Quelle: Kerstin Kempker / Peter Lehmann (Hg.), »Statt Psychiatrie«, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 449 - 482.
Vergriffen. Nachfolgetitel: Peter Lehmann / Peter Stastny (Hg.): »Statt Psychiatrie 2«, Berlin / Eugene / Shrewsbury: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2007

Peter Lehmann , Peter Stastny, Don Weitz

Wege zum Ausstieg aus der Psychiatrie

Psychiatrie, Gemeindepsychiatrie, Antipsychiatrie, Nichtpsychiatrie

Psychiatrie bedeutet vieles: Umwertung von sozial und politisch unbequemen Handlungsweisen, Gefühlen und Entwicklungen zu psychischen Krankheiten; Abstempelung der Betroffenen als kranke, heilungsbedürftige, minderwertige Menschen; Aussonderung aus der Gemeinschaft von - mehr oder weniger - Gleichen und Einschließung in psychiatrische Gefängnisse oder Abschiebung in andere Sondereinrichtungen; Vorenthaltung psychischen und sozialen Beistands, sofern gewünscht, stattdessen Behandlung des Körpers zur Unterdrückung unerwünschter `Krankheitszeichen', derzeit meist mittels Psychopharmaka (chemischen Knebeln).

Aufgrund der extrem sch�dlichen Wirkung moderner psychiatrischer Behandlungsma�nahmen (Elektroschock; Neuropsychopharmaka, speziell Neuroleptika) mu� die Diskussion �ber neue Wege der Psychiatrie-Entwicklung auch eine kritische Bestandsaufnahme sozialpsychiatrischer, d.h. auf Neuroleptika-Dauerverabreichung basierender, Reformversuche leisten. Es w�re zynisch, die Anwendung von Neuroleptika gegen DissidentInnen in totalit�ren L�ndern als Folter anzuprangern und dieselbe Behandlung hierzulande als therapeutische Hilfe ausgeben zu wollen. Dem widerspricht nicht, da� es eine Reihe von Menschen gibt, die sich aus eigenem Entschlu� in psychiatrische Psychopharmaka-Behandlung geben.

Menschliche Hilfeleistung in psychischen und sozialen Notlagen kann nicht mit (sozial-)psychiatrisch-medizinischen Ma�nahmen auf Grundlage entrechtender Eingriffe geleistet werden, sondern nur in Form von psychischem und sozialem Beistand, basierend auf dem Recht auf freie Wahl der Hilfe sowie dem Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Betroffene, gegen deren Selbstbestimmungsrecht die Psychiatrie verst��t, sollten sich zusammenzuschlie�en, ihre Interessen in die eigenen H�nde nehmen und (unter Ber�cksichtigung ihres Rechts auf psychopharmakafreie Hilfe) an den Aufbau selbstverwalteter und nutzerkontrollierter alternativer Einrichtungen machen.

K�rperverletzung Psychiatrie

Habe leider auch eine Nervenklinik kennengelernt - und zwar die in Berlin-Spandau. Man hat mich dort unter dem Vorwand hingeschickt - weil im Krankenhaus kein Bett frei sei. Ich hatte das Ende einer Ehe hinter mir, und ich bat das Gesundheitsamt Spandau, mich ein paar Tage ausruhen zu d�rfen in einem Krankenhaus. Ich wollte nur ein paar Tage ausruhen und nachdenken - weil ich kein Bett zum Schlafen hatte. Ganz allein bin ich dort ahnungslos in diese Nervenklinik reingegangen. Nach ein paar Minuten merkte ich, was los war, und bat, da� man mich nach Hause gehen lassen mochte. Ich wollte lieber zur�ck zu einem Ehemann, der mir mit Pr�geln gedroht hat, als in eine Nervenklinik.Da ich Schwester und Arzt angeschrieen habe und mit dem Gericht gedroht habe, hat mich dieser Dr. G. mundtot gemacht. Ich mu�te mich nackt ausziehen - dieser Dr. G. hat mir irgendeinen Paragraphen vorgelesen und w�rtlich zu mir gesagt, da� er innerhalb von 24 Stunden mit mir machen kann, was er will. Danach bekam ich eine herrliche K.o.-Spritze, von der ich �ber 15 Stunden schlief. Darauf bekam ich Augenkr�mpfe und Ohnmachtsanf�lle. Unter Zwang mu�te jeder Tabletten nehmen (ansonsten vom Arzt Spritze). Ich durfte erst nach Hause, als ich sagte, da� ich zum Ehemann zur�ckkehre. Es gab eine Gerichtsverhandlung auf der Station - ich spielte eine gl�ckliche Ehefrau - war ja alles wieder o.k.Bin inzwischen geschieden, habe meine erste Reise nach Ibiza hinter mir. Wenn man die Norm unserer Gesellschaft durchbricht, ist man verr�ckt. Leider konnte ich diesen Dr. G. nie vor Gericht bringen, da unsere Gesetze ihm Recht geben. Ich hoffe, da drinnen (Nervenklinik Spandau) jagt mal jemand dem Arzt seine eigene Spritze in den Arsch. Dann m�chte ich ihm seine bl�de Visage in einem Spiegel zeigen - Kinder, k�nnen wir den nicht mal fragen, ob er sich zur Verf�gung stellt!Mit allerbesten Gr��enHannah Trieper

Diesen Leserbrief (Trieper 1989) erhielt die Selbsthilfegruppe von Psychiatrie-Betroffenen, in der ich einige Jahre aktiv war. Unter einem Pseudonym spricht die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Autorin alle wesentlichen Bestandteile der institutionellen Psychiatrie an: Vorgabe von Hilfe, gewaltt�tige Bestrafung von Normbr�chen, Sexismus, Rechtlosigkeit, k�rpersch�digende Behandlung, aber auch die Notwendigkeit des Widerstands.

�ber die Sch�dlichkeit psychiatrischer Ma�nahmen wie Elektroschock und Neuroleptika liegt mittlerweile eine Vielzahl eindeutiger Literatur vor; MedizinerInnen, Psychiater und Betroffene schreiben von schweren k�rperlichen, geistigen und psychischen Folgesch�den sowohl der Elektrokrampf-`Therapie' (EKT) als auch der Neuroleptika. Mit diesen `antipsychotischen Medikamenten' behandelt werden ca. 95% der psychiatrisch Untergebrachten sowie in steigender Zahl in Altenheimen Menschen mit st�render und unbequemer Lebens- und Sinnesweise.

In meinem Buch �Der chemische Knebel - Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen� (1990) stellte ich psychiatrische Publikationen �ber die Neuroleptika-Behandlung zusammen. Deren Wirkungsweise wird - von den Psychiatern selbst - charakterisiert als (Lebensvorg�nge hemmende) Verringerung der Sauerstoffaufnahme des Hirngewebes, als Beeintr�chtigung der Hirnanhangdr�se und somit des gesamten Hormonsystems, als k�nstliche Herstellung einer Parkinsonkrankheit (aufgrund der Blockade des Dopamin-Stoffwechsels) sowie als Schaffung eines hirnlokalen Psychosyndroms (S. 83ff.). Damit �bereinstimmend, wenn auch mit anderer Bewertung, sprach der Schweizer Psychiater Hans Walther-B�el (1955) die Tatsache aus, da� Neuroleptika, von manchen Psychiatern auch Nervenplegika (Nervenl�hmungsmittel) genannt, keine harmlosen und froh machenden Gl�ckspillen sind, sondern Substanzen, die eine erhebliche Beeintr�chtigung des Zentralnervensystems mit sich bringen:

Die neuroplegisch wirkenden Substanzen an sich erzeugen ein Zustandsbild (Schlafsucht, Apathie, Stumpfheit, sp�ter eventuell Rastlosigkeit...), das als hirnlokales Psychosyndrom bzw. in der Regel als Stammhirnsyndrom anzusprechen ist (...). Da� die Erzeugung eines solchen (neben der Schockwirkung) einen praktisch-therapeutischen Nutzen haben kann, haben wir durch die Erfahrung mit der Leukotomie (Durchtrennung der Stirnhirn-Thalamus-Nervenbahnen) gelernt (...). Nicht zu Unrecht sprechen franz�sische Autoren von einer pharmakologischen Lobotomie. (S. 292f.)

Manche Psychiater ziehen den nicht minder treffenden Ausdruck �Einsteifung� (Dreher 1982, S. 132) vor. Die anhand psychiatrischer Ver�ffentlichungen und Herstellerinformationen gemachten Angaben zu den sch�dlichen Auswirkungen (`Neben'-Wirkungen) der Neuroleptika lassen sich wie folgt zusammenfassen: Durchschnittlich 90% aller Behandelten leiden unter atrophischen, d.h. eine Schrumpfung des Gehirns beinhaltenden Zust�nden; 90% Bewegungst�rungen, h�ufig irreversibler Art; 30% Fieberanf�lle; bis zu 100% krankhafte EKG-Ver�nderungen; 50% Zahnfleischentz�ndungen, oft mit Zahnausfall verbunden; (bei fortdauernder Behandlung) 80% Lebererkrankungen; 40% Diabetes; 43% Fettleibigkeit. Weiter sind zu nennen: Sterilit�t, Ausbleiben der Menstruation, Impotenz; Farbstoffablagerungen im Auge und im Herzmuskel; signifikant erh�hte Zahl von Chromosomenbr�chen und -rissen, die zu Mutationen f�hren; seelische Abstumpfung - �Zombie-Effekt�, Willenlosigkeit, Verzweiflungszust�nde mit Selbstt�tunggefahr, Verwirrtheit und Delir. In den USA m�ssen seit September 1978 Informationszettel �ber Neuroleptika einen Warnhinweis erhalten, da� diese bei Nagetieren Neoplasmen (Geschwulstbildungen), die in Krebs �bergehen k�nnen, in den Brustdr�sen hervorrufen k�nnen, wenn sie langzeitig in der Dosierung verabbreicht werden, die heute in der Dauerbehandlung �blich ist (�Transparenz-Telegramm� 1983, S. 490); im deutschen Sprachraum wird diese nicht uninteressante Information den Betroffenen und ihren Angeh�rigen vorenthalten. An einer anderen Sch�digung, an Neuroleptika-bedingter tardiver Dyskinesie (einer veitstanzf�rmigen, nicht behandelbaren Muskelerkrankung, auch Sp�thyperkinese genannt) litten nach Berechnungen des englischen Psychologen David Hill 1985 weltweit bereits 38,5 Millionen Menschen irreversibel (Lehmann/Hill 1989). In einer 1991 ver�ffentlichten Studie �ber eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch behandelter und z.T. in `betreutem' Einzelwohnen oder `therapeutischen' Wohngemeinschaften lebender Berliner spricht die Autorengruppe von einem durchschnittlichen Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien: Von den untersuchten `Betreuten' wurden 265 von niedergelassenen Nerven�rzten behandelt und verlie�en deren Praxen mit einer Wahrscheinlichkeit von 96,2 zu 100 unter Neuroleptika-Einflu�; die Institutsambulanz der Nervenklinik Berlin-Spandau verabschiedete ihre 108 Stichproben in 94% aller F�lle mit Neuroleptika. Ergebnis: 21% der `langzeitbetreuten psychisch Kranken' entwickelten eine tardive Dyskinesie leichter Form, 18% dieselbe Erkrankung in mittlerer und 20% gar in schwerer Auspr�gung (Kaiser u.a. 1991).

Alle bekanntgewordenen Neuroleptika-Sch�den einschlie�lich t�dlicher Komplikationen treten bei allen Neuroleptika auf, auch den sogenannten schwachpotenten, auch schon nach kurzer Dauer, auch bei geringer Dosis. Nicht zuletzt Hanfried Helmchen, Chef der Berliner Uni-Anstalt und ehemaliger F�hrer des deutschen Psychiatervereins DGPN, warnt in einer internen Diskussion unter Psychiatern vor der gef�hrlichen Illusion, es gebe einen prinzipiellen Unterschied zwischen gef�hrlichen und ungef�hrlichen Verabreichungsmengen. Er beschreibt einen Erstickungsanfall, der in einer Vielzahl von F�llen t�dlich endet (siehe Lehmann 1990, S. 136ff.). Tonoquil ist ein Misch-Psychopharmakon, das u.a. das Neuroleptikum Thiopropazat enth�lt:

In der Berliner Klinik trat bei einem Staatsexamenskandidaten in der Pr�fungssituation ein Zungenschlundsyndrom auf. Nach genauem Befragen war herauszufinden, da� der Betreffende eine Tablette Tonoquil eingenommen hatte; hier scheint die These, da� Minidosen v�llig unsch�dlich seien, doch widerlegt. (1983)

Zuletzt will ich hervorheben, da� Neuroleptika den Behandelten bleibende Nervenerkrankungen einbringen k�nnen, die sie erst richtig verr�ckt machen. Wie Laborversuche der Forschergruppe um Angus Mackay in Schottland zutage brachten, k�nnen Neuroleptika zu einer spezifischen Ver�nderung des Nervensystems f�hren, n�mlich zu einer unnat�rlichen Erh�hung der Zahl der Rezeptoren, d.h. der Empfangsstellen f�r die Nervenimpuls-�bertr�gerstoffe an den Nervenspalten, und damit zu `Schizophrenie'-artigen Zust�nden, auch wenn der Behandlungsgrund keine psychiatrische Diagnose war (Mackay u.a. 1982). Der schwedische Arzt Lars Martensson setzt deshalb die Neuroleptika-Behandlung mit dem Einbau k�nstlich psychotisch machender Substanzen gleich (Martensson 1987). Alle Erfahrungen mit psychiatrischer Langzeitbehandlung gehen in dieselbe Richtung. Die Erstbehandlung ist es, die unbedingt zu verhindern ist, da sie, wie dies auch bei harten Drogen der Fall ist, die Weichen zur Abh�ngigkeit vom psychiatrischen System stellt, der psychiatrischen Industrie bleibenden Absatz verspricht. Dabei spielt es keinerlei Rolle, ob die Anbehandlung, so der psychiatrische Fachbegriff, ohne spezielle N�tigung oder gewaltsam stattfindet.

