Quelle: Kerstin Kempker / Peter Lehmann (Hg.), �Statt Psychiatrie�, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1993, S. 96 – 122. Vergriffen. Info zum Buch siehe http://www.antipsychiatrieverlag.de/verlag/titel/sp-1993.htm

 

Jeffrey M. Masson

Die Tyrannei der Psychotherapie

 

Nach der Veröffentlichung meines Buches: »Against Therapy: Emotional Tyranny and the Myth of Psychological Healing« (1988; »Die Abschaffung der Psychotherapie«, 1991a) (1) lautete die häufigste Kritik, die ich zu hören bekam, wenn ich irgendwo in den USA Vorträge hielt, daß mein Buch lediglich eine Auflistung der schlechtesten TherapeutInnen sei, die je gelebt hätten, und daß ich es scheinbar darauf angelegt hätte, die schlimmsten Mißbräuche, die diese TherapeutInnen je begangen hätten, aufzudecken (2). Begleitet wurde das meistens von einem Kommentar wie dem folgenden:

Frage: Ich gehe zu einem kaum bekannten Therapeuten, eigentlich ist er v�llig unbekannt. Sie werden wohl nie von ihm geh�rt haben. Er hat keine B�cher ver�ffentlicht, er schreibt keine Artikel, er spricht auf keinen Konferenzen. Er ist einfach ein guter Therapeut, ohne irgendeine Anma�ung oder Arroganz, welche Sie mit solcher Hingabe beschreiben. Was sagen Sie dazu?

Ich: Also, es ist nat�rlich wider Erwarten immer m�glich, da� Sie an so einen Menschen geraten sind, wenn es auch nicht sehr wahrscheinlich ist. Ich mu� Ihnen auch sagen, da� Ihre Angaben nat�rlich nicht zu �berpr�fen sind. Das ist ein Problem, das mich sehr besch�ftigt. Wie wei� ich, ob Sie recht haben? Ich meine, wie kann ich wissen, da� die Person, die Sie beschreiben, wirklich so ist, wie Sie sie beschreiben? Die `ber�hmten' Namen, die ich in meinem Buch anprangere, kann ich deshalb beurteilen, weil ich sie nicht pers�nlich zu kennen brauche. Ich bin nicht auf (wahre oder falsche) Ger�chte angewiesen, um bestimmte Urteile �ber sie zu f�llen, da ich ihre eigenen Aufzeichnungen vor mir habe.

Und es ist tatsächlich nicht sehr schwierig, TherapeutInnen zu demaskieren, besonders wenn sie zu Ruhm gelangt sind. Wir brauchen nur zu lesen, was sie geschrieben haben, und früher oder später werden wir finden, was wir brauchen. Es erstaunte mich, als ich z.B. Fritz Perls las: In peinlicher Genauigkeit und offensichtlich voller Stolz erzählte er selbst, wie er es genoß, seine Patienten herabzusetzen, sexuell anzugreifen und ganz allgemein zu mißbrauchen. Als ich in Esalen, Kalifornien, war, wo er residiert hatte, hörte ich viele Augenzeugenberichte über Menschen, die von ihm lächerlich gemacht worden waren und die sich anschließend töteten. Aber ich hörte nicht selten auch Bemerkungen wie die folgende: »Nun ja, Perls tat viele der Dinge, die Sie ihm vorwerfen, und noch viel mehr und schlimmeres; trotzdem bedeutet das nicht, daß er kein guter Therapeut war. Immerhin behauptet ein Therapeut nicht, oder sollte zumindest nicht behaupten, daß er ein perfekter Mensch sei.« Perfekt? Es ist sicherlich weniger als Perfektion, die wir von TherapeutInnen fordern, wenn wir von ihnen erwarten, im Umgang mit ihren PatientInnen kultiviert und höflich zu bleiben, sie nicht zu schlagen oder sie um finanzielle oder sexuelle Gefälligkeiten zu bitten oder sie gar in die Selbsttötung zu treiben (3). Darüber hinaus zu behaupten, wie viele meiner KritikerInnen es taten, daß ich Angriffe auf die Person unternahm, heißt zu vergessen, daß das Werkzeug eines Therapeuten bzw. einer Therapeutin seine bzw. ihre Person ist, und wenn diese Person korrupt ist, dann ist die Psychotherapie dazu bestimmt, diese Korruption widerzuspiegeln (4).

Was zweifelsohne hinter Perls' �berzeugung steckte, straffrei handeln zu k�nnen, war die in unserer Gesellschaft weit verbreitete Vorstellung, da� TherapeutInnen allein aufgrund der Tatsache, da� sie diese Bezeichnung tragen, Zugang zu gr��erem Wissen �ber die menschliche Seele haben und deshalb berechtigt sind, Dinge zu verk�nden, die vom Rest der Gesellschaft ansonsten als aufgeblasen, arrogant und ungerechtfertigt bezeichnet w�rden. Ein typisches Beispiel stammt aus dem bekannten Buch �Im Zeitalter der Sucht� (1991) von Anne Wilson Schaef :

Eine meiner Klientinnen -- eine ehemalige Alkoholikerin -- litt unter einer fr�heren Aff�re ihres Mannes. Sobald sie in ihre Krankheit abrutschte oder in die Muster des trockenen Trinkers zur�ckfiel, drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Das h�rte sich dann etwa folgenderma�en an: �Ich wei�, da� er nicht mehr mit ihr zusammen ist... aber ich habe trotzdem Angst, da� er mich bel�gt... Was ist, wenn er wieder mit ihr zusammensein will?... Oder wenn er es vielleicht schon ist?... Ich bin eine Stunde durch die Stra�en gefahren und habe versucht, die beiden zu erwischen... Das ist verr�ckt, ich wei�, aber ich kann nicht anders...� Dann fragte sie mich: �Was glauben Sie?� �Nun, er macht ebenfalls eine Therapie bei mir, und ich wei�, da� die Aff�re vor�ber ist�, antwortete ich. Worauf sie stets erwiderte: �Ja, das wei� ich auch... aber was ist blo�, wenn sie doch nicht vor�ber ist?� (S. 66)

Schaef ist nicht befugt, beide Menschen gleichzeitig in der Therapie zu haben, und erst recht nicht, darüber zu reden, was in der Therapie des anderen passiert (Kunstfehler). Schaef kann nicht mit Bestimmtheit wissen, ob der Mann sie nicht doch belügt, so wie er auch seine Frau belügen könnte. Warum präsentiert sich Schaef als Gebieterin über die menschliche Wahrheit? Woher nimmt sie das Recht zu glauben, daß sie weiß, was der Wahrheit entspricht, während andere Menschen lediglich das haben, was sie `Zwangsvorstellungen' nennt? Dies ist ein Beispiel für die anmaßende Überheblichkeit von PsychologInnen (5).

Ich kann nur wiederholen, daß die großen Namen der Psychotherapie im kalten Licht der objektiven Geschichte nicht sehr gut dastehen: Sigmund Freud (denken wir daran, wie er für Doras Peiniger Partei ergriff, obwohl er wußte, daß ihre Version der Wirklichkeit richtig war; denken wir an Emma Eckstein, die fast an einer verpfuschten Operation gestorben wäre, der Freud zugestimmt hatte und die er später sogar zu vertuschen half; und, wie ich später herausarbeiten werde, den Wolfsmann, Schreber usw.) (6), C.G. Jung (und seine Kollaboration mit den Nazis), Ludwig Binswanger (die vielen bekannten Menschen, deren Leben zerstört wurden, weil sie in seiner berühmten Klinik, dem `Bellevue' in Kreuzlingen/Schweiz, `behandelt' wurden), Fritz Perls (sexueller Mißbrauch, körperliche Mißhandlung), John Rosen (PatientInnen starben unter merkwürdigen Umständen), Milton Ericson (dessen Beleidigungen gegenüber Frauen als Therapie hingestellt wurden). (Ich beschreibe diese Vorwürfe ausführlich in »Die Abschaffung der Psychotherapie« (7).) Da es eben diese Menschen sind, deren Doktrin und Bücher in der Psychotherapie-Ausbildung gelehrt und verwendet werden, ist es wichtiger, sie und nicht den nächstbesten Therapeuten zu entlarven (dessen Wirkung keine Untersuchung rechtfertigt, wie sie nötig wäre, um seine Missetaten aufzudecken). Je mehr wir über die meisten dieser großen Namen in der Psychotherapie erfahren, desto angeschlagener werden die Bilder, die wir von ihnen haben. Darüber hinaus erhalten wir immer mehr Zugang zu neuen Informationen, die diese Behauptungen stützen.

