrischen Dienste bewerten und kontrollieren und sollen an der Aktivit�t der jeweiligen psychiatrischen Diente auch teilneh-men und damit einen Schritt vorw�rts tun in Richtung einer Selbstverwaltung der Gesundheit... " - aber selbst in Italien ist man von einer "Selbstverwaltung der Ge-sundheit" noch einige Jahre entfernt ...

 

Die Neue italienische Psychiatrie und die westdeutsche Anti-Psychiatrie-Bewegung

Die Pilgerz�ge deutscher Psychoarbeiter in die Wallfahrtsorte der neuen italienischen Psychiatrie kommen manchem Italiener schon sehr eigenartig vor - aber, in der BRD gibt es eben nur wenig Ans�tze f�r eine radikale Psychiatriereform, auch wenn man von einigen kurzlebigen Einzelinitiativen mal absieht.

Die schonungslose Kritik an der herrschenden Psychiatrie und der Kampf gegen die psychiatrischen Anstalten und f�r eine alternative Versorgung geht in Deutschland vor allem von Organisationen und Bewegungen aus, die au�erhalb der etablierten Institutionen arbeiten, also B�rgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Beschwerdezentren, Gesundheitsl�den usw. Die Deutsche Gesellschaft f�r Soziale Psychiatrie klebt viel zu sehr an der Denkweise der traditionellen Anstaltspaychiatrie, kritisiert zwar viel, besch�ftigt sich aber liel;er mit allerlei therapeutischen Techniken, anstatt f�r die Aufl�sung aller psychiatrischen Anstalten einzutreten.

Die unmenschlichen Zust�nde in fast allen psychiatrischen Anstalten und Kliniken (einschlie�lich der Universit�tskliniken) kann nicht l�nger hingenommen werden! Tiefgreifende �nderungen sind dringend erforderlich.

Wenn wir uns mit der italienischen Psychiatrie auseinandersetzen, dann geht es nicht um die platte �bernahme irgendeines italienischen Konzepts, sondern es geht vor allem darurn, die Erfahrungen einiger italienischer Provinzen kennenzulernen: Ablehnung psychiatrischer Diagnosen, �berwindung der Anstalten, Suche nach Alternativen ... In der BRD glauben die allermeisten Psychiater immer noch an die Reformierbarkeit der psychiatrischen Anstalten."Innerhalb cles Bereichs" clen wir Psychiatrie nennen, ist bewiesen worclen, da� die Verwahrung in Anstalten nicht heilt, sondern zerst�rt ... In Deutschland ist ein entscheidendes Problem, da� immernoch nicht entschieden ist, die psychiatrischen Anstalten abzuschaffen. Das hei�t, es m��te wenigstens ein Programm da sein, das die Aufl�sung der Irrenh�user fordert. Sonst hat das ganze keinen Sinn." (Franco Basaglia)

Solche Forderungen werden schon seit langem von vielen westdeutschen Antipsychiatrie-Gruppen vertreten ... Aber die Irrenh�user gibt es immer noch ... Ein langer Kampf gegen die staatlichen Institutionen ...

 

J�rgen H�rle und Josef Zehentbauer

 

(beide Autoren haben l�ngere Zeit in Italien gelebt und in der Psychiatrie gearbeitet)

 

Literaturhinweise

(es werden nur deutschsprachige Ver�ffentlichungen aufgef�hrt):

Franco Basaglia u.a.: Die abweichende Mehrheit, Frankfurt 1972. Franco Basaglia: Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, Frankfurt 1974. A. Conti: Im Irrenhaus, Frankfuri 1978. K. Hartung: Die neuen Kleider der Psychiatrie, Berichte aus Triest, Berlin 1980. G. jervis: Psychotherapie als Klassenkampf, Berlin 1974. G. jervis: Kritisches Handbuch der Psychiatrie, Frankfurt 1978. j. Obiols und Franco Basaglia: Antipsychiatrie, das neue Verst�ndnis psychischer Krankheit, Hamburg 1978. A. Pirella: Die Sozialisation der Ausgeschlossenen, Hamburg 1975. G. Scabia: Das gro�e Theater des Marco CavaHo, Frankfurt 1979. S. Schmid: Freiheit heilt, Berlin 1977. Th. Simons (Hrsg.): Absage an die Anstalt, Frankfurt 1980. S. Tullio, j. Zehentbauer: Was n�tzen der Psychiatrie in der BRD die Erfahrungen der italienischen Neuen Psychiatrie? In: Neue Psychiatrie, Erfahrungen aus Italien und Deutschland, Rehburg-Loccum 1980. J. Zehentbauer, P. D'Onofrio, F. Tullio, L. Toresini: Die Aufl�sung der Irrenh�user oder Die Neue Psychiatrie in Italien, M�nchen 1983.

Josef Zehentbauer / J�rgen H�rle (1986)