Klaus D�rner, einer der Chefideologen der Deutschen Gesellschaft f�r Sozialpsychiatrie (DGSP), lehrt den Elektroschock, eine andere zeitgem��e Form psychiatrischer Behandlung:

Wir verwandeln den seelisch leidenden vor�bergehend in einen hirnorganisch kranken Menschen, bei der EKT nur globaler, daf�r k�rzer als bei der Pharmako-Therapie. (D�rner/Plog 1992, S. 545)

Vor der hirnsch�digenden Wirkung des Elektroschocks warnen der amerikanische Neurologe John Friedberg (1976, 1977b) und sein Landsmann, der Psychiater Peter Breggin (1980). Dieser stellt die Zerst�rungen der Nervenzellen in den Mittelpunkt seiner Kritik; die Sch�den kommen durch die epileptischen (Grand mal-) Anf�lle zustande, ausgel�st durch die Stromst��e, die durch das Gehirn gejagt werden. Aber auch die psychischen und geistigen Folgesch�den bringt Breggin eindrucksvoll in Erinnerung, wenn er z.B. den `therapeutischen' Ansatz zweier Elektroschocker kritisiert, die im Kreise ihrer Kollegenschaft ihr Erfolgsprinzip offenbaren:

Nach unserer Ansicht war die Regression des Patienten ausreichend fortgeschritten, wenn er einn��te und einkotete und sich wie ein vierj�hriges Kind verhielt bzw. so sprach. Diese Patienten waren verwirrt, konnten sich nicht um ihre pers�nlichen Belange k�mmern und nahmen ab, obwohl sie a�en - in einigen F�llen die �bliche Menge. H�ufig mu�ten sie gef�ttert werden... Manchmal klingen die Verwirrtheitszust�nde schnell wieder ab. Die Patienten verhalten sich dann, als w�ren sie aus einem Traum erwacht. Ihr Gem�t wirkt wie ein unbeschriebenes Blatt, auf dem wir nun schreiben k�nnen. Im allgemeinen sind sie kooperativ und sehr leicht zu beeinflussen und damit offener f�r Psychotherapie. (Kennedy/Anchel 1948; zit.n. Breggin 1980, S. 191)

Eine exakte Beschreibung von Gehirnw�sche, der nichts hinzuzuf�gen ist au�er der Tatsache, da� seit 1948, dem Jahr ihrer Ver�ffentlichung, die Stromst�rke des Elektroschocks und die jeweilige Dauer seines Vollzugs st�ndig gestiegen sind.

Dreht�rpsychiatrie und gemeindenahe Abschiebeeinrichtungen

Gemeindepsychiatrie gilt immer noch vielen als fortschrittlich. Die Frage stellt sich, in welche Richtung diese Psychiatrie schreitet, ob sie eher im Interesse der an Selbstbestimmung orientierten Betroffenen handelt als die gew�hnliche Anstaltspsychiatrie. Sind Gemeindepsychiater potentielle B�ndnispartner kritischer Psychiatrie-Betroffener?

Gemeindenahe Au�enstellen in Anlehnung an die Psychiatrische `Au�enf�rsorge' vor 1945 hatte schon 1961 der deutsche Psychiater Harald Neumann herbeigesehnt, um durch �berwachungsma�nahmen das `Halten von Schizophrenen' au�erhalb von Anstalten pflegeleicht gestalten zu k�nnen:

Die fr�here M�glichkeit, im Rahmen der nachgehenden Anstaltsf�rsorge verl��liche Unterlagen zu sammeln, ist ja noch nicht wieder m�glich, da man gerade eine Au�enf�rsorge aufzubauen beginnt. Im Vorgriff auf die weiteren Ausf�hrungen sei vermerkt, da� in Zukunft wahrscheinlich die Hauptaufgabe jeder nachgehenden F�rsorge der Psychiatrischen Landeskrankenh�user sein wird, die Dauermedikation entlassener schizophrener Kranken zu �berwachen, um m�glichst viele Kranke drau�en halten zu k�nnen. (1961, S. 328f.)

Tages- und Nacht-`Kliniken' sind der bew�hrte n�chste Schritt nach der Anstalt im System der pharmakologischen und sozialen Total�berwachung:

Nachtkliniken geben dem tags�ber au�erhalb schon voll arbeitenden Kranken die M�glichkeit, abends oder morgens mit dem Arzt zu sprechen, der wiederum die Medikation gut �berwachen kann. Auch k�nnen sich die Rekonvaleszenten hier in einer verst�ndnisvollen Umwelt von den Tagesspannungen entlasten. Durch Nachtkliniken lassen sich fr�hzeitige Entlassungen erm�glichen. Mit Hilfe von Tageskliniken lassen sich hingegen Krankenhauseinweisungen vermeiden. So k�nnen Tagespatienten (z.B. geriatrische [alte] Patienten) �ber Nacht in ihrer Familie verbleiben, w�hrend sie tags�ber in der Tagesklinik betreut werden. In Spezialambulanzen wird der psychopathologische Befund der Kranken �berwacht und die Medikation gesteuert. Vor diesem Hintergrund k�nnen Arzt und nachgehende F�rsorge die weiteren Hilfen f�r den Kranken etwa seitens der �ffentlichen Gesundheits�mter oder der Arbeits�mter oder bestimmter Betriebe koordinieren. Vor allem aber k�nnen sie in engem Kontakt mit dem weiterbehandelnden Hausarzt den psychosozialen Leistungsbereich des Patienten gut absch�tzen und dementsprechend einen wirklichkeitsgerechten Gesamtbehandlungsplan aufstellen. Ein wesentliches Fundament dieses ganzen Systems ist nun die psychiatrische Pharmakotherapie. (Helmchen/Hippius/Tiling 1967, S. 329)

Depot-Neuroleptika spielen in diesem Kalk�l die wesentliche Rolle, so Otfried Linde aus der Pfalz-`Klinik' Landeck:

Da aber die Schizophrenie in der Regel chronisch exazerbierend (verschlimmernd) oder progressiv verl�uft und die Exazerbationsquote direkt mit abh�ngig ist von einer anhaltenden neuroleptischen Medikation, ist eine verl��liche depotneuroleptische Behandlung die conditio sine qua non (unerl��liche Voraussetzung) f�r eine extramurale (au�erhalb der Anstaltsmauern vollzogene) Therapie.� (1976, S. 21)

Der Wiener Psychiater Raoul Schindler kann aufgrund seiner langj�hrigen Erfahrung, in die auch eine f�nfj�hrige Verlaufsstudie an �ber 500 `Schizophrenen', die von konventionellen Neuroleptika auf Depot-Pr�parate `umgesetzt' wurden, eingeflossen ist, stolz berichten: �Der Vormarsch der Depot-Neuroleptika erm�glicht grunds�tzlich eine fast 100%ige Nachbehandlungsdisziplin...� (1976, S. 347)

Wie es zu einer nahezu totalen Dauerbehandlung mit Neuroleptika kommt, auch wenn sich einzelne Betroffene nach der Anstaltsentlassung weiterer neuroleptischer Behandlung entziehen wollen, berichtete Schindler auf dem Kongre� der DGPN 1974 in M�nchen in seinem Bericht �ber die in seinen Augen vorbildliche T�tigkeit der sozialpsychiatrischen Organisation `Pro Mente Infirmis' (`F�r die Geisteskranken'). Innerhalb seiner vier �ber das Wiener Stadtgebiet verteilten Sozialpsychiatrischen Beratungsstellen bietet Schindler den Betroffenen, die er mit Neuroleptika niederspritzen will, ein `intimes' Zusammensein an, das, soweit die Betroffenen dieser psychiatrischen Intimit�t durch Fernbleiben ein Ende machen wollen, durch die Nachstellungen bezahlter LaienhelferInnen bis in die Privatwohnungen der `Schizophrenen' ausgeweitet werden kann, wobei der vollen Entfaltung dieser Intimit�t durch die Gesetze in �sterreich allerdings noch letzte Grenzen gesetzt sind:

In den Beratungsstellen des Referates Psychohygiene bieten wir regelm��ige Gruppengespr�che an, die den oft fehlenden Intim-Gruppenbezug (von entlassenen Schizophrenen haben 36% gar keinen Familienbezug, 14% einen offen ablehnenden) zwar nicht ersetzen, aber doch ann�hern. Wer aus inneren oder �u�eren Motiven daran nicht teilnehmen kann, kann einen Kontakthelfer der Gesellschaft Pro Mente Infirmis bekommen, der ihn zweimal pro Woche aufsucht. Das sind durch einen Kurzlehrgang vorbereitete Laienhelfer (Studenten, Hausfrauen, Pensionisten), deren T�tigkeit entlohnt und durch die Fachkr�fte des Referates Psychohygiene supervidiert (�berwacht) wird. Dadurch k�nnen immerhin 83% zu einigerma�en regelm��iger �rztlicher Kontaktnahme bewogen werden. 56% halten die ihnen vorgeschriebene Medikation auch glaubhaft ein, 17% variieren weiterhin in der Dosis oder lassen einzelnes weg. Mit Depot-Neuroleptika l��t sich die Medikationsverl��lichkeit auf nahezu 100% steigern, sofern der Arzt, f�r ihn ungewohnt, die Wiederbestellung des Pat. vormerkt und sein Fernbleiben registriert. Er kann in solchem Fall wiederum die zust�ndige Beratungsstelle anrufen, worauf ein Sozialarbeiter den Patienten einl�dt oder auch aufsucht. Er kann nat�rlich weder die Medikation noch den Arztbesuch erzwingen, versucht aber die Gegenmotivation zu erheben und gegebenenfalls aufzul�sen... (ebd., S. 350)

Auch die Psychiatrie-Enqu�te, Bibel der bundesdeutschen Reformpsychiatrie, nannte es unbedingt erforderlich, �... den zu Behandlungen nicht oder nicht mehr von selbst erscheinenden Patienten durch hierzu geeignete Methoden nachzugehen.� (Bosch/Pietzcker 1975, S. 360)

Diese sind u.a. im Nervenarzt nachzulesen; genauestens wird hier die psychiatrische Mitarbeiterschaft instruiert, um ihrem Chef zur Verwirklichung seiner `therapeutischen' W�nsche zu verhelfen, z.B. durch `Patientenclubs':

Unser Patientenklub hatte ferner in vielen F�llen eine wesentliche Funktion als Vehikel eines persistierenden (anhaltenden) Dauerkontaktes zur Abteilung. Der Klub war urspr�nglich aus einer Idee der Patienten heraus entstanden und ging auch in den Einzelheiten seiner Gestaltung auf Anregungen und Beschl�sse der Kranken in unseren Versammlungen zur�ck. Er hat durch Jahre hindurch trotz allen Wechsels im einzelnen bez�glich einiger wesentlicher Aspekte eine erstaunliche Konstanz bewahrt. Zun�chst stellte er ein ausgezeichnetes Mittel zur Erg�nzung oder zum Ersatz formalisierter Ambulanzbesuche dar. Es haben sich unter unseren Kranken immer eine Reihe von F�llen gefunden, die aus verschiedenen Gr�nden - von mangelnder Krankheitseinsicht und Widerstand gegen eine Medikation bis zur objektivierbaren Unm�glichkeit, die Zeiten der ambulanten Sprechstunden einzuhalten - in den eigentlichen Ambulanzbetrieb zumindest nicht regelm��ig hineingenommen werden konnten oder einfach nicht mehr in der Sprechstunde erschienen. Manche dieser Patienten kamen aber gleichwohl in den Klub. Die eingespielte Zusammenarbeit der Teammitglieder, die bei den Klubabenden regelm��ig vertreten waren, erm�glichte es - oft �ber Zwischenstufen eines Gespr�chs mit einer Schwester oder gleich mit der Sozialarbeiterin -, auch zu einem �rztlichen Gespr�ch zu kommen, welches dann sehr oft in einem daf�r bereitgehaltenen Nebenzimmer fortgef�hrt werden konnte und sich von einem normalen Ambulanzbesuch einschlie�lich der Regelung von Medikationsverh�ltnissen nicht mehr unterschied. (...) Mit der Kennzeichnung solcher Bindungen als Identifikation mit der Institution selbst scheint uns jenes Moment umrissen zu werden, das wir f�r das entscheidendste halten. (...) Die bei jedem Patienten angelegte Ambulanzkarte lie� s�mtliche station�ren Aufenthalte mit einem Blick erfassen und enthielt als Einsteckblatt eine nach einem bestimmten Schema teilformatisierte Epikrise (abschlie�ende Beurteilung der `Krankheit') bez�glich jeden Aufenthaltes. Zu deren wesentlichem Bestandteil geh�rte die schriftliche Fixierung und Begr�ndung aller vor der Entlassung des Patienten getroffenen Entscheidungen �ber sein weiteres soziales Schicksal wie �ber Medikationsfragen. (Bosch 1971, S. 526-528)

Psychiater schrecken auch nicht vor Hausbesuchen zur�ck, um das dauerhafte Niederspritzen zu gew�hrleisten. Hans-Joachim Haase fordert eine konsequente Haltung vom psychiatrischen `Therapeuten':

Jeder Therapeut sollte den Patienten beim vereinbarten Termin pers�nlich sprechen und den Patienten sogleich aufsuchen bzw. f�r einen Hausbesuch Sorge tragen, falls er zum Termin nicht erscheint. (1976, S. 112)

In seinem Bericht �ber die Sozialpsychiatrische Beratungsstelle (BS) in Hannover-Linden geht der Mitarbeiter Gunther Kruse, ein Sch�ler des DGSP-Ideologen Asmus Finzens, ebenfalls auf den Vollzug psychiatrischer Gef�lligkeiten wie Kaffeerunden ein:

Dienstags und donnerstags werden Kaffeerunden durchgef�hrt. Pers�nlich halte ich diese Angebote f�r die wichtigsten und therapeutisch erfolgreichsten Ma�nahmen der BS. Die Gruppenmitglieder sind zumeist sehr gest�rt, sowohl was ihre sozialen Fertigkeiten betrifft, als auch ihre psychiatrisch relevante (wichtige) Symptomatik mitsamt den sehr unangenehmen Langzeitnebenwirkungen der Neuroleptika (Schmatzbewegungen, Schleuderbewegungen der oberen Extremit�ten). Nachdem man gemeinsam Kaffee und Kuchen zu sich genommen hat, werden Spiele veranstaltet. (...) Etliche erhalten w�hrend der Kaffeerunde Medikamente, haupts�chlich orale (zu schluckende) Depotneuroleptika. (1980, S. 198f.)