Mein Kapitel �ber Jung hat viel Best�rzung hervorgerufen, besonders unter j�dischen Jung-Anh�ngerInnen. Deshalb ging ich erneut in die Bibliothek, um mir noch einmal die B�nde des Zentralblattes f�r Psychotherapie vorzunehmen, das Jung herausgegeben hatte, um absolut sicher zu gehen, da� ich ihm gegen�ber fair gewesen bin. Mein Eindruck wurde nur noch best�rkt: Jung war in Aktivit�ten verwickelt, die seinen Nazi-Herren nur Vergn�gen, dagegen allen Juden und J�dinnen nur Schaden bereiten konnten. Es ist schlicht und einfach Heuchelei, wenn Jung behauptet, da� Mathias H. G�ring seine Bemerkungen ohne Erlaubnis ver�ffentlicht h�tte. Deutlich weist die Ausgabe von 1936 auf dem Umschlag die Namen von Jung und Dr. M.H. G�ring als gemeinsame Herausgeber aus. Jung distanziert sich damit also schwerlich von diesem Mann. Es kann auch keinen Zweifel �ber G�rings Loyalit�t Hitler gegen�ber geben. In demselben Band schreibt G�ring in einem Artikel mit dem Titel �Weltanschauung und Psychotherapie� �ber die Unterschiede zwischen j�dischen und arischen Patienten:

Die gestellte Frage, warum arische Patienten nicht rassisch tr�umen und assoziieren, kann auch auf eine andere Weise beantwortet werden. Rosenberg hat auf dem Reichsparteitag 1936 darauf hingewiesen, da� in den Weltst�dten hunderttausende wurzellos gewordene Intellektuelle leben, f�r die Blut und Boden keine Bedeutung haben. Gerade diese werden nicht rassisch denken, tr�umen und assoziieren. Gerade solche Entwurzelte sind oft unsere Patienten. Wir m�ssen uns h�ten, diese als Beispiel f�r arisches Seelenleben hinzustellen. (1936, S. 293)

Sp�ter schreibt er in demselben Artikel:

Es wird also unsere Aufgabe sein, in den Vortr�gen, Vorlesungen und Kursen zu versuchen, eine Scheidung zwischen j�discher und arisch-germanischer Weltanschauung herauszuarbeiten. (S. 295)

Auf dem 7. Kongress f�r Psychotherapie war Jung fast der einzige nichtdeutsche Teilnehmer. Im Bericht �ber G�rings Schlu�ansprache k�nnen wir u.a. lesen:

Hinweis auf Hitlers �Mein Kampf�; Pflicht f�r jeden Psychotherapeuten, es zu studieren. Der Wert eines Buches h�ngt nicht von wissenschaftlichen Ausdr�cken ab, sondern vom inneren Gehalt. Am wichtigsten ist das Intuitive. Bitte an die Ausl�nder, ihre Eindr�cke in ihrem Heimatland zu verbreiten: voller Einsatz der nationalsozialistischen �rzte f�r die Idee des F�hrers aus Liebe zum Volk. (zit.n. �Bericht� 1934, S. 133)

Mit dieser Bemerkung begann G�ring die Konferenz auch, wie wir aus seiner Ansprache ersehen k�nnen, in der er direkt aus Hitler zitiert (zusammengefa�t in G�ring 1934, S. 130). Jung schien keine Probleme damit zu haben, K. Gaugers Rede �ber �Psychologie und politische Weltanschauung� zu drucken, die mit folgenden Worten begann:

Es ist also klar angegeben, da� der Sinn meiner Ausf�hrungen ein politischer ist, wie ich ja auch in der Uniform des Soldaten der Politik, des SA.-Mannes, vor Ihnen stehe. (1934, S. 158)

Ich sollte an dieser Stelle etwas �ber die Entschuldigungen j�discher PsychotherapeutInnen und Jung-Anh�ngerInnen sagen. Das Journal of Psychology and Judaism widmete 1982 Jung und den Nazis eine Sonderausgabe. Darunter war ein Artikel von James Kirsch, der Jung pers�nlich gekannt hatte. Ich bin nicht beeindruckt. In der Hauptsache erz�hlt uns Kirsch (1982) pers�nliche Anekdoten als `Beweis' f�r Jungs Gesinnungs�nderung:

Als ich Jung im Juli 1947 zum ersten Mal nach dem Krieg sah, hat er sich sofort an dieses Gespr�ch erinnert und sich daf�r bei mir entschuldigt (f�r seine Behauptung, da� die Nazi-Bewegung zu einem guten Ende f�hren w�rde), und er entschuldigte sich f�r ein paar Dinge, die er in jener Zeit geschrieben hatte. Ich bedaure sehr, da� diese Entschuldigungen nur bei mir vorgebracht wurden und niemals in seinen ver�ffentlichen Schriften erschienen.

Ich bedaure das auch, aber f�r mich ist das nicht ausreichend. Bei Kirsch klingt es, als ob Jungs ver�ffentlichte Behauptungen eine pers�nliche Beleidigung ihm gegen�ber gewesen w�ren und nur eine ziemlich unwesentliche Angelegenheit. Aber Jung schuldete nicht Kirsch eine Entschuldigung; er schuldete sie der ganzen Welt. Vorgebracht hat er sie nie.

Der international bekannte Mitbegründer des Neuro-Linguistischen Programmierens (NLP, einer umstrittenen Methode aus Psychologie und Kommunikation), Richard Bandler, wurde am 3. November 1986 verhaftet und des Mordes an Corine Christensen angeklagt, einer Prostituierten aus Santa Cruz, Kalifornien. Ein Schuß aus dem Lauf eines #.357 Magnum-Revolvers durch die Nase ins Gehirn hatte sie getötet. Bei ihr waren zu der Zeit zwei Männer, ihr früherer Freund James Morino, ein einschlägiger Kokainhändler und vorbestrafter Einbrecher, und Richard Bandler. Bandlers Verhandlung, die fast 3 Monate dauerte, rief viele seiner AnhängerInnen und PatientInnen auf den Plan, die alle seine Großartigkeit als Therapeut bezeugten. Am 28. Januar 1988 wurde er von der Anklage des Mordes freigesprochen. Er gab zu, daß er der Frau wirklich mit Mord gedroht hatte und daß er sie zu guter Letzt zum Sterben allein gelassen hatte, um dann seine Sorgen mit Gin und Kokain zu betäuben. Vielleicht hatte er die Vorfälle wirklich bereits vergessen. So, wie er sich oft die Vergangenheit ins Bewußtsein zurückrief, könnte er es für nützlich gehalten haben, die Vorfälle vom 3. November 1986 neu zu rekonstruieren: Denn die Wahrheit beinhaltet auf beunruhigende Weise, ob er schuldig oder unschuldig ist. Auch hier bietet NLP Trost: »Es ist das Recht und die Pflicht unseres Unterbewußtseins,« schrieben einst John Grinder und er, »alles Unangenehme von unserer Seele fernzuhalten.« Als Bandler am Morgen nach dem Freispruch aufwachte, fand er ein Meer von Rosen vor seinem Haus. Elf Dutzend Blumen bedeckten den Eingang, den Rasen und die zwei Autos in der Einfahrt. Sie wären, so der Kollege, der sie gestreut hatte, das Zeichen für einen neuen Anfang. Bandler zog nach San Diego, Kalifornien, und setzte seine NLP-Arbeit fort (8).

Ein anderer bezeichnender Fall steht in Verbindung mit den neuen Informationen, die über Bruno Bettelheim kürzlich ans Licht kamen. Als sich Bettelheim im März 1990 im Alter von 86 Jahren in einem Pflegeheim in Maryland tötete, überschlugen sich in der New York Times und anderswo die lobenden Nachrufe. Ausnahmslos wurde er als einer der größten Psychoanalytiker der Vereinigten Staaten bezeichnet, als der Mann, der Bahnbrechendes auf dem Gebiet der Kinder-Psychotherapie geleistet hatte, ein brillianter Theoretiker, ein Mann mit enormem Mitgefühl und Liebe usw. usf. (9). Natürlich war es in Psychoanalytiker-Kreisen bekannt, daß er nie ein Psychoanalytiker gewesen war, sondern lediglich jemand mit Interesse an der Psychoanalyse (10). (Das ist so, als würde ich mich Arzt nennen, nur weil ich an Medizin interessiert bin und einige Beiträge auf diesem Gebiet geleistet habe, obwohl ich mein Examen eigentlich in Sanskrit abgelegt habe.) Was sein Mitgefühl für Kinder angeht, wissen wir darüber in erster Linie von Bettelheim selber, aus seinen vielen Büchern wie z.B. »Kinder brauchen Märchen« (1977) und »Liebe allein genügt nicht. Die Erziehung emotional gestörter Kinder« (1985).

Von den Kindern hatten wir dazu noch nichts gehört. Viele der Kinder, die in der Sonia-Shankman-Schule für Orthogenetik (Lehre von der `richtigen' Entwicklung) an der Universität von Chicago stehen jetzt auf und reden. (Orthogenetik ist ein mit Vorurteilen beladenes Wort, das sich auf sogenannte geistige Defekte bezieht und korrigiert werden muß.) Ursprünglich waren die Kinder als autistisch oder chronisch schizophren diagnostiziert worden (und sind jetzt auf wundersame Weise geheilt; ob Bettelheim behaupten würde, daß ihre derzeitige Entrüstung ein Beweis dafür ist, daß er sie `geheilt' hat?). Die Geschichten, die die Kinder zu erzählen haben, sind höchst unerfreulich und das genaue Gegenteil von dem, was Bettelheim selbst von sich behauptete. Artikel im Chicago Reader, in Commentary und in der Washington Post enthüllen einen anderen Bruno Bettelheim (11). Alida Jatich beispielsweise, die von 1966 bis 1972 auf seiner Schule war und jetzt als Programmiererin in Chicago arbeitet, schreibt im Chicago Reader:

Er war ein schlechter Mensch, der die Schule als sein Privatreich aufgebaut hatte; hier konnte er sich als Halbgott und Kultfigur darstellen. Er tyrannisierte und terrorisierte die Kinder und fl��te ihnen Angst ein; aber auch ihren Eltern, den Mitarbeitern an der Schule, seinen Studenten und allen, die mit ihm in Ber�hrung kamen. (Jatich 1990a)

Er machte kein Hehl aus der Tatsache, da� er, der selbst ein unbeholfener, schwerf�lliger Mensch war, Unbeholfenheit bei anderen verabscheute. Bettelheim hatte n�mlich die Theorie entwickelt, da� Unbeholfenheit ein Zeichen versteckter Aggression sei, und alle Aggression, sogar unbewu�te, m�sse bestraft werden. Hier ist ihre Geschichte, mit ihren eigenen Worten erz�hlt:

Ich war von 1966 bis 1972 in seiner Schule, wo ich in st�ndiger Angst vor ihm lebte. Er bestrafte mich daf�r, wenn ich versehentlich andere Leute anrempelte -- aufgrund der Theorie, da� nichts ohne Absicht geschieht. Ein anderes Mal zerrte er mich vor einem Zimmer voller Menschen nackt aus der Dusche und schlug mich. Nein, ich verstehe nicht, was ihn dazu veranlasst hat, und werde es wohl auch nie verstehen. Ich traute mich nicht, mich zu verteidigen. Kindern, die sich nicht `benehmen' wollten, wurde damit gedroht, in eine staatliche Anstalt eingewiesen zu werden, wo sie mit Elektroschocks und Psychopharmaka behandelt werden sollten. (Jatich 1990b)