Kommt es zur kritischen Verweigerung der Krankheitseinsicht, wird der `Krisendienst' mobilisiert. Dann werden �... n�tigenfalls Hausbesuche durchgef�hrt, einschlie�lich Einkaufen, Ern�hren, Waschen und Medikamentenverabfolgung.� (ebd., S. 198)

Finzen, inzwischen Anstaltsleiter der Psychiatrischen Anstalt in Basel, dem Mekka der Pharmaindustrie, warnt seine Kollegen davor, neuroleptische Dauerbehandlung etwa nur als eine Variante psychiatrischer Behandlungstechnik zu betrachten. Sie ist deren Fundament, und nur auf ihrer Grundlage k�nne sich der behandelnde Psychiater in beruhigender Sicherheit wiegen (1979, S. 107). Und, weiter Finzen, auch dem `Patienten' w�rde durch die in einem besonderen `therapeutischen' Rahmen, n�mlich in `Nachsorgesprechstunden', verabreichten Depot-Spritzen eine bestimmte Sicherheit geboten:

Sie garantiert ihm den regelm��igen Kontakt mit dem Therapeuten, der die Spritze verabreicht. (...) Dieser Kontakt hat im g�nstigen Fall zugleich einen soziotherapeutischen und psychotherapeutischen Charakter. In England und an zahlreichen Orten der Bundesrepublik sind spezielle Depot-Sprechstunden eingerichtet worden. Diese haben nicht nur den Vorteil, da� der Patient immer wieder auf denselben erfahrenen Therapeuten trifft. Er trifft in dieser Sprechstunde zugleich auf zahlreiche Leidensgenossen... (ebd.)

Zentrales Hilfsmittel solcher `beruhigender', clubartiger Niederspritz-Stunden sei die mit Signalcharakter versehene Kalenderkartei der Empf�nger der Depot-Neuroleptika, wie Finzen seiner Kollegenschaft einsch�rft:

Um Behandlungsabbr�chen vorzubeugen, ist es notwendig, eine sorgf�ltige, �bersichtliche Kalenderkartei zu f�hren. Dem Sprechstundenpersonal mu� auffallen, wenn ein Patient nicht kommt. Er mu� noch am gleichen Tag angeschrieben oder am darauffolgenden Tag angerufen werden. Kommt er auch dann nicht, ist bei Problempatienten ein Hausbesuch erforderlich. (ebd., S. 109)

In seinem Lehrbuch �Medikamentenbehandlung bei psychischen St�rungen - Leitlinien f�r den psychiatrischen Alltag� erl�utert Finzen auch sein Rezept, durch welche Tricks er gemeinsamen `therapeutischen' Depotspritzen-Behandlungen den Anschein gem�tlicher Clubtreffen verleiht:

In verschiedenen Depot-Sprechstunden wird diese informelle Clubsituation durch die Verabreichung von Kaffee und Geb�ck sowie die Anwesenheit von Therapeuten in der informellen Situation bewu�t gef�rdert. (ebd., S. 108)

Zum Konzept psychiatrischer Reformen z�hlen die bereits erw�hnten Hausbesuche. In Hannover f�hrten Psychiater exemplarische Untersuchungen durch, die zeigen, da� 87,6% der Hausbesuche nicht auf Veranlassung der Betroffenen, sondern gegen deren Willen und oft genug auf Initiative von Nachbarn, Polizei, Sozialamt, Vermieter, Hauswart und anderen gerade in psychischen Ausnahmezust�nden angsteinfl��enden Instanzen der Obrigkeit zustande kommen (Stoffels 1988).

Den Einflu� zunehmender sozialpsychiatrischer Einrichtungen auf das Niveau von Zwangseinweisungsraten (ZE-raten) untersuchte der Bremer Psychiater und Soziologe Georg Bruns. Er belegt f�r die drei Musterbezirke Stadt Bremen, Land Hamburg und Landkreis Osterholz-Scharmbeck folgende alarmierende Korrelation, d.h. wechselseitige Bedingtheit:

Das unterschiedliche Niveau und der Anstieg der ZE-raten in den drei Regionen korrelieren gleichsinnig mit der ambulanten psychiatrischen Versorgungsdichte. (S. 121)

Je mehr Gemeindepsychiater, desto mehr Zwangseinweisungen. Bruns ist dennoch nicht zufrieden: durch eine zu geringe personelle Ausstattung Sozialpsychiatrischer Dienste ist (f�r ihn und f�r seine nach T�tigkeit dr�ngende Kollegenschaft) die M�glichkeit noch immer nicht ausgeschaltet, da� sich `zwangseinweisungsbed�rftige Zust�nde' innerhalb weniger Stunden entsch�rfen, ohne da� die B�rgerInnen psychiatrisch beobachtet, erfa�t und behandelt werden (ebd.).

Die beste Kontrolle findet nat�rlich in direkt psychiatrisch betriebenen Einrichtungen statt, z.B. in sogenannten besch�tzten Einrichtungen wie `Therapeutischen Wohngemeinschaften' (TWGs) oder �bergangseinrichtungen. Wer oder was in solchen psychiatrischen Wohnungen gesch�tzt werden soll, geht beispielhaft aus dem Berliner Psychiatrieplan hervor, wo es zu solchen TWGs oder auch zu `im Verbund betreuten Einzelwohnungen' hei�t: �Im Anschlu� an eine Akutbehandlung (...) wird in der Wohngemeinschaft die `Lebensschule' fortgesetzt� (�Mitteilung� 1984, S. 27); festgesetzt als typische `Betreuungsaufgabe' ist die ��berwachung der Medikamenteneinnahme� (ebd.).

In der Zeitschrift Psychiatrische Praxis vermittelt Manfred Bauer seine beruflichen Erfahrungen mit der Dreht�rpsychiatrie, die er nach der Einf�hrung der Sektorpsychiatrie in Hannover sammelte; das Anliegen der Sozialpsychiater, die Betroffenen schon fr�hzeitig, vorbeugend und ohne gro�es Aufsehen, wom�glich noch mit deren Zustimmung, zur Anbehandlung in die Anstalt zu schaffen, wird in diesem Bericht besonders deutlich: Die Aufnahmeziffer seiner Psychiatrischen Anstalt schnellte nach Einrichtung der Sektorpsychiatrie besonders bei `Schizophrenen' abrupt nach oben - `trotz' gut ausgebauter ambulanter Dienste (1980, S. 263):

Eine station�re Aufnahme gewinnt in einem gemeindenahen Versorgungssystem jedoch eine ganz andere Bedeutung; sie verl�uft - weil Krisen eher erkannt und ihnen sehr bald begegnet werden kann - sehr selten noch dramatisch. Der insgesamt hohen Aufnahmerate entspricht andererseits eine relativ niedrige Verweildauer, die bei etwa 6 Wochen liegt, wobei bereits nach 20 Tagen die H�lfte aller Patienten wieder entlassen ist. Dies bedeutet gerade f�r chronische Patienten, da� ein Klinikaufenthalt ein unter Umst�nden h�ufiges, aber kurzes Ereignis darstellt im Laufe einer in vielen F�llen sicher jahrzehntelangen ambulanten Betreuung. (ebd.)

Konkrete Aussagen �ber das Ausma� der Dreht�rpsychiatrie dringen nur selten an die �ffentlichkeit. Eine Ausnahme stellen die Zahlen dar, die der Vorsitzende der Bayerischen Bezirke, Georg Simnacher, auf einer Hauptausschu�sitzung seines Verbands nannte:

Nach einer Untersuchung des Bezirkskrankenhauses Haar bei M�nchen kehren 77 Prozent der Patienten innerhalb eines Jahres wieder in die Kliniken zur�ck, 30 Prozent seien bereits innerhalb von vier Wochen nach ihrer Entlassung wieder in station�rer Behandlung. In den �brigen Bezirkskrankenh�usern seien die Verh�ltnisse �hnlich, klagte Simnacher. (�Bezirke� 1989)

Laut Psychiatrie-Enqu�te soll die Psychiatrische Anstalt �... nur einen Knotenpunkt innerhalb eines weitgespannten Netzes vielf�ltiger Dienste darstellen...� (�Bericht� 1975, S. 63) Je n�her die Orte psychiatrischer Behandlung in den Wohngebieten liegen, desto schneller erfahren Psychiater von neuen Behandlungsm�glichkeiten. Unauff�llige Klein-`Kliniken' und Sonderabteilungen in normalen Krankenh�usern erleichtern den psychiatrischen Zugriff, wie Finzen begr�ndet:

Wenn Kranke zu weit von dem f�r sie zust�ndigen Krankenhaus entfernt zuhause sind, besteht die Gefahr, da� sie nicht rechtzeitig aufgenommen werden oder da� kein Kontakt zwischen ihren Angeh�rigen und den behandelnden �rzten zustandekommt... (1971, S. 23)

Ein Charakteristikum der italienischen Reformpsychiatrie ist die Verwendung des Ausdrucks `demokratische Psychiatrie'. Die Z�rcher Psychiaterin C�cile Ernst schildert die gemeindenahe Behandlung speziell in der Modellregion Triest:

�ber die Wirklichkeit der reformierten italienischen Psychiatrie gibt es zahlreiche Berichte und sogar einen Versuch zu einer statistischen Erfassung. (...) In den Stadtquartieren waren ambulante Zentren entstanden. �bereinstimmend melden verschiedene Beobachter in diesen einen hohen Psychopharmaka-Verbrauch (...). Die wenigen psychiatrischen Betten in den Allgemeinspit�lern stehen unter extremem Aufnahme- und Entlassungsdruck, wobei letzterer wieder eine h�chst intensive psychopharmakologische Medikation notwendig macht... (1981, S. 24)

Bei einem Besuch in Triest machte ich mir 1988 selbst ein Bild von der Situation und fand die Berichte C�cile Ernsts best�tigt. Dem Psychiater Karl Beine, f�rwahr kein Neuroleptika-Gegner, ging es nicht anders; er teilt mit, �da� er nirgendwo gesehen habe, wie so sehr mit Haldol `geaast' w�rde wie in Triest.� (B�ttjer 1989, S. 9) 1986 desillusionierte das Psychiater-Ehepaar Ernst erneut alle Hoffnungen, da� `demokratische Psychiatrie' etwas mit Selbstbestimmung der Betroffenen zu tun haben k�nnte. Gem�� seinen Beobachtungen in der norditalienischen Provinz Lombardei unterscheidet sich die Situation der Psychiatrie (die Art der Psychopharmaka-Behandlung, die Dosierung und die hohe Wiedereinweisungsrate) in den neuen Ambulatorien nicht von der Situation in der Schweiz - mit einer Ausnahme:

In einer Hinsicht sind die lombardischen Ambulatorien aktiver als die schweizerischen: sie f�hren in weit h�herem Ma� Hausbesuche durch. 1984 wurde in der Lombardei ein Viertel der Behandelten zuhause aufgesucht, der einzelne Kranke im Mittel neunmal. Vor allem Schwestern und Pfleger gehen in die Familien der Patienten. Dabei handelt es sich am h�ufigsten um j�ngere chronische Schizophrene, welche mit einem Depotneuroleptikum behandelt werden. Die Hausbesuche sichern eine kontinuierliche Medikation... (Ernst/Ernst 1986)

Paolo Crepet, Gemeindepsychiater in Rom, kl�rt im British Journal of Psychiatry �ber die Folgen der italienischen Psychiatriereform auf:

Die wachsende Ausbreitung gemeindenaher Dienste wurde offenbar in keiner Weise von zur�ckgegangenen Klinik-Aufnahmezahlen begleitet: Es steigen die Zahlen von Aufnahmen in Psychiatrische Abteilungen von Allgemeinkrankenh�usern, in private Pflegeheime sowie in Universit�tskliniken. Und es steigt die Gesamtzahl der in der Klinik verbrachten Tage. Daf�r sinken die Zwangseinweisungsrate und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Klinik. (1990, S. 34)

Wie es den Betroffenen innerhalb gemeindepsychiatrisch `betreuter' Einrichtungem geht, beschrieb Tanja Cierpka (1988) in Pro Mente Sana Aktuell. Nach einem Selbstt�tungversuch unter Einflu� des Neuroleptikums Flupentixol (Fluanxol) hatte sie den Glauben an psychiatrisch-psychopharmakologische Hilfeleistung verloren, l�ftete den Schleier und gab den Blick auf das psychiatrische �bergangswohnheim frei, in dem sie untergebracht war:

Die Eindr�cke, die ich in dieser Zeit gesammelt habe, verdichten sich zu einem schaurigen Bild. Da gibt es Menschen, die man nur still auf einem Stuhl sitzen sieht und die �ber den ganzen Tag einen Haufen Zigarettenkippen vor sich auft�rmen und ansonsten keine Lebensregung zeigen. Auf Nachfrage habe ich erfahren, da� diese Leute seit Jahren Neuroleptika verabreicht bekommen und Dauerinsassen in der Psychiatrie sind. Oder der junge Mann, den ich in einem der Wohnheime kennengelernt habe. Der sa� den ganzen Tag in einem verdunkelten Zimmer, seit Jahren, ohne auf die Stra�e zu gehen. Sicher, diese Leute sind unauff�llig und sie sind bequem zu betreuen.

Tanja Cierpka best�tigte damit Berichte in psychiatrischen Zeitschriften, die ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen steigender Psychopharmaka-Verabreichung und abnehmender sozialer Aktivit�t der Insassen und Insassinnen psychiatrisch `betreuter' Wohnheime sprachen (Schmidt u.a. 1977; Lamb 1979).

Durch die Phrasen von Rehabilitation, die die Klinikentlassung psychiatrischen Patienten erm�glicht habe, hat die gemeindepsychiatrische Ideologie das Schicksal dieser Patienten und das Ausma� ihrer Probleme verborgen, denn ein gegen�ber den vorherigen Einrichtungen qualitativ unterschiedliches Programm gab es nicht. Auf vielf�ltige Art setzt sich mit der R�ckkehr von Patienten die kustodiale (Aufseher-) Haltung in der Gemeinde fort, als da� sie an den Toren der Landesanstalten zur�ckbliebe. Rehabilitation ist leider mehr Mythos als Realit�t geworden. (Kirk/Therrien 1975, S. 212)

Die unter Neuroleptika-Einflu� stehenden Betroffenen k�nnen zwar aufgrund der sie behindernden k�rperlichen, psychischen und geistigen Auswirkungen kaum einer geregelten und schon gar nicht einer anspruchsvollen Arbeit nachgehen. Die psychiatrische Industrie mu� deshalb aber nicht auf deren ganzheitliche Verwertung verzichten. Nachdem ihre K�rper schon als lebendiger Absatzmarkt f�r die Ware Neuroleptikum und zur Schaffung von Arbeitspl�tzen f�r psychiatrisch T�tige dienen, bekommen auch alle m�glichen SozialwissenschaftlerInnen ein St�ck vom Kuchen ab. Eine Untersuchung in England mit Anstalts-entlassenen `Schizophrenen' unter Depot-Neuroleptika kam im M�rz 1973 zu folgendem Ergebnis:

Als Schlu�folgerung hebt der Nutzen dieser Behandlung den Bedarf f�r angemessene Gemeindedienste hervor, um mit den zur�ckbleibenden chronischen Behinderungen umzugehen, die f�r diese Patienten charakteristisch sind. (Hirsch u.a. 1973, S. 633)

Klar formuliert die bundesdeutsche Psychiatrie-Enqu�te unter dem Stichwort `Gemeindepsychiatrie' das wesentliche Problem von `Behinderten'-Einrichtungen: Angeh�rigen soll abgenommen werden, rund um die Uhr durch die (Qualen erleidenden und dahinvegetierenden) `Patienten' belastet zu sein, und diese sollen eine ihren - aufgrund der Neuroleptika-Behandlung behinderten - F�higkeiten angemessene Arbeit verrichten:

Das Problem besteht also nicht so sehr darin, ob der Patient Insasse eines psychiatrischen Krankenhauses ist, als vielmehr darin, ob die Umgebung, in der er lebt, (...) dem Patienten die M�glichkeit gibt, trotz seiner Behinderungen ein Leben von angemessener Qualit�t zu f�hren. (...) Daher wird sich der Gedanke einer gemeindenahen psychiatrischen Betreuung nur dort in optimaler Weise verwirklichen lassen, wo eine gen�gende Anzahl von Vorsorge-, �bergangs- und Nachsorgeeinrichtungen vorhanden ist und wo es durch geeignete Hilfsangebote gelingt, die Belastungen der Angeh�rigen zu verringern. (�Bericht� 1975, S. 63)

Es versteht sich von selbst, da� die Wiener Psychiatrie mit ihrer hohen Nachbehandlungsdisziplin auch f�hrend in der Besch�ftigung gemeindepsychiatrischen `Krankenguts' ist. Hier d�rfen die Betroffenen des Wiener Modells beispielsweise in der `Tagesklinik Karl-Wrba-Hof' gemeinsam Kugelschreiber montieren, und zwar orangefarbene, wie in einem Bericht in der bundesdeutschen Zeit extra vermerkt wird, offenbar um die eminent gro�e Lebensfreude zu demonstrieren, die von dieser leuchtenden Farbe in der Psychiatrie gespendet wird (�Guss� 1985).

In Deutschland propagiert D�rner erfolgreich sein Modell der `Selbsthilfefirmen', was ihm viel Bewunderung ansonsten arbeitsloser AkademikerInnen einbringt. Unverbl�mt und exemplarisch ist im DGSP-Rundbrief vom August 1984 das arbeitsplatzschaffende Potential des sozialpsychiatrischen Naturkostladens Koriander in Berlin beschrieben, in dem zwei unter neurotoxischen Psychodrogen stehende `Langzeitkranke' �kologische Produkte verkaufen d�rfen:

Mit den Behinderten werden eine Arbeitstherapeutin und ein Psychologe vollzeitlich sowie eine weitere Arbeitstherapeutin und eine Psychologin auf Teilzeit-/Honorarbasis zusaamenarbeiten. Die psychologische Betreuung wird dar�ber hinaus die bereits angesprochene Planung arbeitspsychologischer Ma�nahmen, die therapeutische Bereuung sowie Kontakte zu Beh�rden, �rzten und sonstigen Betreuern (z.B. aus therapeutischen WGs) umfassen. (Hertrampf/Schneider 1984)

Neuroleptika-Opfer, die in `Behinderten'-Werkst�tten noch nicht einmal die Primitivstarbeit wie z.B. W�scheklammern- oder Kugelschreiber-Zusammenbauen ausf�hren k�nnen, kommen zur Vervollst�ndigung des beruflichen `Rehabilitationsangebots' in sogenannte Besch�ftigungstagesst�tten, wo dann zumindest einige PsychologInnen, Besch�ftigungs-`TherapeutInnen' und SozialarbeiterInnen anspruchsvoll besch�ftigt werden und ihnen Aschenbecherleeren und andere Kunstst�cke beibringen k�nnen (Hogarty 1982; vgl. Lehmann 1990, S. 272f.).

Die neuroleptische Dauerbehandlung wird, wie aus dem Psychiatrie-Lehrbuch Finzens hervorgeht, bereits seit Beginn des psychiatrischen Neuroleptika-Einsatzes `erfolgreich' vollzogen:

Die Erfahrungen mit der Dauermedikation reichen bereits in die Anf�nge der Neuroleptika-Therapie zur�ck. Sie ist geeignet, in der Genesungsphase Restsymptome zu unterdr�cken. (Finzen 1979, S. 103)

Das Problem der v�lligen Entsorgung der von ihren `Restsymptomen' entledigten Dauerbehandelten ist allerdings noch nicht zufriedenstellend gel�st. Notfalls m�ssen die Betroffenen, wenn ihren Anblick au�erhalb der Anstalten niemand mehr ertragen will, zur�ck in die Anstalt gebracht werden; Rudolf Degkwitz, auch ein Ex-Vorsitzender der DGPN, zeigt einen m�glichen L�sungsweg auf:

Dauernde Schmatzbewegungen, dauerndes Herausstrecken der Zunge oder Wackelbewegungen mit dem Unterkiefer sind f�r die Patienten und oft noch mehr f�r die Umgebung recht st�rend. Einer unserer F�lle wurde von den Eltern wieder in die Klinik gebracht, da das ununterbrochene Schmatzen und die Schaukelbewegungen mit dem Oberk�rper in der Familie unertr�glich waren. (Degkwitz u.a. 1966, S. 277f.)

Psychiatrische Zukunft

In den letzten Jahren werden nun vermehrt Stimmen von SozialwissenschaftlerInnen, MedizinerInnen und sogar von einzelnen Psychiatern laut, die die nonchalante Haltung ihrer Kollegen zu den un�bersehbaren Sch�den der Neuroleptika kritisieren. Sie betonen die Unm�glichkeit von Psychotherapien unter Neuroleptika-bedingter emotionaler Vereisung, enth�llen die Behauptung der fr�hzeitigeren Anstaltsentlassung aufgrund der Neuroleptika-Behandlung als Mythos, berichten von der �berlegenheit von Placebos �ber Neuroleptika hinsichtlich `R�ckfall'-Vermeidung und von besseren Arbeitsm�glichkeiten f�r das Team bei Verzicht auf Neuroleptika. Zuallerletzt fordern sie ein striktes Verbot der Zwangsbehandlung mit Neuroleptika, ja sogar das Verbot von Neuroleptika und Schockma�nahmen �berhaupt. JournalistInnen fiel inzwischen sogar unangenehm auf, da� Neuroleptika, mit denen Schweine auf Transporte in Schlachth�user bet�ubt werden, in die Nahrungskette eindringen (und damit auch sie selbst und andere Nichtbehandelte sch�digen k�nnten); der Spiegel zitiert die bundesdeutsche Tierarzneimittel-Zulassungskommission, die vor dem Einsatz von Chlorpromazin, dem Neuroleptika-Prototyp, warnt: �Chlorpromazin steht im Verdacht, zellver�ndernd, krebserzeugend und fruchtsch�digend zu sein.� (�Leben� 1992, S. 183)1

Psychiater, haben sie doch �eine Art feudaler Pfrundherrschaft� (Mazenauer 1984, S. 90) errichtet, so die Schweizer Juristin Beatrice Mazenauer, reagieren lediglich taktisch auf Kritik. Ein �bliches Reaktionsmuster auf Kritik an Behandlungssch�den durch Neuroleptika ist die Forderung nach noch mehr Stellen und Finanzmitteln: Neuroleptika w�rden nur aus Gr�nden eines Pflegenotstands eingesetzt, um Untergebrachte d�mpfen und auf �berf�llten Stationen halten zu k�nnen (��rzte� 1987; Reimer 1987). Oft genug sind es dieselben Psychiater (wie z. B. der ehemalige DGPN-Chef Fritz Reimer aus Weinsberg), die in der normalen Presse den Einsatz chemischer und anderer biologischer Behandlungsmethoden verbal bedauern und mit Personalmangel begr�nden, intern in Verbandszeitschriften jedoch gleichzeitig Mitstreiter f�r den verst�rkten Vollzug beispielsweise des Insulin-Schocks fordern (Heckel/Reimer 1986), einer der brutalsten Behandlungsmethoden (s. Kalinowsky/Hoch 1954, S. 22 - 98) Es sollte bekannt sein, da� in den personell besonders gut ausgestatteten psychiatrischen Einrichtungen, den Uni-Anstalten, am massivsten auf biologische Behandlungsmittel gesetzt wird und da� normale Psychiatrie-`Pfleger' schon zum gegenw�rtigen Zeitpunkt in der Regel pro Schicht nur zwei Stunden zum Austeilen von Neuroleptika, Handt�chern und Essen ben�tigen und die restliche Zeit - anders als die �berstrapazierten Krankenschwestern und -pfleger in Krankenh�usern - meist kaffeetrinkend und schwatzend in ihren Stuben und Wachkabinen sitzen.

Die Psychiater, die bei Kritik an ihrer Behandlung auf den angeblichen Pflegenotstand in ihren Anstalten verweisen, st�rt es auch wenig, da� sie gleichzeitig in allen psychiatrischen Zeitschriften Neuroleptika als angemessene Mittel der ersten Wahl bei `Schizophrenie' und �hnlichen Diagnosen oder als vorteilhafte Medikamente anpreisen2. Luc Ciompi verbl�ffte im Schweizer Fernsehen (�Zyschtigs-Club� am 24. November 1992) gar mit der Behauptung, die Kritik an Neuroleptika-Sch�den sei �berholt, da zu alt, und jetzt gebe es v�llig neue Neuroleptika. Da� sich die Durchschnittsdosis an Neuroleptika in den letzten zwei Jahrzehnten verzehnfacht hat (Finzen; vgl. Eichenbrenner 1990, S. 17), da� in der Zeitschrift Fortschritte der Neurologie - Psychiatrie sogar schon die �berlegenheit �standardisierter Haloperidolbehandlungen im Vergleich zur `ad�quaten individuellen Dosierung'� (Klieser/Lehmann 1992) angepriesen wird, veranla�t keinen aktiven Psychiater zu einem �ffentlichen Wort der Kritik.

Wirkungsvoll, da er bei Laien weitverbreitete �ngste anspricht, ist auch der Hinweis auf die pharmakologische Behandlungsbed�rftigkeit von angeblich gewaltbereiten `Schizophrenen', besonders nach politischen Attentaten; w�rden alle psychisch Kranken unter `eine angemessene Dosierung wahnd�mpfender Medikamente' gestellt, so der Psychiater Heinz H�fner nach den Attentaten auf die Politiker Lafontaine und Sch�uble, w�re das Gewalttaten-Risiko wesentlich geringer (s. �Warnsignale� 1990). Da� sogar, wie im Fall H�fner, die eigenen psychiatrischen Studien immer wieder zum Ergebnis kommen, da� die Kapitalverbrechensrate von `psychisch Kranken' unter dem Durchschnitt der Normalbev�lkerung liegt (H�fner/B�ker 1972; Lindqvist 1986 u. 1989) und die Psychiatrisierten lediglich - weshalb wohl? - in der ersten Zeit nach der Behandlung in einer Psychiatrischen Anstalt vermehrt Straftaten begehen, spielt bei Interviews durch Psychiatrie-gl�ubige JournalistInnen keine Rolle.