Ronald Angres (1990) schreibt, man trauere Bettelheim nach `als einem Muster an Einsicht und Mitgef�hl; aber f�r mich war er die 12 Jahre, die ich sein Student bzw. sein Patient war, ein Tyrann, ein Peiniger und ein L�gner!' Angres, ein Mann von gro�em Scharfsinn, schreibt weiter:

Obwohl Bettelheim immer wieder schriftlich und auch m�ndlich erkl�rt hatte, da� niemand jemals Kinder k�rperlich strafen d�rfe, tat er es selbst regelm��ig. Und so lebte ich jahrelang in Angst und Schrecken vor seinen Schl�gen, in Angst vor seinen Schritten im Schlafsaal, in erb�rmlicher, animalischer Angst. Ich wu�te nie, wann er mich schlagen w�rde und wof�r und wie heftig. Denn Bettelheim pries seine Unberechenbarkeit ebenso an wie seine Unkonventionalit�t: Als jemand, der die Geheimnisse der menschlichen Seele kannte, geno� er es, sich �blichen Meinungen dar�ber zu widersetzen, was ein gravierendes Vergehen oder was �berhaupt ein Vergehen ist. �Was f�r ein feindseliges Wesen� pflegte er �ber mich und zahlreiche andere Jungen zu sagen, wenn er uns in aller �ffentlichkeit schlug. Diese Schl�ge, die in meinem Leben von allen Erlebnissen den gr��ten Eindruck auf mich gemacht haben, sind mir im Ged�chtnis haften geblieben als �berw�ltigende Zurschaustellungen triumphierender Wut.

Dieser Artikel in Commentary provozierte den Zorn Ernst Federns (dem Sohn des Psychoanalytikers Paul Federn), der einen schon fast konfusen, w�tenden Leserbrief schrieb, in dem er sagt:

Bettelheim war ein Vork�mpfer dessen, was in Fachkreisen `Milieu-Therapie' genannt wird, der einzigen erfolgreichen Behandlungsmethode von schwer gest�rten Patienten. Jeder, der ein wenig dar�ber wei� oder Erfahrung mit dieser Art der Behandlung hat, wei�, da� sie Gewalt nicht ganz ausschlie�en kann, nicht nur von seiten der Patienten, sondern auch von seiten der Therapeuten und Pfleger. Diese Gewalt ist keine k�rperliche Strafe im Sinne von Z�chtigung, sondern eine Folge des gest�rten Verhaltens und ist Bestandteil der Therapie selbst.

Ein erstaunlicher Brief (12). Bettelheim erregte zum ersten Mal die Aufmerksamkeit amerikanischer WissenschaftlerInnen, als er eine seltsame Abhandlung mit dem Titel »Individual and Mass Behavior in Extreme Situations« (Bettelheim 1943; »Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen«, 1980) schrieb, die seine Erfahrungen in den KZs Dachau und Buchenwald behandelte (wo er Ende der 30er Jahre einige Monate gewesen war). Dies ist eine der ersten Arbeiten, vielleicht sogar die allererste, die den Opfern die Schuld gab, indem Bettelheim behauptete, daß die Juden und Jüdinnen zu einem gewissen Grad einige der Handlungen der Nazis provoziert hätten. (Dieses Thema wurde später mit Nachdruck von Raul Hilberg in seinem Buch »Die Vernichtung der europäischen Juden« [1982] wieder aufgegriffen, sowie von Hannah Arendt in ihrem ebenso haarsträubenden »Eichmann in Jerusalem« [1964], einem Buch, das Bettelheim noch verteidigte, als andere, sorgfältigere WissenschaftlerInnen sich von Arendts Ansichten bereits distanzierten.)

In einem Nachruf auf Bettelheim wird ein enger Freund Bettelheims, der Psychoanalytiker Rudolph Ekstein, in der New York Times vom 14. M�rz 1990 mit folgenden Worten zitiert:

Er erz�hlte mir, da� jemand, der einmal in einem Konzentrationslager gewesen w�re, der Grausamkeit nie wieder entrinnen k�nne. Als er sp�ter seine Schule f�r gest�rte Kinder er�ffnete, verkehrte er alles ins Gegenteil. Es war eine besch�tzende, f�rsorgliche Umgebung, das Gegenteil der Lager. Die T�r war von au�en verschlossen, aber von innen immer offen. (zit.n. Goleman 1990, S. D25)

Tatsächlich scheint Bettelheim die Schule zu einer Art KZ gemacht zu haben, wie Angres (1990) und andere Überlebende dieser Einrichtung berichten. (Natürlich wurde Bettelheim von seinen MitarbeiterInnen und der gegenwärtigen Direktorin der Schule, Jacqueline Sanders, verteidigt (13).) Das wurde auch in einem Brief an die New York Times von Roberta Redford (1990) vermerkt, einer ehemaligen Insassin der Schule von 1967 bis 1974:

Vielleicht war es die Macht �ber so viele Leben, so viele Jahre lang, die ihn verdorben hat. Ich m�chte annehmen, da� seine Motive zu Beginn rein waren. Zu der Zeit, als ich ihn kannte, war er gr��enwahnsinnig, verdreht und unkontrolliert. Wir hatten schreckliche Angst vor ihm und lebten immer auf diejenigen Tage zu, an denen er nicht in der Stadt war. Wir hatten niemanden auf unserer Seite. Wir wurden zu Unrecht eingesperrt, zu Unrecht als Geisteskranke abgestempelt und dann in aller �ffentlichkeit geschlagen und gedem�tigt. War das die liebevolle Umgebung, in der die Nazimethoden umgedreht werden sollten? Nein, das war eine Reproduktion des Nazi-Milieus, das Bettelheim angeblich so verabscheute.

Ist die Tatsache neu, da� Bettelheim die Kinder schlug? Eigentlich nicht. Ron Angres betont:

Jeder, der an der Schule f�r Orthogenetik arbeitete, wu�te es. Denn immerhin wurden seine Schl�ge gew�hnlich vor den Augen der Mitarbeiter verabreicht und fast ebenso oft vor den Augen der Klassenkameraden und der anderen Kinder im Schlafsaal. Trotzdem schwiegen die meisten, die diese Szenen beobachteten. (Angres 1990)

In einem Artikel der Newsweek vom 10. September 1990 mit dem Titel �Beno Brutalheim� wird darauf hingewiesen, da� es Anzeichen daf�r gibt, da� zumindest die MitarbeiterInnen in den �rtlichen psychiatrischen Einrichtungen genau wu�ten, was vor sich ging, und trotzdem nichts unternahmen. Chicagoer AnalytikerInnen sprachen von dem Doktor vernichtend als �Beno Brutalheim� (Darnton 1990). Aber, beachten wir, sie f�llten dieses Urteil nie �ffentlich.

Natürlich können meine KritikerInnen immer behaupten, wie sie es auch tatsächlich lautstark tun, daß, ganz egal, wieviele Einzelbeispiele von Korruption unter PsychotherapeutInnen ich anführen kann, das nicht unbedingt die Psychotherapie in ihrer Gesamtheit widerspiegelt (14). Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Immerhin gibt es eine begrenzte Anzahl von PsychotherapeutInnen, und nach einiger Zeit, wenn man immer wieder Beweise für Mißbrauch findet, fangen wir an, uns selbst zu fragen, ob nicht in dem eigentlichen Prozeß, in dem man Psychotherapeut wird, etwas Verderbliches steckt. Es scheint, daß wir einen Therapeuten oder eine Therapeutin um so mehr verehren, je weniger wir über ihn bzw. sie wissen. Erkenntnis führt zwangsläufig zur Desillusion. Und es dauert immer einige Jahre, bis diese Informationen der Öffentlichkeit zugänglich werden. Besonders noch zu Lebzeiten mächtiger PsychotherapeutInnen sträuben sich die Menschen, hervorzutreten und über ihre negativen Erfahrungen zu berichten. So ging es z.B. auch Esther Menaker in ihrem Buch »Appointment in Vienna: An American Psychoanalyst Recalls her Student Days in Pre-War Austria« (1989; »Begegnung in Wien: Eine amerikanische Psychoanalytikerin erinnert sich an ihre Studienjahre im Österreich der Vorkriegszeit«). Dies ist die erste Analyse-Klientin von Anna Freud, die selbstbewußt auf ernstzunehmende Mängel in den psychoanalytischen Methoden von Sigmunds großer Tochter hinweist und die Selbstverständlichkeit kritisiert, mit der ihr die Therapeutin ihren eigenen Geschmack aufdrängen will:

Anna Freud mu� meine Zuneigung zu Elisabeth gesp�rt haben. Diese empfand sie als ihre Konkurrentin, denn sie reagierte heftig, ja sogar unprofessionell auf einen ganz banalen Zwischenfall. Elisabeth hatte mir ein sehr h�bsches Seidenkleid geschenkt, das ihr zu eng geworden war. Ich kann mich gut daran erinnern: schwarze Seide mit aufgedruckten kleinen, gelben Blumen, eng anliegend und sehr elegant an einem jungen, schlanken K�rper. Eines Tages, ich wei� nicht mehr warum, trug ich es zu meiner Analysesitzung. Da ich merkte, da� es etwas unpassend f�r diese Gelegenheit war, machte ich eine Bemerkung dar�ber und erz�hlte, da� es ein Geschenk von Elisabeth sei. Deutlich erregt und mit offensichtlichem Gef�hl der Erleichterung sagte sie: �Ich dachte mir schon, da� das nicht dein Kleid ist. Es entspricht nicht deinem Stil und Geschmack.� Diese Bemerkung hinterlie� bei mir einen zwiesp�ltigen Eindruck, aber ich sagte nichts. (Ich hatte wohl schon gelernt, da� ich nicht mehr ungestraft offen sein durfte.) Tats�chlich mochte ich das Kleid, obwohl es sich im Stil von meiner �brigen Kleidung unterschied. Aber es war gerade diese Abwechslung, die mir gefiel. Anna Freuds Mangel an Freude, Hingabe oder auch nur ein wenig Extravaganz setzte meinen nat�rlichen Neigungen in dieser Hinsicht einen D�mpfer auf. (Menaker 1989, S. 113f.)

Auch in anderen Bereichen hatte Anna Freud Schwierigkeiten, tiefes Verst�ndnis zu entwickeln. Erst 1981, am Ende ihres Lebens, �u�erte sie sich in dem Buch �Sexually Abused Children and Their Families� zum sexuellen Mi�brauch von Kindern. Der letzte Absatz ihres Beitrags ist es wert, in voller L�nge zitiert zu werden:

Daher ist Inzest weit davon entfernt, blo�e Phantasie zu sein; er ist eine Tatsache, zu bestimmten Zeiten in der Bev�lkerung weiter verbreitet als zu anderen. Wenn es um den m�glichen Schaden geht, den die normale Entwicklung eines Kindes nimmt, ist Inzest schwerwiegender einzustufen als Verlassenwerden oder eine andere Form von Mi�brauch. Es w�re ein fataler Fehler, seine aktuelle Bedeutung oder seine H�ufigkeit zu untersch�tzen. (S. 34)

Der letzte Satz ist besonders bedeutsam: Wenn es ein verhängnisvoller Fehler ist, die Bedeutung und die Häufigkeit sexuellen Mißbrauchs an Kindern zu unterschätzen, welche Erklärung könnte Anna Freud uns dann dafür geben, daß sie eben das während ihrer sagenhaften Karriere tat? In ihren umfangreichen Schriften über Kinder (mehr als acht Bände) während einer langen, erfolgreichen Laufbahn hat es Anna Freud, abgesehen von dieser einen außerordentlichen Bemerkung, immer wieder versäumt, die Frage des sexuellen Mißbrauchs von Kindern anzusprechen (15). Sollten diese Worte eine Selbstanklage sein? Oder sieht sie über sich selbst hinaus, möglicherweise auf ihren Vater? (16) Könnte dies vielleicht sogar eine versteckte Anschuldigung sein? Nach seiner anfänglichen, mutigen Stellungnahme zu dem Thema ging ihr Vater dazu über, sowohl die Bedeutung als auch die Häufigkeit von sexuellem Mißbrauch von Kindern zu unterschätzen. Tatsächlich waren Sigmund Freuds `Begründungen' zu diesem Punkt so erfolgreich, daß es ihm gelang, mehrere Generationen von Psychiatern davon zu überzeugen, daß sexueller Mißbrauch von Kindern weder bedeutend noch häufig war. Ich brauche meine LeserInnen nicht daran zu erinnern, daß noch im Jahre 1975 das Standardwerk »Comprehensive Textbook of Psychiatry« (»Lehrbuch der gesamten Psychiatrie«) behauptete, daß wirklicher Inzest in der Durchschnittsbevölkerung nicht häufiger als einmal unter einer Million vorkommt (Henderson 1975, S. 1532; siehe auch Herman 1981). Die neueste Ausgabe des »New Harvard Guide to Psychiatry« (Nicholi 1988; »Neuer Harvard-Führer der Psychiatrie«) führt im Index unter Inzest nur einen Eintrag auf: »Delusional Disorder« (»wahnhafte Störung«). Im Gegensatz dazu zeigt die differenzierte Untersuchung von Diana Russell (1983), daß die tatsächliche Häufigkeit sexuellen Mißbrauchs von Kindern bei Mädchen unter 18 Jahren bei ungefähr 38% der weiblichen Bevölkerung liegt (17).

KritikerInnen sind daraufhin mit dem Einwand zu mir gekommen, da� selbst die Tatsache, da� Sigmund Freud sich hinsichtlich des sexuellen Mi�brauchs get�uscht h�tte, noch keine Schm�lerung seiner anderen Leistungen bedeute. Es kann meiner Meinung nach nicht bestritten werden, da� die Bedeutung seiner Ansichten �ber Frauen von Anfang an durch seine Einsch�tzung der realen Erinnerungen der Frauen als reine Phantasien geschm�lert wurde. Seine Theorien von der Entwicklung weiblicher Sexualit�t wurden verdorben durch seine �berzeugung, da� diese `Phantasien' ihre Ursachen in psychologischen Bed�rfnissen (dem `�dipuskomplex') h�tten; dies machte gleichzeitig seine Ansichten zur Kindersexualit�t wertlos. Da er nicht zugeben konnte, da� M�nner Frauen und Kindern wirklich Gewalt antun und nicht nur in der Phantasie, konnte er auch keine �berzeugende Darstellung von der Entwicklung m�nnlicher Sexualit�t geben. Nichtsdestotrotz haben diese wirklich bedeutenden Einschr�nkungen seiner Theorie Freud nicht von einigen Erkenntnissen abgehalten, die sich als wahr und best�ndig erwiesen haben: die Existenz des Unterbewu�tseins, die Existenz einiger psychologischer Mechanismen, die uns vor unertr�glichem seelischem Schmerz sch�tzen, die Bedeutung des Traumas als Faktor menschlichen Leids, die Bedeutung fr�her Kindheitserlebnisse ganz allgemein, die Erkenntnis, da� Tr�ume bedeutsam sind und wichtige biographische Informationen vermitteln k�nnen usw.. Das sind theoretische Fortschritte. Sie lassen sich jedoch nicht direkt in therapeutische Ma�nahmen umsetzen. D.h. das Erkennen des Unterbewu�tseins f�hrt nicht unbedingt zur F�higkeit, das Unterbewu�tsein eines anderen Menschen zu deuten, zu erkennen und zu �bertragen. Diese grunds�tzliche Aussage gilt auch ganz allgemein f�r alle Deutungsversuche. Zu oft werden solche Deutungen als versteckte Beleidigungen benutzt oder als eine Methode, um die PatientInnen dazu zu bringen, die Meinung ihrer AnalytikerInnen zu akzeptieren. `Einsicht' ist f�r die sogenannten AnalytikerInnen nicht einfacher zu erlangen als f�r die sogenannten PatientInnen. Freuds eigene `Einsichten' waren oft erschreckend manipulatorisch. Wir brauchen nur an die bekannten Fallgeschichten zu denken, um zu erkennen, wie oft Freud sich irrte. Er �berwies seine erste Analyse-Patientin (Emma Eckstein) an einen Kurpfuscher (Wilhelm Fliess), der an ihr eine verh�ngnisvolle Operation ausf�hrte, die sie verunstaltete, und dennoch konnte Freud nie zugeben, was passiert war, und er bestand darauf, da� die Verletzungen psychosomatischen Ursprungs w�ren. Er tat Doras wahre Probleme als Hysterie ab und erkannte nur widerstrebend ihre Einsichten in ihre eigenen Familienangelegenheiten an. Er versicherte dem Wolfsmann, da� er sein Erinnerungsverm�gen wiedererlangen w�rde, um Freuds Deutungen zu rechtfertigen. (Die Erinnerungen kamen nie zur�ck.) Er analysierte Schrebers sogenannte Wahnvorstellungen auf der Grundlage unbewu�ten homosexuellen Verlangens nach seinem Vater und nicht auf der Grundlage der sadistischen k�rperlichen Vergehen an dem kleinen Jungen usw. Es w�re gut, wenn alle TherapeutInnen zugeben k�nnten, da� selbst der Begr�nder ihrer `Wissenschaft' nicht gefeit war gegen Irrt�mer in seinem psychologischen Urteil, die jetzt, 50 Jahre sp�ter, f�r die meisten von uns erkennbar werden, und da� sie in ihren eigenen Bem�hungen in 50 Jahren in dem gleichen Licht erscheinen k�nnten. Bescheidenheit und Skepsis sollten die ersten Tugenden in der Psychologie sein.

Ich mu�te mich auch damit abfinden, da� Menschen, mit denen ich hinsichtlich der Kritik der Psychiatrie sonst fast vollst�ndig in �bereinstimmung stehe, wie z.B. Thomas Szasz, meine Meinung nicht mehr teilen, wenn es um den Wert von Therapie geht. Als ich mich dazu entschlo�, meine unbeliebten Ansichten �ber den sexuellen Mi�brauch von Kindern zu ver�ffentlichen, war es Alice Miller, die mir als erste zu Hilfe kam und mich ermutigte, der geeinten Macht des psychoanalytischen Establishments die Stirn zu bieten. Jedoch wurde es im Laufe vieler Gespr�che klar, da� Alice Miller zwar entschieden mit der orthodoxen psychoanalytischen Theorie brechen konnte, es aber f�r sie nicht m�glich ist, die Psychoanalyse in ihrer Gesamtheit in ihre Kritik einzubeziehen. Das wurde in ihren letzten drei B�chern immer offensichtlicher. Das wichtigste dieser drei, �Das verbannte Wissen� (1988), ist 1990 auch in den USA erschienen (�Banished Knowledge: Facing Childhood Injuries�). In dem Buch berichtet sie, wie sie selbst endlich `geheilt' werden und sich ihrem eigenen Mi�brauch in der Kindheit stellen konnte (obwohl an keiner Stelle gesagt wird, worin dieser Mi�brauch eigentlich bestand), indem sie einen Schweizer Psychotherapeuten aufsuchte, der eine Therapieform praktiziert, die er Prim�rtherapie nennt. Dieser Mann, Konrad Stettbacher, ist in den USA bisher nur durch Alice Millers Berichte bekannt. Er war auch in der Schweiz mehr oder weniger unbekannt, bis Alice Miller in ihren letzten B�chern �ber ihn schrieb. (Ich verstehe, da� er nun bis an sein Lebensende ausgebucht ist.) Er hat das Buch geschrieben: �Wenn Leiden einen Sinn haben soll. Die heilende Begegnung mit der eigenen Geschichte�, mit einem Vorwort von Alice Miller (Stettbacher 1990). In ihrer vierseitigen Einleitung kann sie das Buch gar nicht genug loben. Sie schreibt z.B., der von Stettbacher eingeschlagene Weg sei