Strategisches Ziel von Psychiatern ist, wie sie sich 1989 auf der internationalen �Consensus-Konferenz �ber Richtlinien zur neuroleptischen Rezidivprophylaxe (R�ckfallverh�tung)� im belgischen Br�gge gegenseitig versicherten, die nie endende Neuroleptika-Verabreichung:

Bei Patienten, bei denen es im Rahmen einer fr�heren Erkrankung zu Fremd- oder Selbstgef�hrdung kam, ist an eine zeitlich nicht begrenzte, m�glicherweise lebenslange neuroleptische Rezidivprophylaxe zu denken. (... Deshalb m�ssen Psychiater, P.L.) rasch durch die Schaffung einer entsprechenden Geb�hrenposition in die Lage versetzt werden, die beschriebene Motivationsarbeit in Form psychoedukativer (psycho-erzieherischer) Gruppen f�r Patienten und eventuell auch f�r deren Angeh�rige anzubieten. (Budde 1992, S. 208/211)

Einig sind sich psychiatrisch T�tige schon lange, da� den Betroffenen die Neuroleptika-Auswirkungen lebensl�nglich zugemutet werden sollen. Unter Einbeziehung weiterer psychiatrischer `Medikamente' k�ndigt Bruno M�ller-Oerlinghausen von der Berliner Uni-Anstalt an:

Neuroleptika, Antidepressiva und Lithiumsalze verursachen bei der oft lebenslangen Therapie die verschiedensten Nebenwirkungen, von denen viele als mehr oder minder l�stige Begleitwirkungen entsprechend den herrschenden, therapeutischen Usancen (Gewohnheiten) in Kauf genommen werden und keinesfalls zum Absetzen des Medikamentes, ja oft auch nicht einmal zu einer Dosisreduktion f�hren m�ssen. (1980, S. 248)

Die lebensl�ngliche Behandlung kann m�glicherweise durch neue Psychiatrie-Gesetze sichergestellt werden (Reichel 1980, S. 300f.). Aus den USA ist seit l�ngerer Zeit bekannt, welcher Art diejenigen N�tigungen (`Hilfen') sind, die den Betroffenen von Richtern auf Wunsch von Psychiatern auferlegt werden; David Oaks berichtet:

Es kommt heutzutage vor, da� Richter in der Gemeinde lebenden Personen befehlen, sich regelm��ig bei ihren Sozialpsychiatrischen Diensten zu melden, um dort gespritzt zu werden, und zwar speziell mit Prolixin (Fluphenazin; Dapotum, Lyogen, Omca), dessen Wirkung l�nger als einen Monat anhalten kann. (1982/83, S. 12)

Wenn Psychiater Kritik einmal zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren scheinen, kommen sie �ber ewig gleiche Leerformel nicht hinaus: Behandlungssch�den lie�en sich mit `strenger' Indikation, `kritischer', `richtiger' und `bewu�ter' Verordnung, `weiser' Anwendung und `zur�ckhaltender' Dosierung durch den `vern�nftigen Therapeuten' verhindern, so Finzen in seiner Scheinauseinandersetzung mit PsychiatriekritikerInnen (1990, S. 232ff.). F�llt dem Psychiater dann gar kein Argument mehr ein zur Glaubhaftmachung seines Altruismus, d.h. der Ausrichtung seiner T�tigkeit am Wohle der Mitmenschen, so sollen zuallerletzt die Betroffenen selbst zur Absegung der unerw�nschten Behandlungsauswirkungen herhalten: �Sollen sie etwa bei k�rperlichen Krankheiten erlaubt sein, bei psychischen aber verboten? Vielleicht fragen wir doch einmal den Kranken selber!� (Finzen 1990, S. 241) Exakt dieselbe Begr�ndung benutzen Finzens Kollegen Hans Br�utigam und Rainer T�lle, die just zum richtigen Zeitpunkt einen begeisterten `Patienten' aus dem Hut zaubern, um den Elektroschock wieder hoff�higer zu machen. Br�utigam zitiert den britischen Schauspieler Philip Toynbee, der nach drei Jahren schwerer Depression durch Elektroschocks `von seiner Verd�mmerung erl�st' worden sei (�Wie absurd erscheint mir das ganze humane Geschrei gegen die Elektroschockbehandlung� [zit.n. Br�utigam 1992]), und Rainer T�lle stellt sich selbstlos an die Spitze einer `Patienteninitiative', bestehend aus einem anonymen Melancholiker, und gibt ihm im Mitteilungsblatt der DGPN Raum, um unter Verweis auf �den Mut und die Noblesse� (zit.n. T�lle 1992, S. 127) elektroschockender Psychiater die Stiftung eines Preises �f�r wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Elektrokrampftherapie� (ebd.) zu fordern. Da� Kritiker, von denen es sicher mehr als eine/n anonyme/n gibt, bei Psychiatern grunds�tzlich nicht zu Wort kommen, bedarf keiner n�heren Erl�uterung.

Von welchen Gesellschaftsstrukturen Psychiater bei der Planung der Zukunft der Betroffenen ausgehen, ist u.a. in der Psychiatriezeitung Eppendorfer nachzulesen, wo dem Anf�hrer der Elektroschocker, dem US-Amerikaner Max Fink, Raum zur Werbung f�r den weltweit verst�rkten Elektroschockvollzug (EKT) gegeben wird: �In China sei die EKT weit verbreitet...� (�Wiedergeburt� 1992), S. 28), lesen wir - und sind wenig �berrascht, in Anbetracht der dortigen politischen Verh�ltnisse.

Einen nicht minder interessanten Ausblick auf die `Zukunft der Pharmakotherapie' gibt Finks Landsmann Frank J. Ayd im Vorwort zu dem von ihm selbst herausgegebenen gleichnamigen Buch (�The Future of Pharmacotherapy�), das sich mit Depot-Neuroleptika befa�t:

Dieses Buch ist einer Form neuer Zuf�hrungssysteme von Medikamenten gewidmet, aber ich m�chte Sie gerne f�r einen Moment in die Zukunft f�hren, wie ich sie voraussehe. In anderen Bereichen der Medizin werden bei uns Medikamente bereits implantiert (eingepflanzt) - au�er in der Psychiatrie. In manchen Gebieten der Welt wird eine implantierbare Form von Antabus zur Behandlung von Alkoholismus benutzt. Dies setzt die Medikation allm�hlich �ber eine Dauer von sechs bis acht Monaten frei, bevor ein neues Implantat notwendig wird. Ich glaube, da� es in naher Zukunft andere, neue Wege der Medikamenten-Verabreichung geben wird. Vielleicht wird es m�glich sein, Silikon (eine Kunststoffart) mit einigen Neuroleptika zu impr�gnieren (durchtr�nken). Wenn eine intrauterine (in die Geb�rmutter einf�hrbare) Vorrichtung oder ein Pessar mit einem Neuroleptikum impr�gniert werden k�nnte, w�re eine Minidosis vielleicht wirksam. Von der Erfahrung mit Prostaglandinen wissen wir, da� die Absorption (Aufsaugung) von der Vagina und dem Uterus sehr gut ist. Mehr und mehr w�rdigen wir auch, da� die Verabreichung von Medikamenten durch das Auge, die Wangen- und Nasenschleimhaut und das Rektum (Mastdarm) bestimmt eintretende metabolische Wege (Bahnen im Stoffwechsel, auf denen die Neuroleptika ver�ndert und abgebaut werden) vermeidet. (...) Somit k�nnten wir in den n�chsten Jahren einspritz- oder einpflanzbare Psychopharmazeutika mit m�glicherweise einer Wirkungsdauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr haben sowie die Verabreichung hoher Dosen durch solche Wege f�r jene Patienten, die sie ben�tigen k�nnten.� (1973, S. 8f.)

Nicht nur an neuen Verabreichungsformen, auch an immer neuen Psychopharmaka arbeiten Herstellerfirmen und Psychiater. Ob es sich dabei um die Ausbreitung des Neuroleptika-verwandten Risperidon oder des vegetativ ausgesprochen riskanten Clozapin (Leponex) handelt, um die Erprobung des seines Nachfolgepr�parates Fluperlapin (NB 106-689), um die Kombination aller m�glichen Neuroleptika mit dem Antiepileptikum Carbamazepin (Calepsin, Finlepsin, Neurotop, Sirtal, Tegretal, Tegretol, Timonil) oder um – in der BRD – der Versuch, das wegen Krebsverdachts vom Bundesgesundheitsamt verbotene Penfluridol (Semap) wieder zugelassen zu bekommen: der Markt f�r immer noch `segensreichere' Psychopharmaka ist unersch�pflich.

Angetrieben von arbeitsplatzpolitischen und wirtschaftlichen Interessen vernachl�ssigen Psychiater die Entwicklung neuer `Krankheits'-Bilder keinesfalls. Die verschiedenen Chemieunternehmen, die in ihrem Konkurrenzkampf immer neue Substanzen entwickeln m�ssen, geben Psychiatern noch viel zu tun, wie Helmchen und M�ller-Oerlinghausen mitteilen:

Werden im allgemeinen f�r bekannte Krankheitsbilder Medikamente gesucht, so werden hier f�r interessante Substanzen Indikationen gesucht. Solche �Indikationen� m�gen durchaus au�erhalb konventioneller psychiatrischer Nosologien (`Krankheits'-Lehren) liegen: z.B. Ersch�pfungszust�nde bei �berarbeiteten Managern oder berufst�tigen M�ttern, �Schulm�digkeit�, Konzentrationsst�rungen, aggressive Zust�nde bei Strafgefangenen, schizoide (kontaktarme, ungesellige) oder zyklothyme (durch ausgepr�gte Stimmmungswechsel charakterisierte) Pers�nlichkeitsstrukturen, Empfindlichkeit gegen Ger�usche, leichter Schlaf (...). Wenn wir davon ausgehen, da� unsere Welt immer k�nstlicher, �menschengemachter� werden wird, gleichzeitig die Anforderungen der Leistungs- und Massengesellschaft an unsere psychische Stabilit�t immer gr��er werden, mu� dann nicht jede m�gliche chemische Beeinflussung psychischer Funktionen auf ihre eventuelle soziale Brauchbarkeit hin untersucht werden?� (Helmchen/M�ller-Oerlinghausen 1978, S. 16f.)

Die Situation der Psychiatrie, ihrer Anpassung an den Markt der Neuroleptika und speziell der Depot-Neuroleptika sowie ihre geplante zuk�nftige Entwicklung habe ich deshalb ausf�hrlich dargestellt, um die Ausgangssituation f�r die Umgestaltung der Psychiatrie in Richtung Entpsychiatrisierung und Ausstieg klarzumachen. Hoffnungen, da� von psychiatrisch T�tigen Impulse zur Verbesserung der Situation von Betroffenen ausgehen, sind nicht realit�tsgerecht. Wer k�nnte antipsychiatrisch Gesinnte in ihren Bem�hungen um die Durchsetzung diagnoseunabh�ngiger Menschenrechte und des Rechts auf soziale Unterst�tzung bei sozialen Problemen und psychischen Ausnahmezust�nden zur Seite stehen?

Sind es die organisierten Angeh�rigen, die sich ihre �Handwerksregeln� (D�rner 1987, S. 86) allzugerne von psychiatrisch T�tigen und ihre finanziellen Zuwendungen von g�nnerhaften Pharmamultis (�Jahresbericht� 1987, S. 1) geben lassen und in der Regel �den Patienten in die Behandlung, in die Tagesklinik oder zur Arbeit schicken (... und, P.L.) die Medikamenteneinnahme gew�hrleisten...� (Hubschmid 1991, S. 26)?

Sind es die jungen Psychiater in den modernen Universit�tsanstalten, deren Neigung zur biologischen und besonders reaktion�ren Psychiatrie, so das Ergebnis einer Studie Rudolf Winzens, weitaus h�her ist als die der Psychiater in den gro�en, alten Anstalten (Winzen 1987)?

Sind es die gr�n-alternativen Psychiater und ihre poltischen Freunde und Freundinnen, die, wie beispielsweise die Bezirksr�tin der oberbayrischen Gr�nen, Gabriele Bucerius, Aktionsgemeinschaften mit dem Berufsverband von Nerven�rzten und Pharmafirmen bilden, um finanziell schlecht gestellte Psychiatrische Anstalten Ru�lands ausreichend mit Psychopharmaka zu versorgen (�Medikamente� 1991)?

Sind es linke Psychiater wie beispielsweise Erich Wulff, Leitfigur und Vordenker, dessen fortschrittliches Wirken (u.a. Verteidigung von Elektroschocks und Zwangsbehandlung) von der Deladande Arzneimittel GmbH, von Hoffmann-La Roche, von der Knoll AG, der Sandoz AG und von Ciba-Geigy mit der Finanzierung seines (im Berliner Argument-Verlag erschienenen) Jubelhefts (�Festschrift�) zum 60. Geburtstag belohnt wurde (�Himbeersaft� 1988)?

�brig als Subjekte der Ver�nderung der Situation von Psychiatrie-Betroffenen bleiben schlie�lich nur die Betroffenen selbst. Dies ist im psychiatrischen Bereich nicht anders als in jedem anderen gesellschaftlichen Konfliktbereich auch. Wollen sie nicht zusehen, wie immer weitere Kreise der Bev�lkerung unter Neuroleptika-bedingten Hirnsch�den leiden, und vor allem, wollen sie nicht zu diesen Opfern geh�ren, m�ssen sie sich zusammenschlie�en und Widerstand leisten.

Da� die organisierten Betroffenen eine Gegenmacht aufbauen k�nnten, die den Lack psychiatrischer Allmacht ankratzen k�nnte, haben psychiatrische Strategen wie Finzen allerdings l�ngst erkannt. Der DGSP-Ideologe, der bereits in der Vergangenheit immer wieder machtgef�hrdende Kritik abwiegelte, versuchte, durch regelm��ige Mitarbeit (mit Kaffee und Geb�ck?) schon w�hrend der informellen Gr�ndungsphase des deutschen Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener massiv Einflu� auf seine inhaltliche Zielsetzung auszu�ben (Wenke 1992), um eine unkontrollierte Entwicklung im Keim zu ersticken und den kooperationsfreudigen Teil der `psychisch Kranken' in seiner propsychiatrischen Haltung zu st�rken. Dieser psychiatrische Einsatz zum jetzigen Zeitpunkt �berrascht wenig, hat sich die Antipsychiatrie-Bewegung im deutschen Sprachraum mit der Gr�ndung des Forums Anti-Psychiatrischer Initiativen 1989 in N�rnberg von den Fesseln der studentischen Antipsychiatrie sowie der Reformpsychiatrie gel�st. Da allerdings die Angst vor der eigenen Unabh�ngigkeit auch unter Psychiatrie-Betroffenen recht verbreitet ist, sind Auseinandersetzungen unter ihren Aktiven vorprogrammiert, beispielsweise zu den Fragen, wie die eigenen Interessen zu definieren sind, wie wichtig eine klare Kursbestimmung f�r das weitere Vorgehen ist, wie hemmend oder f�rdernd Koalitionen ausgerechnet mit der institutionellen Psychiatrie sind, ob bei eigenen Verlautbarungen inhaltliche Zugest�ndnisse zu machen sind, um an �ffentliche Gelder f�r Publikationen heranzukommen. Eine gemeinsame Grundhaltung politisch unterschiedlich ausgerichteter Psychiatrie-Betroffener, z.B. in der Forderung nach einem diagnoseunabh�ngigem Recht auf k�rperliche Unversehrtheit, also auch nach einem Verbot der Zwangsbehandlung, k�nnte eine tragf�hige Basis f�r Koalitionen sein: Da Menschenrechte als unteilbar, d.h. nicht relativierbar gelten, m�ssen sie unabh�ngig von Diagnosen, Betreuungs-, Pflegschafts-, Sachwalterschafts- oder sonstiger Vormundschaftsverh�ltnissen gelten und unabh�ngig davon, ob ein einzelner Betroffener bzw. eine einzelne Betroffene in einer speziellen Situation f�r sich selbst den Entschlu� trifft, auf eigene Rechte zu verzichten.