�... ein Durchbruch zu einem v�llig neuen Konzept der Hilfe und Selbsthilfe, ohne jegliche Spur von P�dagogik, und zugleich zu einer neuen Sicht des Menschen, zu einer Anthropologie mit bisher ungeahnten Perspektiven.� (Miller 1990, S. 11)

Dieses überschwengliche Lob ist absolut unangebracht. Das Buch ist vollgestopft mit Anleitungen darüber, was man tun soll und was nicht, wenn man sich seiner Form der Psychotherapie unterzieht (die, wie er warnt, sehr teuer ist). Dem Therapeuten muß natürlich gehorcht werden, solange er ein `gut ausgebildeter Therapeut' ist, nur, wie können wir herausbekommen, ob ein Therapeut `gut ausgebildet' ist? Ob er überhaupt in der Stettbacher-Methode ausgebildet ist? Und sagt das irgend etwas aus darüber, ob er ein `guter Therapeut' ist? Es handelt sich um eine modifizierte Form von Primärtherapie, vermischt mit Millers eigenen Ansichten über die Kindheit. Der Schutzumschlag gibt uns wenig Auskunft über den Autor: »J. Konrad Stettbacher, geboren 1930 in Bern (Schweiz). Praktiziert seit 1972 als Psychotherapeut seine selbst entwickelte Primärtherapie in eigener Praxis.« (18)

Wir m�ssen grunds�tzliche Fragen stellen. Wie k�nnen KlientInnen wirklich wissen, mit wem sie sprechen? Welche Fragen sind zu stellen? �Sind Sie Ihrer Frau treu? Sind Sie ein guter Vater? L�gen, stehlen oder betr�gen Sie h�ufiger? Was sind Ihre politischen Ansichten? Welche Meinung vertreten Sie hinsichtlich Tieren, Hautfarbe, Krieg?� Und k�nnen wir ehrliche Anworten erwarten in dem unwahrscheinlichen Fall, da� der Therapeut bzw. die Therapeutin �berhaupt antwortet? Worin besteht v�llige Offenheit? K�nnen wir Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis erwarten, wenn wir Anzeichen f�r Voreingenommenheit, Vorurteile und Mangel an Einf�hlungsverm�gen finden? K�nnen wir diese Qualit�ten in einer Therapie zu Recht erwarten? Kann eine Therapie auch ohne sie vorankommen? Und welche Garantie gibt es �ber das blinde Vertrauen hinaus, da� solche Qualit�ten schon vorhanden sein werden, nur weil der Therapeut bzw. die Therapeutin `gut ausgebildet' ist? (Als ob jemand eine schlechte Ausbildung zugeben w�rde!) Was ist Ausbildung �berhaupt? Gibt es ein Institut, das Liebensw�rdigkeit vermittelt? K�nnen die genannten Qualit�ten �berhaupt gelehrt werden? Und ist Therapie, die ohne sie stattfindet, nicht gef�hrlich? In den meisten US-amerikanischen Universit�ten heutzutage geben die StudentInnen einen Studienf�hrer heraus, in dem die DozentInnen so offen benotet werden, wie es in den offiziellen Ver�ffentlichungen der Universit�ten nie zu finden sein wird. Es gibt keinen entsprechenden `Verbraucher-Ratgeber' �ber TherapeutInnen, der vor Dummk�pfen, Betr�gerInnen und Narzi�tInnen warnen k�nnte. Ein Berufsverband besch�tzt seine Mitglieder vor solchen m�glichen narzi�tischen Verwundungen. Und ein Berufsverband mu� sich selbst am Leben erhalten, dadurch entsteht die kult�hnliche Atmosph�re, die in allen Ausbildungsinstituten sp�rbar ist. Es gibt Berichte �ber einen Begr�nder, um den herum sich dann Legenden ranken. Diese Legenden werden weitergegeben. Es gibt sie nicht nur �ber Freud. Viele der weniger bedeutenden Namen nehmen im Lauf der Zeit etwas von dem Glanz ihres ersten Meisters an, und so denken wir dann mit einiger Ehrfurcht an Adler, Rank, Stekel usw.; aber wenn wir ihre eigenen aktuellen Bemerkungen nachlesen (die sie z.B. w�hrend der ber�hmten Mittwoch-Abend-Treffen fallen lie�en, nachzulesen in den ver�ffentlichen Protokollen), werden wir daran erinnert, wie menschlich, d.h. menschlich fehlerhaft sie waren. Die meisten ihrer Bemerkungen waren banal, einige waren geradezu dumm, andere waren dogmatisch, bedeutungslos oder einfach falsch. Aber dieser �ltestenrat erh�lt eine Aura von Heiligkeit und Weisheit, je weiter die Zeit voranschreitet. Freud begann, seinen Lieblingssch�lern Ringe zu schenken. Diese Ringtr�ger wiederum vermachten die Ringe ihren Lieblingssch�lerInnen, und ansonsten vern�nftige Menschen betrachteten diese Ringe wie einen Fetisch. Alte Werte werden so konserviert, und die Strafe f�r die, die sie hinterfragen oder dagegen revoltieren, ist Ausschlu�. Wir befinden uns nicht l�nger im Reich der Wissenschaft. Wir haben die geheimnisvolle Welt der M�rchen betreten. In diesem Sinne sind psychoanalytische Einrichtungen alles andere als Universit�ten. In einer Universit�t herrscht mehr Toleranz und Meinungsvielfalt. Dort gibt es eine M�glichkeit, zu seinem Recht zu kommen und eine Beschwerde vorzutragen. In psychoanalytischen Instituten gibt es so etwas wie einen Ombudsmann nicht. Wie kann der einzelne dann vor diesem Machtgef�lle in der eigenen Analyse besch�tzt werden? Die Versuchung des Mi�brauchs, der Profitnahme, der Tyrannei ist st�ndig gegenw�rtig. Jeder Zugang zur Macht bietet Gelegenheit zu Machtmi�brauch. Im therapeutischen Rahmen ist die emotionale Macht beinahe unbeschr�nkt.

Dieser `unm�gliche' Beruf stellt Anforderungen, die nicht zu erf�llen sind. Kein Therapeut, ob Mann oder Frau, kann auf Dauer der Versuchung widerstehen, das unumg�ngliche Machtverh�ltnis zu mi�brauchen. Selbst der liebensw�rdigste Therapeut kann durchaus einmal Neid auf die Liebesf�higkeit eines Patienten empfinden oder Wut dar�ber, da� der andere ein interessanteres Leben f�hrt, da� er reicher, eleganter oder attraktiver ist, tiefsinniger, am�santer, gl�cklicher oder welche Qualit�t auch immer er haben mag, die dem Therapeuten fehlt. Im wirklichen Leben werden wir von unseren FreundInnen in gleicher Hinsicht getestet und in Versuchung gef�hrt, aber wir halten sie nicht im W�rgegriff, und das Ungleichgewicht der Beziehungen, das wir m�glicherweise schaffen, entsteht in diesen Beziehungen selbst. Aber in einer Therapie ist der W�rgegriff von vornherein da.

Freud soll zu Richard Sterba gesagt haben:

Mein ganzes Leben lang habe ich mich bem�ht, Wahrheiten aufzudecken; ich habe mir nichts weiter vorgenommen, alles andere war mir vollkommen gleichg�ltig. Mein einziges Motiv war die Wahrheitsliebe. (zit.n. Sterba 1985, S. 118f.)

Eine edle Regung, zweifellos, aber entspricht sie wirklich der Wahrheit? Wir k�nnen uns nur dar�ber wundern, wie jemand so klar in seiner Motivation sein kann und dann wieder so stur, wenn es darum geht, andere Standpunkte zu erw�gen. Freud hatte kaum kleine Schw�chen. Aber er hatte gro�e. Er hatte einen ausgezeichneten Intellekt, aber ein enges Herz. Und das bedeutet, da� es Dinge gab, die er einfach nicht verstehen konnte. Wie z.B. die Leiden eines anderen Menschen.

Die Botschaft, die ich hervorheben möchte, lautet, daß wir uns gründlich informieren sollten, bevor wir unser Einverständnis zur Psychotherapie geben. Um wirklich umfassend informiert zu sein, müssen wir auch mehr als bisher über die Kritik an Psychiatrie und Psychotherapie wissen (19). Es ist alarmierend zu sehen, wie wenig praktizierende Psychiater in der Lage sind, die Kritik von Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen. Das krasseste Beispiel habe ich bei einem Chicagoer Psychiater, J. Dennis Freund, beobachten können, der in der Chicago Tribune zitiert wird. In dem Beitrag »A Psychiatrist Speaks Out« (»Ein Psychiater ergreift das Wort«) schreibt er:

�Ich bin eindeutig f�r die b�rgerlichen Rechte, aber eine Patientin, die ihren Realit�tssinn verloren hat und deren Geist von Wahnvorstellungen umnebelt ist, hat ihre b�rgerlichen Rechte verwirkt. Nur ein Krankenhaus und ein Arzt kann ihr diese b�rgerlichen Rechte zur�ckgeben.�

Ich bin alarmiert von der Angst der Psychiatrie, die eigene Vergangenheit unsentimental und mutig zu hinterfragen. Die Rolle, die die Psychiatrie im Dritten Reich gespielt hat, wo als Vorspiel für die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma über 300000 `PatientInnen' von Psychiatern umgebracht wurden, ist bis vor kurzem von der Psychiatrie weltweit beschönigt oder ignoriert worden. Selbst jetzt ist die beste Untersuchung zu dem Thema nicht von einem Psychiater vorgelegt worden, sondern von einem Außenstehenden (20).

Anna Freud schrieb in einem Artikel mit der �berschrift �Kinderbeobachtung und klinische Prognose�:

Ich denke besonders an einen Knaben, der im Alter von viereinhalb Jahren mit seiner Familie aus der vom Feind besetzten Heimat geflohen war und in seiner nachfolgenden Analyse zu erkennen gab, welches Element des Ereignisses in seinem Seelenleben traumatischen Niederschlag gefunden hatte: Er hatte es als schweren Schock erlebt, da� die einmarschierenden Truppen das Automobil seines Vaters beschlagnahmten, ein Faktum, das f�r ihn den Raub der v�terlichen Potenz symbolisierte. Alles andere -- der Verlust von Heimat, Geborgenheit, Freunden -- verbla�te neben dieser �berragend wichtigen �dipalen Erfahrung. (1980b, S. 1736)

Dies ist ein anschauliches Beispiel f�r die Unf�higkeit von AnalytikerInnen, �ber die Grenzen des eigenen theoretischen Gedankengeb�udes hinauszuschauen. Es ist typisch, da� psychoanalytische Deutungen �u�ere Realit�ten vermeiden und die Aufmerksamkeit auf vorherbestimmte Ereignisse konzentrieren, die sich in der Psyche eines Kindes nachhaltig abzeichnen m�ssen. Die PsychoanalytikerInnen waren gut vorbereitet, denn viele Jahre lang hatten sie auch die Wirklichkeit ignoriert, die der Nationalsozialismus um sie herum geschaffen hatte.

Klaus Hoppe, ein Psychoanalytiker aus Los Angeles, der sich auf die Behandlung j�discher �berlebender aus Konzentrationslagern spezialisiert hat (trotz der Tatsache, da� er nach eigener Aussage bei der Hitlerjugend war [Luel/Marcus 1984, S. 94]), schreibt:

Manchmal kann der Experte eine Kombination von Projektion auf den �berlebenden und Identifikation mit ihm benutzen, d.h. `altruistische Kapitulation'. So befriedigt er seine eigenen libidin�sen Bed�rfnisse und l�st gleichzeitig gehemmte aggressive Triebe. Zus�tzlich versetzt er sich selbst in die Rolle des Zweiten Ichs des �berlebenden: Er greift die deutschen Beamten an und gibt den manipulativen W�nschen des �berlebenden nach, der noch immer Angst vor Autorit�ten hat. (zit.n. ebd., S. 105)

Mit anderen Worten und in dieser Richtung weitergedacht: Wenn KZ-�berlebende f�r ihre Leiden von der deutschen Regierung sogenannte Wiedergutmachung beantragen wollen, k�nnte Hoppe das als `manipulativen Wunsch' interpretieren und deshalb Psychiatern vorschlagen, unter Beibehaltung der eigenen neutralen Position den `Aggressionstrieb' gegen die Nazis therapeutisch abzuf�hren! Hoppe setzt die psychoanalytische Theorie als Hilfsmittel ein, um auf Kosten der wirklichen Bed�rfnisse der am meisten Leidtragenden, n�mlich seiner j�dischen PatientInnen, das Gewissen eines deutschen Psychoanalytikers zu beruhigen.

Die Psychiatrie hat sich nicht gerade dadurch ausgezeichnet, da� sie an vorderster Front f�r soziale Gerechtigkeit gegen menschliche Unterdr�ckung k�mpft. Es wird Zeit, da� dies erkannt wird und da� Konsequenzen gezogen werden.

Noch ein abschlie�endes Beispiel aus der Geschichte: Es gibt einen Brief, den Freud an seine Tochter Anna geschrieben hat (am 3. September 1932) und der sich jetzt in der Kongressbibliothek in Washington, D.C., befindet. Es ist interessanterweise die einzige Stelle in der gesamten Korrespondenz zwischen Vater und Tochter, in der Freud deutlich und leidenschaftlich �ber eine Begebenheit aus dem Bereich der Psychoanalyse schreibt, die ihn offenbar mehr als alle anderen bewegte. Dieser Text wurde ziemlich sp�t bei seinen Briefen gefunden. Er betrifft Sandor Ferenczi, Freuds Lieblingssch�ler und der am meisten geliebte unter den AnalytikerInnen, und dessen Abkehr von der orthodoxen Freudschen Lehre. Ich habe �ber die Einzelheiten in meinem Buch �Was hat man Dir, Du armes Kind getan?� (1986) berichtet. Aber damals kannte ich den Brief an Anna Freud noch nicht. Er �ndert nichts an der Geschichte, aber er erg�nzt sie um einige Details und ist faszinierend im Zusammenhang mit den anderen Briefen. Das ist deshalb so interessant, weil Freud an seine eigene Tochter Anna �ber ein ziemlich heikles Thema schreibt, den sexuellen Mi�brauch von Kindern, und er schreibt ausgerechnet �ber jemanden, den er einmal seinen `geliebten Sohn' genannt hat und von dem er gehofft hatte, da� er Anna heiraten w�rde! Dar�ber hinaus machte Anna Freud auch nie einen Hehl aus ihrer Zuneigung zu Ferenzci. Sie redete mit mir dar�ber ganz offen und war sichtlich ersch�ttert, als ich ihr sagte, da� die Briefe, die ich im Schreibtisch ihres Vaters gefunden hatte, eindeutig zeigten, da� Freud Ferenczi gegen�ber nicht fair gewesen war. Der Brief ist es wert, vollst�ndig zitiert zu werden:

Die beiden kamen vor 4 Uhr herein. Sie war so charmant wie immer, aber von ihm ging eine eisige K�lte aus. Ohne weitere Frage oder irgendeinen Gru� begann er: Ich m�chte Ihnen mein Papier vorlesen. Dies tat er, und ich h�rte geschockt zu. Er hat eine v�llige Regression hin zu den �tiologischen (die Krankheitsentwicklung betreffenden) Ansichten erlitten, an die ich vor 35 Jahren geglaubt und die ich dann aufgegeben hatte, (n�mlich, J.M.) da� die allgemeine Ursache der Neurosen schwere sexuelle Traumata in der Kindheit sind, und er sagte es fast mit genau denselben Worten, die ich damals benutzte. Kein Wort �ber die Technik, mit der er dieses Material aufdeckt. Das Papier enth�lt auch Bemerkungen �ber die Feindseligkeit von Patienten und die Notwendigkeit, deren Kritik zu akzeptieren und ihnen gegen�ber eigene Irrt�mer einzugestehen. Die Resultate sind verworren, unklar, k�nstlich. Das ganze ist wirklich dumm, zumindest scheint es so, denn es ist so unaufrichtig und unvollst�ndig. Nun, inzwischen hast du das Papier schon geh�rt und kannst selbst urteilen. Mitten im Lesen kam Brill herein (sp�ter holte er den Rest nach). Das Papier schien mir harmlos, schaden kann es nur ihm, und es wird (auf dem Kongress, J.M.) sicher am ersten Tag die Stimmung verderben. Ich stellte nur zwei Fragen. Die erste, sagte ich, w�rde auch von seinem Publikum gestellt werden. Wie erreichte er diese tranceartigen Zust�nde, die wir �brigen nie sehen? Seine Antworten waren ausweichend und zur�ckhaltend; wenn man ihn zu seinen Widerspr�chen hinsichtlich des �dipuskomplexes usw. fragte, erkl�rte er, da� Brills Kommentare unverst�ndlich seien, und gestand gewisse Abweichungen von seinen Anschauungen, die ich jedoch nicht verstehen konnte. Brill fl�sterte mir zu: �He is not sincere (�Er ist nicht aufrichtig).� Es ist dasselbe wie bei Rank, nur viel trauriger. Meine zweite Frage war, was beabsichtigte er damit, wenn er mir das Papier vorlas? Auch hier offenbarte er seine K�lte. Schlie�lich kam heraus, da� er Pr�sident (der Internationalen Psychoanalytiker-Vereinigung, J.M.) werden will. Ich sagte ihm, da� ich nicht versuchen w�rde, die Abstimmung zu beeinflussen. Mein einziges Motiv gegen ihn ist, da� du in diesem Fall deine Position aufgeben k�nntest; aber ich denke, da� er sich mit diesem Papier Feinde schaffen wird. (Sigmund Freud)

F�r die modernen LeserInnen ist es heute schwer m�glich, diese Worte zu lesen, ohne sich Gedanken dar�ber zu machen, wie recht Ferenczi hatte und wie gr�ndlich Freud sich irrte. Ferenczis Papier ist ein Juwel, eines der wirklich gro�en Dokumente in der Geschichte der Psychologie. Nie zuvor (und nicht danach) ist ein Mensch so tief in die Geheimnisse des sexuellen Mi�brauchs von Kindern eingedrungen. Das eigentliche Ph�nomen der Trance, von dem Freud behauptete, es nie gesehen zu haben, wird von Opfern sexuellen Mi�brauchs immer wieder erw�hnt. Sie begeben sich in einen anderen Zustand als ein Mittel, die Realit�t und damit die wahren Auswirkungen des Angriffs abzuschotten. Wenn dieser Zustand bewu�t oder zuf�llig in der Analyse herbeigef�hrt wird, kommen verdr�ngte Erinnerungen an die Vorf�lle zum Vorschein.

Was hatte es mit dem Papier auf sich, da� Freud f�rchtete, es k�nne die Stimmung auf dem Kongress in Wiesbaden 1932 verderben? Ganz einfach: Ferenczi stellte tiefgreifende, wichtige Fragen �ber die Psychoanalyse, die kein/e Analytiker/in, einschlie�lich Freud, h�ren wollte. Er stellte tats�chlich seine eigene Praxis in Frage und damit die Struktur der Psychoanalyse. Wenn PsychoanalytikerInnen, von Freud angefangen, etwas so Verbreitetes und Wesentliches �ber die Kindheit �bergingen, wie konnte Psychoanalyse dann sein, was sie zu sein vorgab, n�mlich eine Methode, die Wahrheit aufzudecken? Die gr��te Wahrheit, die sie gesehen hatten (und Freud hat sie 1896 genau gesehen), erkannten sie nicht an. Ferenzci spricht in seinem Thesenpapier offen �ber die Heuchelei der AnalytikerInnen und wie wichtig es sei anzuerkennen, da� die PatientInnen mehr �ber die Wahrheit wissen als der Analytiker bzw. die Analytikerin. Freud war emp�rt. Es beleidigte eindeutig seine W�rde, wenn er aufgefordert wurde, Fehler vor den PatientInnen zuzugeben. Zu dem Zeitpunkt war Freud bestimmt schon kein Sucher nach der Wahrheit mehr. Ferenczi, zu seiner bleibenden Ehre, war es.