Geld und Rechte!

Die Situation (akuter und eventuell zuk�nftiger) Psychiatrie-Betroffener l��t sich in vielf�ltiger Weise verbessern. Rechtliche Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen (d.h. strafrechtliche Verfolgung von Behandlung ohne Zustimmung), Aufkl�rung �ber Gefahren moderner psychiatrischer Behandlungsma�nahmen und �ber die folgenschweren Gefahren der �bernahme des psychiatrischen Krankheitsmodells, Unterst�tzung individueller Resozialisierungsma�nahmen sowie finanzielle F�rderung Psychiatrie-unabh�ngiger Selbsthilfe- und Unterst�tzungsprojekte (Kommunikationszentren, `Krisen'-Einrichtungen, Weglaufh�user usw.) bei schrittweiser Reduzierung von Finanzmitteln der Anstalts- und gemeindenahen Psychiatrie sind hierbei die Schl�sselbegriffe zur dringend erforderlichen Humanisierung der Lage von Psychiatrie-Betroffenen.

Unabh�ngig davon, ob es bereits zu ihrer Selbstorganisation gekommmen ist, sollten diese darauf dringen, als die ExpertInnen auf dem Gebiet der Definition der eigenen Interessen und der Aufkl�rung �ber Risiken und Sch�den psychiatrischer Behandlung anerkannt zu werden: d.h. in Sachverst�ndigenkommissionen, in politischen Entscheidungsgremien und bei Aus- und Weiterbildungsma�nahmen aller Art aktiv und gestaltend mitwirken zu k�nnen. In �ffentlichen Diskussionen mu� der Versto� der Psychiatrie gegen den �rztlichen Behandlungsgrundsatz: �Nil noscere!� (�Nicht schaden!�) deutlich gemacht werden. Es darf Psychiatern nicht gelingen, weiterhin Neuroleptika- und Elektroschock-Sch�den zu vertuschen.

Da bei Psychiatern und ihren Unterst�tzerInnen mit moralischen Appellen an mehr Menschlichkeit kein Blumentopf zu gewinnen und ein politisches Umdenken in Richtung gesetzlicher St�rkung der Psychiatrie-Betroffenen nicht abzusehen ist, f�llt der juristischen Auseinandersetzung ein zentraler Stellenwert zu. Zwei Sto�richtungen, die, wenn erfolgreich, die Allmacht der Psychiatrie ins Wanken bringen k�nnten, sind der Kampf um die rechtliche Absicherung von Vorausverf�gungen wie dem Psychiatrischen Testament sowie um Schmerzensgeld f�r psychiatrisches Unrecht in Form von `ungerechtfertigter' Unterbringung oder von Behandlungssch�den.

Nicht zuf�llig kam es in den USA, dem ersten Land mit einer entwickelten Gemeindepsychiatrie, zu den ersten gerichtlichen Klagen wegen Dauerbehandlungssch�den. Da� die Klagen auch in finanzieller Hinsicht erfolgreich war, hat mit dem amerikanischen System der Anwaltsbezahlung zu tun, das es Anw�ltInnen erlaubt, an dem erstrittenen Schmerzensgeld in weit h�herem Prozentsatz als hierzulande beteiligt zu werden, was das Engagement in wunderlicher Weise f�rdert. Ein Beispiel von vielen: Wie die Washington Post 1972 meldete, wurden Herstellerfirmen wegen Neuroleptika-bedingten tardiven Dyskinesien, �ber deren m�gliches Auftreten im Laufe der Behandlung nicht aufgekl�rt wurde, schon 1971 zu Schmerzensgeldzahlungen zwischen 90000 und 2 Millionen $ pro Kl�ger verurteilt (Huth 1972); inzwischen ist es in den USA zu einer Vielzahl erfolgreicher Schmerzensgeldklagen gekommen, die den Herstellerfirmen und Anwendern einiges Kopfzerbrechen bereiten.

Ist auch dieseits des Atlantiks mit weit niedrigeren Summen zu rechnen, so werden inzwischen, z.B. in der Schweiz und in Deutschland, Entsch�digungsklagen gegen psychiatrisch T�tige wegen nachgewiesener `ungerechtfertigter' Unterbringung und den damit verbundenen Behandlungssch�den gef�hrt. Zwar wird jeweils ausgerechnet Finzen als gerichtlicher Proze�gutachter f�r eine Schadensbegrenzung und f�r ein Vertrauensvotum an die Psychiatrie im allgemeinen (die Schuldigen: lediglich schwarze Schafe) sorgen, doch der Titel des Buches �ber einen der `F�lle', das Schicksal des Peter L�ser, zeigt programmatisch den einzuschlagenden Weg einer erfolgstr�chtigen Auseinandersetzung: �Die Schleuder Davids - ein Verschwundener rechnet ab� (Fengler/Elfert 1991).

Psychiater wie Helmchen neigen dazu, Kritik an psychiatrischen Behandlungsmethoden und ihren sch�digenden Wirkungen pauschal als �einseitig und ideologisch� (Helmchen 1991, S. 267) abzutun. Zudem sei es wirklichkeitsfremd, in juristischen Regelungen vom Selbstbestimmungsrecht `Psychisch Kranker' auszugehen. Diesen eigene Rechte zuzugestehen, sei abwegig, lediglich, so Helmchen in seinem Nervenarzt-Artikel �Aufkl�rung �ber Sp�thyperkinesen� (in dem es um unterbleibende Aufkl�rung geht), eine �vom Juristen auf der Basis der Denkfigur des vern�nftigen B�rgers konstruierte Norm� (ebd., S. 267). Vermutlich denkt Helmchen daran, von solch `wirklichkeitsfremden' JuristInnen wegen mangelhafter Aufkl�rung �ber das Behandlungsrisiko z.B. einer tardiven Dyskinesie zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt zu werden. Helmchen gesteht:

Es scheint ein gelegentlich sogar qu�lendes Unbehagen �ber das ungel�ste Dilemma verbreitet zu sein, aus pragmatischen Gr�nden und im Interesse des Patienten nicht in �bereinstimmung mit Recht und �ffentlicher Meinung handeln zu k�nnen. (ebd., S. 268)

Die Verbesserung der Rechtsstellung schlie�t auch das Recht auf Einsicht in die (die eigene Person betreffenden) psychiatrischen Akten, deren Korrektur oder Aush�ndigung ein - und zwar als Rechtsg�ter, die unabh�ngig von medizinischen Theorien und psychiatrischen Glaubensrichtungen bestehen. Ich selbst f�hrte eine �ber zw�lf Jahre w�hrende Klage auf das Recht auf Einsicht in meine eigene Akte; im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, wie gro� die Angst der Psychiater ist, m�glicherweise noch vorhandenes Vertrauen von seiten der Betroffenen und ihrer Angeh�rigen zu verlieren, denn auch letztere werden, wenn sie sich auf Gespr�che mit Psychiatern einlassen und Familiengeschichten preisgeben, psychiatrisch erfa�t und beurteilt. Welchen Stellenwert der Kampf gegen psychiatrische Aktenerfassung f�r Psychiatrie-Betroffene einnehmen kann, zeigt der Kampf des weit �ber die Landesgrenzen hinaus bekannt gewordenen, 1925 geborenen Norwegers Arnold Jukler<178>d. Dieser besetzte bereits 1974, nach dem Ende einer dreij�hrigen Psychiatrisierung, die ihm den Verlust seines Arbeitsplatzes und seiner Wohnung eingebracht hatte, die Eingangshalle der Gaustad-Anstalt und forderte die L�schung seines Namens aus den psychiatrischen Akten. Noch heute, 1993, wenn auch unterbrochen von immer neuen Verhaftungen, psychiatrischen Einkerkerungen oder Rausschmi�versuchen, h�lt er nach wie vor stand und hat sich inzwischen h�uslich mit komplettem B�ro, Informationstafeln und Bett in der Eingangshalle niedergelassen (Oaks 1992; Wallcraft 1992).

Wenn sich selbst der Weltverband f�r Psychiatrie, dem die DGPN angeschlossen ist, in der �Deklaration von Hawaii� gegen eine Zwangsbehandlung von Personen ausgesprochen hat, solange sie noch zu klaren Willens�u�erungen (und somit zur Ablehnung, P.L.) f�hig sind (Weltverband f�r Psychiatrie 1977, 1986), so mu� diese einschr�nkende Haltung zur Zwangsbehandlung unbedingt in Gesetzesreformen festgeschrieben werden, um Ansatzpunkte f�r einen weitergehenden Grad der Durchsetzung der Menschenrechte zu sichern. Wo sich politische Parteien finden lassen, die diese Forderung aufgreifen, steht allerdings in den Sternen. Solange gef�hrliche Behandlungsma�nahmen wie Neuroleptika sowie Schockanwendungen von der Art des Elektro- und Insulinschocks noch gesetzlich erlaubt sind, mu� die Forderung dahin gehen, da� sie auf keinen Fall ohne rechtswirksame Einwilligung der Betroffenen vollzogen werden d�rfen, stehen diese unter einem vormundschaftsartigen Verh�ltnis oder nicht. Die immensen Sch�den bei Schockverfahren und bei Neuroleptika stellen dar�ber hinaus die Forderung nach Verbot dieser Mittel auf die Tagesordnung, unabh�ngig von der Unt�tigkeit des mit der Pharmaindustrie personell verflochtenen Bundesgesundheitsamts und dem Wunsch mancher Psychiatrie-Betroffener, diese Mittel verabreicht zu bekommen.

Denkbar ist angesichts der derzeitgen fast v�lligen Rechtlosigkeit ein Zwischenschritt: wenn es darum geht, die Zwangsbehandlung zu verhindern, k�nnte man angesichts der beschriebenen psychiatrischen Bedrohung m�glicherweise eher pragmatisch als an Maximalforderungen ausgerichtet vorgehen. Denkbar ist der Aufbau von Verwaltungsh�rden, z.B. einzuholender Gremienentscheide, wie im U.S.-Bundesstaat Alabama f�r den Fall des gegen den Willen vollzogenen Elektroschocks. Da� verwaltungstechnische Ma�nahmen sehr wohl gegen zwangspsychiatrische Ma�nahmen wirken k�nnen, zeigt die dortige Praxis. Ein Bundesgericht hatte 1973 entschieden, da� der Elektroschock eine au�ergew�hnliche und riskante Behandlungsma�nahme darstelle, die nur vollzogen werden d�rfe, wenn zugestimmt h�tten: 1. die aufgekl�rten PatientInnen, 2. der die Indikation stellende Psychiater, 3. ein weiterer Psychiater, 4. der Medizinische Direktor der Anstalt und ein sogenanntes Extraordinary Treatment Committee (Au�erordentliches Behandlungskomitee), welches durch das Gericht eingesetzt wird. Dieses Komitee wiederum wird gebildet durch 5. einen vierten Psychiater, 6. eine/n Neurolog/in und 7. einen Anwalt oder eine Anw�ltin. Weiterhin ist 8. noch ein Anwalt oder eine Anw�ltin beteiligt, der/die die Betroffenen vertritt. Bei angenommener Urteilsunf�higkeit der Betroffenen, die nicht rechtsg�ltig der Behandlung zustimmen k�nnten, ist der Elektroschock schlie�lich nur nach Gerichtsurteil m�glich. Die Schweizer Psychiaterin C�cile Ernst schreibt �ber die Alabama-Praxis, da� �diese geradezu absurde Komplikation der Behandlung� dazu gef�hrt habe, da� vom Elektroschock in diesem Bundesstaat seit dem Gerichtsentscheid kein Gebrauch mehr gemacht worden sei (Ernst 1982).

H�here Finanzmittel f�r dieselbe unzureichende, ja sch�dliche psychopharmakologisch/gentechnologisch orientierte Psychiatrie bedeuten vermehrte k�rperliche und soziale Folgesch�den. H�here Finanzmittel f�r die Psychiatrie bedeuten auch die Vorenthaltung finanzieller Mittel f�r sinnvolle alternative, innovative (erneuernde), echte Reformmodelle und verstellen geradezu den Blick auf deren notwendige F�rderung. Mit der stufenweisen Reduzierung von Finanzmitteln k�nnte der �berf�llige Ausstieg aus der Psychiatrie begonnen werden. Die gestrichenen Gelder werden ben�tigt zur Finanzierung befriedigender Lebensverh�ltnisse f�r die freikommenden Anstaltsinsassen und -insassinnen: Wohnraum ohne therapeutischen Zwang (bereitzustellen von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften), Arbeitsm�glichkeiten in selbstverwalteten Kooperativen, Starthilfe und Schmerzensgeld f�r die erlittene psychiatrische Behandlung, Entgiftungs- und Kurma�nahmen.