Was war mit der Psychoanalyse geschehen? Warum wurde sie so trocken und unmenschlich? Es hatte doch nicht so begonnen. Die fr�hen Briefe Freuds an seine Verlobte und an seinen Freund Fliess waren angef�llt mit Leben, Leidenschaft und Gef�hlen. Ganz anders hingegen die sp�teren Briefe. Nachdem er erst einmal sein Ziel erreicht hatte, die Psychoanalyse eine anerkannte Wissenschaft war, geschah etwas mit ihm und mit seiner Entdeckung. Beide wurden �lter. Sie verloren etwas Wesentliches. Freud und die Psychoanalyse gewannen gesellschaftliches Ansehen, und das mag das Leben aus ihnen herausgepre�t haben. Wenn man seine fr�hen Werke liest, angefangen mit �Studien �ber Hysterie�, dem gro�artigen Essay �Zur �tiologie der Hysterie�, ��ber Deckerinnerungen� bis hin zu �Die Traumdeutung�, betritt man eine aufregende, leidenschaftliche Welt. Der sp�tere Freud ist immer elegant und beredt, aber etwas ist verloren gegangen, etwas fehlt, eine grundlegende Leidenschaft ist verschwunden.

Zum Schluß muß ich mich dem oft geäußerten Einwand zuwenden, daß ich keine Alternative zur Psychotherapie angeboten habe. Ich habe immer wieder meinen Widerstand bekundet, als jemand hingestellt zu werden, der vorgibt, eine Lösung zu haben. Ich habe nie geglaubt, und tue es auch jetzt nicht, daß man Alternativen anbieten muß, wenn man den derzeitigen Zustand der Psychotherapie kritisieren will. Trotzdem habe ich angefangen, mehr darüber nachzudenken, als ich es zur Zeit des Entstehens von »Abschaffung der Psychotherapie« getan habe, da mich viele Leute dazu herausforderten. Unterdrückung, Ungerechtigkeit und alle anderen Übel unserer Zeit darzulegen ist an sich bereits eine sehr sinnvolle Sache. Ich kann mir tatsächlich keine bessere Therapie vorstellen, als die Unzulänglichkeiten der Psychotherapie selbst herauszustellen. Politisch aktiv zu werden und sich mit anderen Betroffenen in politischen Aktionen zusammenzuschließen ist eine ausgezeichnete Alternative zu der Machtlosigkeit, die die Psychiatrie bei den ihr Unterworfenen bewirkt. Im Kampf gegen die Psychiatrie (auch gegen andere Ungerechtigkeiten) aktiv zu sein, und wenn es nur im eigenen Kopf ist, ist eine gute Alternative zu der Hilflosigkeit, die Psychiatrie bei den Betroffenen hervorruft (21). Seine eigene Geschichte aufzuschreiben, selbst wenn es nur der Information der eigenen FreundInnen dient, heißt -- besonders, wenn nichts ausgelassen wird -- den Menschen die andere Seite der offiziellen Geschichte zu zeigen. (Jedes Jahr werden neue Geschichten persönlicher Schicksale veröffentlicht.) Schließlich ist es immer noch am besten, die Wahrheit aufzudecken, indem wir die Informationen auf dem schwierigen Weg, nämlich durch eigene Nachforschungen herausbekommen.

 

Anmerkungen

(1) Anmerkung d.H.: Dieser Beitrag ist eine geringfügig erweiterte Übersetzung des Originalartikels, erschienen a) als Nachwort zur 2. Auflage von Jeffrey Massons Buch »Against Therapy«, London: Harper/Collins 1992, S. 301 -- 319, und b) als Kapitel 2 in: Windy Dryden / Colin Feltham (Hg.): »Psychotherapy and its Discontents«, Buckingham/Philadelphia: Open University Press 1992, S. 7 -- 29.

(2) Bis jetzt hat mir keiner meiner KritikerInnen vorgeworfen, daß ich in meinem Buch etwas Falsches schreibe; sie scheinen nur zu mißbilligen, daß ich überhaupt über den Mißbrauch schreibe und Schlüsse daraus ziehe. Oftmals wiederholen die Autoren meine Anschuldigungen nur, als ob es genug wäre, sie nachzuerzählen, um ihre offensichtliche Absurdität zu zeigen. Ein typisches Beispiel liefert Dr.med. Peter L. Giovacchini, Professor am Fachbereich für Psychiatrie der Hochschule von Illinois, ein praktizierender Psychoanalytiker. Eines seiner Bücher heißt: »A Narrative Textbook of Psychoanalysis and Developmental Disorder; The Transitional Space in Mental Breakdown and Creative Integration« (»Psychoanalyse und Entwicklungsstörungen in Lehrbeispielen: Der Übergang vom psychischen Zusammenbruch zu kreativer Integration«). In seiner Buchkritik mit dem Titel »The good, the bad, and the truth« (»Das Gute, das Böse und die Wahrheit«) schreibt er: »Masson greift Jung wegen einer `Affaire' mit einer Patientin und wegen seiner opportunistischen Haltung gegenüber den Nazis an, verurteilt Freud wegen seiner Verteidigung von Fliess und wegen seiner Herabsetzung von Patienten und führt u.a. Skandale an wie die brutalen Übergriffe auf Patienten deren Ausbeutung durch John N. Rosen und andere«, als ob alle unvorbelasteten Menschen verstehen würden, wie unerhört solche Behauptungen sind. Aber ein Argument zu wiederholen heißt nicht, es zu widerlegen. Ich wurde schon schlimmerer Taten beschuldigt. Jacqueline Rose (1989) scheint -- obwohl ihre Ausdrucksweise so verschwommen ist, daß wir kaum mitbekommen, was sie meint -- sagen zu wollen, daß ich es bin, der für sexuelle Gewalttätigkeiten verantwortlich ist: »Was die beiden (Masson und Reich, J.M.) gemeinsam haben, ist die überhaupt nicht hinterfragte Vorstellung sexueller Differenzen, deren Sturheit die eigentliche Gewalt ist, und in Massons Fall -- mit einer Logik, für die er natürlich völlig blind ist -- führt sie direkt dahin.«

(3) Eine Frau namens Judith Gold ertränkte sich Anfang 1969 in der Badewanne. Eine der Bewohnerinnen, Jacqueline Doyle, war an dem Morgen, als es passierte, in den Baderäumen. Sie erzählte anschließend: »Sie kam in Fritz' Gruppe und sollte sich auf den heißen Stuhl setzen... Sie wurde von Fritz lauthals erniedrigt und ausgelacht. Das war für ihn nichts Ungewöhnliches. Er konnte mit seinen Worten sehr bösartig sein. An jenem Abend verließ sie die Gruppe sehr verzweifelt. Später rief sie, glaube ich, ihren Ehemann an und sprach mit ihm. Sie brachte auch ihren Zimmergenossinnen gegenüber ihre verratenen Gefühle zum Ausdruck -- und am nächsten Morgen ging sie hinunter, um sich im Badezimmer zu ertränken... Alle waren nach diesem Vorfall völlig verängstigt und erschreckt und hegten sehr unterschiedliche Gefühle Fritz gegenüber. Er verhielt sich lässig und kalt, zeigte keine Trauer. Nur: `Ach, Leute, die Spiele spielen...' Sie kennen ja seine Art.« (zit.n. Anderson 1983, S. 201). Eine weitere Selbsttötung beging Marcia Price, die sowohl Fritz' Patientin als auch seine Geliebte war: »Fritz hatte sie als Patientin und als Geliebte zurückgewiesen.« (Anderson 1983, S. 200)

(4) Es ist wahr, daß mir die persönliche Kritik, die gegen meine Person gerichtet ist und mit der mein Buch aufgenommen wurde, natürlich nicht angenehm ist. Ich habe argumentiert, daß es unwesentlich ist, ob diese Kritik zutrifft oder nicht, hinsichtlich dessen, was ich gegen die Psychiatrie vorzubringen habe. »Da sehen Sie es,« sagten einige eben dieser Kritiker, »er glaubt nicht, daß seine Argumente durch Geschichten über seine Person ungültig werden.« Das stimmt. Der Unterschied liegt darin, daß meine Aussagen im allgemeinen historisch sind, d.h. die Kritik, die ich gegen die Psychiatrie vorbringe, ist mit historischen Dokumenten belegt. Was für ein Mensch ich bin, ist völlig unwesentlich für die Wahrheit dieser Dokumente. Ich muß oft die PsychoanalytikerInnen, die mich kritisieren, daran erinnern, daß ich die Briefe Freuds über Emma Eckstein nicht geschrieben habe: Ich habe sie nur gefunden und veröffentlicht. Ich kann mich natürlich irren, was ihre Bedeutung und Relevanz betrifft, aber Belege für meine Fehler müssen außerhalb meiner Person gesucht werden. Die Situation ist jedoch ganz anders, wenn ich Behauptungen über meinen Charakter aufstellen würde, d.h. wenn ich ein Therapeut wäre und vorgeben würde, ich hätte die normalen, menschlichen Schwächen wie Unehrlichkeit, Voreingenommenheit, Vorurteile usw. überwunden. Dann wird jeder Beweis dafür, daß ich in den mir selbst gestellten Anforderungen versagt habe, wichtig, um zu bewerten, inwieweit ich mich zu Recht als Modell dargestellt habe, was zu einem gewissen Grad alle TherapeutInnen tun. Sie schreiben immerhin nicht nur Bücher. Sie sagen den Menschen, offen oder verdeckt, wie sie leben sollten, und dadurch werden sie Objekte von Überprüfungen, wie ich sie in meinem Buch »Die Abschaffung der Psychotherapie« vorgenommen habe. Die einzig wesentliche Kritik ist also, ob die von mir verwendeten Dokumente verläßlich sind und ob die Folgerungen, die ich aus ihnen gezogen habe, schlüssig sind.