Ein besonders drastisches Problem, das die Forderung nach einem prinzipiellen Verbot von Elektroschocks und Neuroleptika verst�rkt und die Entwicklung von unsch�dlichen Behandlungsmitteln f�r organisch bedingte psychische Sch�digungen dringlich macht, sind die Langzeitsch�den, die eine kontinuierliche Dauerbehandlung ausgerechnet mit Neuroleptika oder zumindest eine sporadische, immer wieder neu aufzunehmende Verabreichung erfordern, um kurzfristig die hirnorganisch bedingten Symptome zu unterdr�cken und sozial �berlebensf�hig zu bleiben. Karl B. Jensen aus D�nemark beschreibt exemplarisch dieses ungel�ste Problem der Langzeitsch�den, f�r deren Linderung dringend weniger sch�dliche Mittel entwickelt werden m�ssen:

Als ich Anfang 20 war, wurde ich von der Zwangspsychiatrie mi�handelt; mein Gehirn wurde mit sehr hohen Dosierungen von Neuroleptika und mit Elektroschocks gesch�digt. Heute, fast 20 Jahre danach, nehme ich wegen der Hirnsch�digungen noch immer Psychopharmaka, allerdings sehr selten und in �u�erst geringer Dosierung: Wenn ich - was vielleicht ein- oder zweimal im Jahr vorkommt - sehr ersch�pft bin oder �berdreht und meine spirituellen Erlebnisse eventuell zu gro�en Raum einnehmen, dann mu� ich mich ein wenig d�mpfen, um weiter meinem Fulltime-Job nachgehen und f�r meine Familie dasein zu k�nnen. Unter solchen Umst�nden kann der Fall eintreten, da� ich mir selbst f�r zwei, drei oder vier Tage sehr kleine Mengen von Neuroleptika der ersten Generation verordne. Das hei�t 0,25 bis 0,5 mg Haloperidol ein-, zwei- oder vielleicht dreimal t�glich. Wenn ich nach zwei bis vier Tagen sp�re, wie die Chemie allm�hlich die Kontrolle �ber die bewu�ten Bereiche meines Gehirns/Denkens erlangt, setze ich ab, vielleicht sogar schon vor diesem Zeitpunkt. Seit 1985 habe ich keinen Professionellen mehr wegen irgendwelcher pers�nlicher `psychiatrischer' Angelegenheiten aufgesucht. Es kommt sogar vor, da� ich sehr geringe Mengen Tranquilizer zu mir nehme, wobei ich neue Arten von Benzodiazepinen bevorzuge, die meine Traumphasen nicht st�ren, zum Beispiel Clonazepam (Rivotril); allerdings bin ich sehr darauf bedacht, nicht abh�ngig zu werden. Meistens trinke ich einfach etwas Alkohol, rauche Zigaretten und nehme Tabletten mit pflanzlichen Wirkstoffen: ein Kombinationspr�parat aus Baldrian und Hopfen (das entspannende Hanfgew�chs, das auch im normalem Bier ist). So komme ich zur Ruhe, wenn es n�tig ist. Ich ern�hre mich stets sehr bewu�t; so stelle ich sicher, da� meinem K�rper gen�gend Mineralstoffe, Vitamine und unentbehrliche Proteine und Fetts�uren zugef�hrt werden. Damit es meinem K�rper, meinem Geist, meiner Psyche und meiner Seele gut geht, bem�he ich mich, jede Nacht ausreichend zu schlafen, nicht zu selten `Liebe zu machen' und mich nicht zu �berarbeiten. Wenn Leute streiten wollen und mich das zu sehr mitnimmt, dann gehe ich. Nat�rlich gibt es nichts aufregenderes, als spirituelle, erleuchtete Bewu�seinszust�nde zu erleben und zu genie�en, aber es ist nicht immer m�glich, in diesen so lange zu verharren, wie ich gerne m�chte - wegen des normalen Lebens mit Job und Frau und zwei kleineren Kindern. Dieser emotionale, mentale und sinnliche Bereich meines Alltgaslebens ist f�r mich von sehr gro�er Bedeutung; ich m�chte ihn um nichts in der Welt missen. (Jensen 1992)

Geld wird auch ben�tigt zur Schaffung einer wirksamen sozialen und psychischen Hilfeleistung unter Kontrolle von Betroffenen und deren Vertrauenspersonen; Weglaufh�user, Krisenwohnraum, Kommunikationszentren, evtl. mit Selbsthilfe-Angeboten, ohne Registration und ohne Zwangsma�nahmen; kurzum Institutionen der Unterst�tzung, in die Menschen nicht mit Polizeigewalt hingeschleppt zu werden brauchen, sondern zu denen sie auch in aufgew�hlten oder verwirrten Zust�nden vertrauensvoll und angstfrei gehen k�nnen. M�gen diese Forderungen nach einem Recht auf Psychopharmaka-freie Hilfe und nach Schaffung und Finanzierung der entsprechenden Einrichtungen auf den ersten Blick utopisch erscheinen: M�chten Sie als ausgerasteter oder depressiver oder vielleicht sp�ter als alter, wehrloser, unbequemer Mensch keine andere Wahl haben als zwischen Elektroschocks und Neuroleptika?

Wie eine akzeptable Zusammenarbeit von Psychiatrie-Betroffenen mit Profis aussehen k�nnte, beschrieb Tina St�ckle: Profis m�ssen vom hohen Ro� ihres eingebildeten Experten-Daseins heruntersteigen; den Vorrang der `menschlichen' Qualifikation gegen�ber der beruflichen erkennen lernen; akzeptieren, da� es Sache der Betroffenen ist zu entscheiden, wer f�r sie arbeitet; die Selbstorganisation der Betroffenen f�rdern und unterst�tzen; auf jegliche Anwendung von Erpressung und Zwang verzichten; die jahrhundertealte Diffamierung der Ver-r�ckten als `Entartete' oder als `Psychisch-Kranke und Behinderte' reflektieren und sich f�r die Abschaffung der Psychiatrie in jeder Form, einschlie�lich der Gemeindepsychiatrie, entscheiden (1983, S. 274f.).

Ein Beispiel f�r einen konstruktiven Beitrag der Zusammenarbeit von Profis und Betroffenen stellt das kalifornische Projekt Soteria dar, das (weitgehend) ohne Neuroleptika und unter der Hauptverantwortung, Entscheidungsbefugnis und Autorit�t sogenannter Laien gef�hrt wurde, d.h. von Nicht-Psychiatern, (ehemaligen) Betroffenen, SozialwissenschaftlerInnen und sonstigen B�rgern: �Der Versuch, die Erfahrungen eines Psychotikers zu verstehen und sie zu teilen, ohne sie gleich zu beurteilen, zu etikettieren, in Frage zu stellen oder abzuwerten�, f�hrte allerdings zu derart guten Langzeiterfolgen, da� der Geldgeber, das National Institute for Mental Health, das Projekt liquidierte (Mosher/Menn 1985).

Da� es ratsam ist, nicht auf Initiativen von oben zu warten, sondern schon heute eine Gegenmacht zur Psychiatrie aufzubauen, zeigen die mannigfachen, �ber viele L�nder verstreuten mehr oder weniger antipsychiatrischen Selbsthilfe-Organisationen. �ber selbstverwaltete Initiativen und Kommunikationszentren hat beispielsweise die US-Amerikanerin Judi Chamberlin bereits 1979 mit ihrem �On Our Own. Patient-Controlled Alternatives to the Mental Health System� (�Auf eigene Faust. Patienten-kontrollierte Alternativen zum psychiatrischen System�) einen lesenswerten Bericht vorgelegt. In �Die Irren-Offensive� (1983) zeigt Tina St�ckle, worauf es beim Zusammenschlu� von Betroffenen ankommt: Kampf gegen die Psychiatrie und f�r Menschenrechte; kollektive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen; Befreiung vom psychiatrischen Einflu�; Verst�ndnis f�r den Sinn des Wahnsinns; Autonomie und pers�nliche Entfaltung; kritische Auseinandersetzung mit sogenannten ExpertInnen; Widerstand gegen Fremdkontrolle sowie Abbau von Machtverh�ltnissen innerhalb der Gruppe.

Um konkret den Kampf um Geld und Rechte aufzunehmen, ist eine Vereinigung aller Psychiatrie-kritischen Kr�fte vonn�ten. Selbstorganisation, Zusammenschlu� mit antipsychiatrisch gesinnten Nicht-Betroffenen und Koalitionen mit emanzipatorisch ausgerichteten sozialen und politischen Gruppierungen erg�nzen sich hierbei. Auch Einzelk�mpferInnen wie der erw�hnte Arnold Jukler<179>d k�nnen eine ernstzunehmende multiplikatorische Wirkung entfalten, wie auch einzelne anti- und nichtpsychiatrische Pilotprojekte, die wieder Hoffnung auf ein psychiatrisch unbehelligtes Leben machen.

Als Sammelbecken f�r einzelne und Gruppen, die Wege zum Ausstieg aus der Psychiatrie gemeinsam erforschen und beschreiten wolle, hat sich im deutschsprachigen Raum im Oktober 1989 das Forum Anti-Psychiatischer Initiativen gegr�ndet. Seine Positionen formulierte FAPI im April 1990: Basis ist die Ablehnung des diffamierenden Krankheitsbegriffs, der Gemeinde- und gentechnologischen Psychiatrie, die Forderung nach dem Verbot von Neuroleptika, Elektroschocks und Zwangsbehandlung �berhaupt, der Absicherung des Psychiatrischen Testaments, der finanziellen Unterst�tzung psychiatrieunabh�ngiger Selbsthilfe-Organisationen und psychopharmakafreier Weglaufh�user, nicht-psychiatrischen Ver-r�cktenh�usern, Wohnungen und dem Aufbau freier Kooperativen (�Alternativen� 1990).

Um FAPI bei seiner st�ndigen Suche nach tatkr�ftigen Mitgliedern zu unterst�tzen, ist in diesem Buch im Anschlu� an das Verzeichnis der Adressen Psychiatrie-kritischer Organisationen ein Musterbrief abgedruckt, der auch zur�ckhaltenden Interessierten einen Weg zur Kontaktaufnahme bieten und beim Finden von Gleichgesinnten helfen soll.

Nichtpsychiatrische Alternativprojekte als Beitrag
zum Ausstieg aus der Drehtürpsychiatrie

Am Beispiel des Berliner Projekts Weglaufhaus

Es gibt kaum ein Anliegen in der heutigen Psychiatriediskussion, das wichtiger w�re, als die Erfahrung der Zwangsanhaltung (Zwangsunterbringung) zu vermeiden. Abgesehen von der sozio�konomisch schwer durchsetzbaren M�glichkeit, s�mtliche repressive Anstalten abzuschaffen, ist die Idee, sie mittels alternativer Einrichtungen zu umgehen, wahrscheinlich am ehesten durchf�hrbar. Das Berliner Weglaufhausmodell (Wehde 1991) ist in diesem Sinne nicht nur ein notwendiges, sondern ein besonders vielversprechendes Unternehmen, das den Kern einer menschlichen und gewaltfreien Betreuung in sich birgt.

Menschen, deren Lebensweg sie in Richtungen f�hrt, die einerseits zu Irrwegen erkl�rt werden, andererseits wohl zu immensem Leid beitragen, haben fast keine Chance, auf diesem Weg st�tzend und gewaltlos begleitet zu werden. Falls sie sich an Einrichtungen psychiatrischer Art wenden, gehen sie immer das Risiko ein, missverstanden, abgekanzelt, eingesperrt und chemisch �berrumpelt zu werden. Oft ziehen solche Menschen es vor, diese Leiden und/oder unbequemen Gef�hle in ihren eigenen vier W�nden oder im Rahmen ihrer Familie zum Ausdruck zu bringen. Im schlimmsten Fall isolieren sich viele fast v�llig von ihrer Umwelt, nur um zu vermeiden, dass ihre an sich eventuell schmerzhaften Erfahrungen noch zus�tzlich durch psychiatrische Massnahmen versch�rft werden.

Wenn man sich diese Massnahmen n�her ansieht, werden die Gr�nde f�r ein solches Verhalten leicht einf�hlbar. Das Umschlagen von gesellschaftlicher Aussonderung in amtliche Gewalt geschieht oft so dramatisch und unerwartet, dass dies nur zu einer Verschlimmerung der jeweiligen Gef�hlslage f�hren kann. Die unmenschlichen und entw�rdigenden Vorg�nge bei der Einlieferung in sogenannte Heilanstalten sind zwar weitbekannt, aber in ihrer Auswirkung wohl noch immer untersch�tzt. Eine solche Gefangennahme wird fast immer durch gewaltsame Verabreichung von Substanzen bekr�ftigt, deren erste Wirkung meist eine innere Verschn�rung des K�rpers, ein Unterbrechen des Denkens und ein Abt�ten der Gef�hlswelt mit sich bringt. Dass sie, eigentlich als Nebenwirkung, auch manche `Symptome' aus der Erlebniswelt des Eingelieferten unterdr�cken, tr�gt oft mehr zu dessen Verstummung als zur Besserung bei.

Die Langzeitwirkungen dieser Institutionalisierung sind betr�chtlich und treten erstaunlicherweise recht fr�h ein. Was heisst, dass ein Mensch nach zwei- bis dreimaliger Wiederholung dieses Vorganges bereits ein betr�chtliches St�ck in seiner bzw. ihrer `Patientenkarriere' vorgedrungen ist. Dass eine solche mit anderen Berufen und Berufungen kaum vereinbar ist, hat die Erfahrung gezeigt.

Das Sch�dliche an der psychiatrischen `Versorgung' liegt allerdings nicht allein in den Auswirkungen der Langzeit-Institutionalisierung, sondern zumindest ebenso im Teufelskreis zwischen station�rem Aufenthalt, Entlassung, relativ kurzem Dasein in der `Gemeinde' und nahezu unvermeidlicher Wiederaufnahme. Dieser Ablauf, von Psychiatern als `Dreht�rph�nomen' bezeichnet und haupts�chlich einem neuerlichen `Schub' zugeschrieben, verhindert jede M�glichkeit zur Begehung eines selbst�ndigen Lebenswegs abseits von psychiatrischer Intervention. Sobald ein Mensch in den Spinnweben der Anstalts- und Gemeindepsychiatrie gelandet ist, gibt es fast keinen Ausweg aus dieser Verhedderung.

Die Durchbrechung dieses auch von Psychiatern auf �ffentliche Kritik hin gelegentlich als sch�digend bezeichneten Teufelskreises ist eines der wichtigsten Anliegen aller, die einmal darinnen gefangen wurden. Gelungen ist dies aber bis heute keinem der vielen `fortschrittlichen Versorgungsmodellen'. Manchmal k�nnen zwar Menschen nach langj�hriger Institutionalisierung von der Anstalt ferngehalten werden: dies allerdings durch eine neuerliche Abschottung mittels mehr oder weniger hochdosierter Neuroleptika und dr�ger `Tageskliniken', wo nichts anderes als das dauernde Best�tigen der endg�ltigen und unwiderruflichen `Patientenkarriere' stattfindet.

Als Fazit kann man wohl sagen, dass beinahe jede Verweigerungsstrategie sinnvoller und menschlicher ist, als sich dem sogenannten Behandlungsangebot der Psychiatrie zu verschreiben. Dieser Widerstand kann sich durch ein Weglaufhaus zu einer Reihe von hilfreichen und entschieden antipsychiatrischen Ansätzen weiterentwickeln. Ein Asyl im ursprünglichen Sinne des Begriffs anzubieten, das einfach gewaltfrei sein muss, ist ein edles und wichtiges Anliegen. Die Möglichkeit, von `medikamentöser' Zwangsbehandlung zu einfühlendem Verständnis von diversen Lebenswegen und Erfahrungen zu gelangen, ist wahrscheinlich der auch wissenschaftlich wertvollste Anspruch des Weglaufhausprojekts. Hier geht es sowohl um ungefährliche Entgiftungsstrategien, die beinahe als Entzug zu bezeichnen sind, wie um die Vermeidung und Behandlung von Langzeitschäden der Neuroleptika, als auch um die Entwicklung von neurophilen (nervenschonenden) Behandlungsmethoden. Letztere bedürfen einer weitgehenden Neuausrichtung der sanktionierten Forschungswege, da sie sich wohl in Richtungen vortasten müssen, die bis dato von pharmazeutischer Machtpolitik blockiert sind. Wenn das Weglaufhaus auch in diesem Bereich anregend wirken kann, so hat es seine Mission bereits weitgehend übertroffen.

Ein weiterer wesentlicher Neuansatz, der in einem Weglaufhaus in den Vordergrund treten kann, ist der Beitrag von Psychiatrie-Betroffenen, die sich dieser Aufgabe widmen wollen. Ein Verständnis, das der eigenen Erfahrung mit inneren und äusseren Zwängen oder anderen Denkweisen entwächst, ist vielleicht das am besten eingestimmte Instrument zur Verständigung mit anderen, die sich erst am Anfang ihrer Erfahrungen befinden.

Der Wert von Weglaufhäusern für viele, deren Inneres sich gegen die Umklammerung der Psychiatrie aufrichtet, ist daher unbestritten; ihr Wert in der Weiterführung der antipsychiatrischen Diskussion ebenso. Der dahinterliegende Ansatz, Psychopharmaka durch menschliche und von Betroffenen entworfene Strategien zu ersetzen, ist wahrscheinlich heute die einzige Hoffnung auf eine wirklich umfassende Erneuerung und ein Wegkommen von den Irrwegen der Psychiatrie.

Aufgaben antipsychiatrischer Aktivistinnen und Aktivisten

Bemerkungen eines ‘schizophrenen' Unruhestifters

Die Zersplitterung der Antipsychiatrie-Bewegung können wir nicht länger tatenlos hinnehmen. Hier sind einige der dringendsten Aufgaben antipsychiatischer AktivistInnen, die ich im Rahmen meiner Kräfte mit in Angriff nehmen will. Ich möchte Starthilfe leisten bei anderen Beschwerdezentren und Fürsprechergruppen, die ehemalige Betroffene als FürsprecherInnen für die Rechte derzeitiger Insassinnen und Insassen ausbilden. Wir müssen in die Institutionen und Gefängnisse hineingehen, die Betroffenen über ihre Rechte und die Gefahren von Elektroschocks und Neuroleptika aufklären sowie sie unterstützen, ihre Rechte durchzusetzen, um die Lügen der Psychiatrie und der Regierung und ihre unterdrückerischen Maßnahmen zu bekämpfen. Ich möchte Informationen über Schock-’Behandlungen', psychiatrische Psychopharmaka, Selbsthilfe-Alternativen, bürgerliche und Menschenrechte in der Hand eines jeden Anstalts- und Gefängnisinsassen und einer jeden Anstalts- und Gefängnisinsassin sehen. Natürlich müssen wir uns in den Stationen und in den Gefängnissen dieser Herausforderung stellen. Und wenn wir hierzu zivilen Ungehorsam brauchen, dann ist dem so.

Psychiatrie-Betroffene und ihre Verbündeten sollten sich viel mehr zu Wort melden und häufiger Demonstrationen veranstalten. Diese Arbeit muß von uns, den Unterdrückten, geleistet werden. Wir müssen die rechtliche Aufklärungsarbeit verstärken; wir müssen mehr in Erscheinung treten, uns mehr Gehör verschaffen; wir brauchen mehr Kontakt zu unseren Bruder- und Schwesterorganisationen: Gruppen von Anstaltsinsassinnen und -insassen, Knast-, Frauen- und Friedensgruppen, Psychiatrie-’Nutzer'-Vereinen und entsprechenden Bündnissen. Wir müssen überall nach Gleichgesinnten suchen. Jeder Staat, jedes Bundesland und jede Region braucht eine eigene aktive antipsychiatrische Kerngruppe. Wir müssen auf die Straße gehen, unsere Zeitschriften und anderes antipsychiatrisches Material in psychiatrischen Einrichtungen und Gefängnissen kostenlos verteilen, mehr Konferenzen oder Workshops veranstalten und lokale Komitees bilden. Und wir müssen ins Fernsehen, damit wir unsere eigenen Schicksale in unseren eigenen Worten schildern können, um gegen die vielen bösartigen Lügen über ‘Geisteskrankheit', ‘Schizophrenie', ‘gefährliche Psychiatriepatienten', ‘therapeutischen Nutzen der Medikation und Elektroschocks' anzugehen – Lügen, die von Psychiatern, ihren MitläuferInnen und den Medien massenhaft produziert werden. Es muß einzelne Leute und Gruppen geben, die diese schwierige Arbeit tun.

Das alles dient dem Zweck, eine breite antipsychiatrische Koalition aufzubauen. Um dies in Gang zu bringen, reicht eine Handvoll Leute, egal, wo sie sich befinden. Die erste antipsychiatrische Insassengruppe Nordamerikas beispielsweise wurde 1948 in einer der repressivsten Institutionen der Vereinigten Staaten gegründet, dem Rockland State Hospital, einer Psychiatrischen Anstalt in New York. Die Gruppe nannte sich WANA (We are not alone; Wir sind nicht alleine). Ich stelle mir vor, daß dort einige der InsassInnen sagten: »Wir machen diesen Scheiß nicht mehr mit! Dreckiger kann es uns nicht mehr gehen, laßt uns kämpfen!« Und das taten sie auch.

Schwarze, Eingeborene, Schwule und Lesben, Frauen, Kinder, Gefangene, Alte und viele andere, sie alle wurden und werden von Psychiatern und dem Staat diskriminiert und schikaniert. Ein einzelner Mensch oder eine kleine Gruppe kann eine Lawine ins Rollen bringen. Eine einzige ‘kontroverse' oder abweichende Stellungnahme, ein einzelner Akt des Protests oder des zivilen Ungehorsams kann wie ein Blitz einschlagen und die Macht der Finsternis beenden. Nach meiner Überzeugung sitzt in jeder psychiatrischen Einrichtung und in jedem Gefängnis mindestens eine Person, deren Kampfgeist noch nicht erloschen ist. Wir müssen diese Multiplikatoren ausfindig machen und unterstützen.

In meinem Kampf, meinem Krieg gegen die Psychiatrie kann und will ich keine Kompromisse schließen, weil die Psychiatrie zutiefst pervers und entmenschlichend ist. Es widert mich total an, wenn ich einen ‘guten' Seelenklempner sehe, wie er sich in aller Ruhe zu Ihnen setzt, sich mit Ihnen unterhält, Ihnen den Kopf tätschelt, Sie etikettiert und Ihnen ein ‘antipsychotisches Medikament' verschreibt. Das ist genau derselbe verlogene, herablassende, entwürdigende Mist, den wir schon immer hatten. Wer braucht das?

Wir, die wir gegen unseren Willen eingesperrt, diagnostiziert und behandelt wurden, ohne Anhörung oder Gerichtsverfahren, wir sind nicht psychisch krank, manisch-depressiv oder schizophren und waren es auch nie. Wir sind einfach wütend, traurig, verwirrt, nervös oder unangepaßt. Wir müssen uns weigern, diese vernichtenden Begriffe nachzuplappern und die Quälereien hinzunehmen, wir müssen der Wahrheit ins Gesicht schauen. Wahr ist, daß wir eingesperrt und gefoltert werden aufgrund dessen, was wir fühlen/denken/glauben, und daß wir uns entsprechend verhalten, denn andere Leute halten unsere Überzeugungen für geisteskrank, psychotisch oder bedrohlich: weil wir Stimmen hören, die andere nicht hören; weil wir Dinge sehen, die andere nicht sehen; weil wir dabei erwischt werden, wie wir mit uns selbst oder mit der Vorstellung von unserem Selbst reden, weil wir zu lautstark sind, DissidentInnen, Andersdenkende.

Ich hatte überhaupt nichts verbrochen, als man mich für mehr als ein Jahr einsperrte, mich als schizophren abtat, mir meine Freiheit nahm und mich mit Insulinschocks folterte. Man behandelte mich als Staatsfeind, genauso wie Millionen anderer Menschen. Deshalb bezeichne ich Psychiatrie-InsassInnen als politische Gefangene – Menschen, denen zu Unrecht die Freiheit und andere Menschenrechte vorenthalten werden und die man foltert, weil sie an abweichenden Werten und Überzeugungen festhalten. Amnesty International sieht das anders, aber unter dem Deckmantel der ‘Therapie' und ‘Behandlung' geschieht das Unrecht nach wie vor: nicht nur in der früheren Sowjetunion, sondern auch in Ländern der ‘freien Welt' wie z.B. Kanada und den Vereinigten Staaten. Naiverweise geht Amnesty International (einschließlich seiner psychiatrischen Berater) davon aus, daß es in der freien Welt keine politischen Gefangenen und keine psychiatrischen Folterungen gibt.

Wir schulden es uns selbst und den anderen InsassInnen, die psychiatrische Unterdrückung zu beenden, die ganze Psychiatrie zu beseitigen, all die psychiatrischen Gefängnisse, die sich als Krankenhäuser ausgeben, zu schließen und damit fortzufahren, eigene und humane Alternativen, von denen es einige bereits gibt, zu entwickeln und zu fördern. Dann, und nur dann, werden wir wahnsinnig viel freier sein und in Würde über unser Leben selbst bestimmen. Solange es noch eine Psychiatrie-Insassin gibt, noch einen politischen Gefangenen, ist keine/r von uns frei. Wir haben die moralische Verpflichtung, uns selbst von der Tyrannei der Psychiater zu befreien. Wir können siegen und wir müssen siegen. Vereint sind wir unbesiegbar!

Anmerkungen

(1) Im veterinärmedizinischen Bereich finden dieselben Neuroleptika, wie sie auch in der Psychiatrie verwendet werden, ihren Einsatz: zur Ruhigstellung aggressiver Schweine und Ziegen oder widersetzlicher und unleidlicher Zootiere etwa beim Beschlagen, Scheren oder bei Ausstellungen und zur Ausschaltung natürlicher Abwehrbewegungen bei diagnostischen und therapeutischen Eingriffen an Pferden, Rindern und Hunden (Petrausch 1987).

(2) Helmchen und seine Kollegen Linden und Rüger machen deutlich, daß es Hauptaufgabe psychiatrischer Psychotherapie sei, die Dauerbehandlung mit Neuroleptika zu sichern: »Unter psychiatrischer Psychotherapie ist somit die Anwendung definierter psychischer Mittel zur (Mit-)Behandlung psychiatrischer Krankheiten zu verstehen. Sie ist damit gegen andere Verfahren und Aktivitäten psychischer Einflußnahme wie Pädagogik, Seelsorge, Sozialarbeit, Beratung und mitmenschliche Hilfe abzugrenzen...« (Helmchen/Linden/Rüger 1982a, S. 340) Psychiatrische Psychotherapie ist in aller Regel nur Mittel zum Zweck: »So kann etwa bei schizophrenen Psychosen die Indikation für eine komplettierende supportive (unterstützende) Psychotherapie gegeben sein, die die Compliance (Willfährigkeit) für eine rezidivprophylaktische (‘rückfallvorbeugende') Langzeitmedikation verbessert...« (Helmchen/Linden/Rüger 1982b, S. 8)

»Psychiatrie, Gemeindepsychiatrie, Antipsychiatrie, Nichtpsychiatrie«: Peter Lehmann

»Nichtpsychiatrische Alternativprojekte als Beitrag zum Ausstieg aus der Drehtürpsychiatrie«: Peter Stastny

»Aufgaben antipsychiatrischer Aktivistinnen und Aktivisten«: Don Weitz

Don Weitz: aus dem englischen Kanadisch von Rainer Kolenda

Anmerkung d.H.

Don Weitz' Beitrag ist ein Auszug aus seinem Artikel »Notes of a ‘Schizophrenic' Shitdisturber« (S. 295 – 302), original veröffentlicht in: Bonnie Burstow / Don Weitz (Hg.): »Shrink Resistance. The Struggle Against Psychiatry in Canada«, Vancouver: New Star Books 1988, S. 285 – 302