(5) Viele Feministinnen, die meiner Kritik beipflichten, solange sie sich gegen Männer richtet, beschweren sich bei mir, sobald ich auch Frauen kritisiere. Es ist gewiß wahr, daß die Psychotherapie in erster Linie von Männern dominiert wird. (Schon der Titel eines auf dem Gebiet sehr bekannten Buches von Walter Bromberg ist eindeutig: »The Mind of Man: A History of Psychotherapy and Psychoanalysis« [»Der Geisteszustand der Menschheit: Eine Geschichte der Psychotherapie und Psychoanalyse«].) Deshalb stimmt es wahrscheinlich, daß die schädlichsten Ideen in der Psychotherapie Produkte von Männern sind. Aber es darf auch nicht vergessen werden, daß sich der Haß nicht unbedingt nur gegen Frauen richtet. Ein Buchtitel wie z.B. »I Knew 3000 Lunatics« (1935; »Ich kannte 3000 Verrückte«) von Victor R. Small zeugt von bemerkenswerter Unparteilichkeit. Daraus folgt aber natürlich nicht, daß Frauen automatisch dieses Unrecht bereinigen, wie aus der oben zitierten Passage deutlich wird. (Daß Margaret Thatcher eine Frau ist, brachte nicht zwangsläufig eine bessere Rechtsstellung für britische Frauen mit sich.) Darüber hinaus bedeutet die bloße Tatsache, daß sich eine Frau Feministin nennt, nicht unbedingt, daß sie feministische Werte vertritt. Therapie, so scheint es mir, ist dem, was ich unter feministischen Grundsätzen verstehe, entgegengesetzt, und so stehe ich zu meiner Kritik an feministischen Therapien in meinem Buch. PsychologInnen dürfen in den USA keine Psychopharmaka verschreiben, und darum sind sie im Vergleich zu Psychiatern nicht so erpicht darauf, deren umfassenden Gebrauch zu propagieren. Inzwischen fordert die American Psychological Association (US-amerikanischer Standesvereinigung der PsychologInnen) jedoch, daß promovierte PsychologInnen die Erlaubnis zum Verschreiben von Psychopharmaka bekommen sollen. Wir können deshalb davon ausgehen, daß ihre Kritik an Psychopharmaka aufgrund der wirtschaftlichen Eigeninteressen in Zukunft verstummen wird.

(6) Der neueste `Skandal' ist noch nicht einmal losgebrochen. In dem 1989 veröffentlichten Buch »Jugendbriefe an Eduard Silberstein, 1871 -- 1881« macht Silbersteins Enkelin Rosita Braunstein Vieyra auf etwas aufmerksam, das bis dahin noch nicht bekannt war: Silberstein »... verliebte sich heftig in Paula (oder Pauline) Theiler, ein junges Mädchen aus Jassy (Rumänien, J.M.). Leider hielt die Ehe nur kurz. Sie wurde bald geisteskrank, Silbersteins Freund Sigmund Freud behandelte sie erfolglos, und sie stürzte sich im gleichen Haus, in dem Freud wohnte, aus einem Fenster. Diese Tragödie wurde von Anna Freud bestätigt, als sie mich 1982, einige Monate vor ihrem Tod, zu einem Besuch bei ihr einlud.« (Braunstein Vieyra 1988, S. 188) Natürlich besteht kein Anlaß, Freud für diesen Tod verantwortlich zu machen, aber trotzdem ist dies ein weiterer Zwischenfall, den man hinter der offiziellen Geschichte der Psychoanalyse versteckte. Freuds Fälle, die mit Selbsttötung oder völligem Mißlingen der Therapie endeten, sind sehr selten veröffentlicht worden. Sie sind der verborgene Unterleib der Geschichte der Psychoanalyse.

(7) Diesen Persönlichkeiten scheinen sich andere Kultfiguren zuzugesellen, deren Image in letzter Zeit durch die Aufdeckung ihrer rechtslastigen (und oft antisemitischen) Haltungen seinen Glanz verloren hat, wie z.B. Joseph Campbell (siehe dazu den Artikel über ihn in Brendan Gills Buch: »A New York Life: Of Friends and Others« (1990); »Ein New Yorker Leben: Von Freunden und anderen Menschen«) oder der `ausgezeichnete' Historiker Mircea Eliade an der Universität von Chicago (der im 2. Weltkrieg ein hochrangiges Mitglied der Eisernen Garde in Rumänien war und eine Reihe gehässiger Schmähreden über Juden schrieb. Adriana Berger, die Eliades Forschungsassistentin an der Universität von Chicago war, fand diese Artikel und schrieb auf der Grundlage dieser neuen Materialien eine Biographie über Eliade; siehe dazu ihre Abhandlung mit dem Titel »Fascism and religion in Romania« [Berger 1989; »Faschismus und Religion in Rumänien«]. Ich konnte eine Bestätigung dafür finden, daß in der Abteilung für besondere Nachforschungen im Justizministerium der USA eine Akte über Eliade existiert, aber über den Inhalt wollte man mir keine Auskunft geben. Beim britischen Geheimdienst existiert offenbar ebenfalls eine Akte über ihn; siehe auch Strenski 1982.) Von noch größerer Bedeutung sind die kürzlich neu aufgetauchten Informationen über Martin Heidegger (Farias 1989), die ohne jeden Zweifel beweisen, daß Heidegger während des ganzen Krieges Mitglied der NSDAP war und sogar versuchte, seine Studenten der Nazi-Bewegung zuzuführen. Paul de Man, der Begründer der `Deconstruction' (neuere literaturwissenschaftliche und philosophische Methode) in Amerika, wurde in einer Reihe weit verbreiteter Artikel entlarvt, eine ähnlich unrühmliche Vergangenheit in Belgien gehabt zu haben, wo er antisemitische Artikel schrieb.

(8) Siehe dazu den journalistischen Beitrag von Frank Clancy und Heidi Yorkshire aus Los Angeles (1989).

(9) Ein Beispiel unter vielen: »Für Bettelheim beruhte das Privileg, Psychoanalytiker zu sein und die Theorie und Praxis der Psychoanalyse zu praktizieren, zu lehren, zu vermitteln und zu modifizieren, auf einem tief verwurzelten Respekt vor den Menschen, vor ihrer Privatsphäre, ihrer individuellen Einmaligkeit, ihren Anstrengungen und ihrer Suche nach der Wahrheit sowie der Hoffnung auf die persönliche Form der Befreiung, Kreativität und Ausgelassenheit.« (Fisher 1990, S. 628)

(10) Ich habe oft gehört, daß Bettelheim sich nie selbst als Psychoanalytiker bezeichnet hätte, daß nur andere das taten. Das stimmt jedoch nicht ganz. Er schrieb z.B. in »Aufstand gegen die Masse«: »Erst nach mehreren Jahren intensiver Analyse und nach vielen Jahren Praxis als Psychoanalytiker erkannte ich, inwieweit psychologische Erlebnisse die Persönlichkeit in einer bestimmten Gesellschaft verändern können...« (Bettelheim 1964, S. 16), was darauf hindeutet, daß er Psychoanalyse praktizierte. Darüber hinaus sagte er in dem letzten Interview »Love and death« (»Liebe und Tod«), das er Celeste Fremon kurz vor seinem Tod gab und das postum veröffentlicht wurde: »Also, ich will nicht sagen, daß Psychoanalyse nicht in vieler Hinsicht hilft. Immerhin wäre ich kein Psychoanalytiker, wenn ich daran nicht glauben würde.« (zit.n. Fremon, 1991) Tatsächlich war er kein Psychoanalytiker.

(11) Der Brief, der die Diskussion ausgelöst hatte, war am 6. April 1990 unter dem Titel »Brutal Bettelheim« anonym im Chicago Reader erschienen; in ihm heißt es u.a., daß »es quälend und schwierig ist, darüber zu schreiben. Ich habe so lange Zeit versucht, diese Erinnerungen abzuschütteln. Diese Erinnerungen haben meinem Leben alle Freude genommen. Aber als ich die Nachrufe sah, die Bettelheim als Helden darstellten, konnte ich nicht länger schweigen... Bruno Bettelheim half den Kindern an seiner Schule nicht, sondern im Gegenteil, er fügte jedem, der mit ihm in Kontakt kam, Schaden zu. Bettelheim und sein Lebenswerk waren einzig Betrug.« (Jatich 1990a) Die Autorin war Alida M. Jatich (persönliche Mitteilung). Charles Pekow, ein weiterer Insasse, schrieb den nächsten Artikel in der Washington Post unter der Überschrift »The other Dr Bettelheim: The revered psychologist had a dark, violent side« (»Der andere Dr. Bettelheim: Der hochgeschätzte Psychologe hatte eine dunkle, gewalttätige Seite«). Pekows Artikel beschreibt die gleiche Welt: »In den vier Büchern, die Bettelheim über die Schule schrieb, erwähnt er nie Schläge. Aber er schaffte ein Klima der Angst -- wir wußten nie, wann er uns aus irgendeinem willkürlichen Anlaß schlagen würde. Einmal, als ein Junge von einem Besuch zu Hause zurückkehrte, schlug ihn Bettelheim fünf Minuten lang ins Gesicht, boxte ihn mit den Fäusten in die Seite und zog ihn an den Haaren. Mittendrin eröffnete er uns, warum er das tat: Der Junge hatte seinem Bruder gesagt, er `solle sich in der Schule anstrengen'. Er hätte kein Recht, seinen Bruder herumzukommandieren. Die Schläge, die er austeilte, waren zwar schmerzhaft und demütigend, körperliche Schäden hinterließen sie nicht. Aber ich sah oft, wie Bettelheim Kinder an den Haaren über den Flur zerrte und ihnen Tritte verpaßte. Er schlug sogar autistische Kinder, die sich nicht klar artikulieren konnten... Ich hörte ihn sagen, daß auch Zusammenstöße beim Sport immer das Ergebnis bewußter Aggression seien (sogar bei bewegungsgestörten Kindern, die ihre Nerven nicht normal kontrollieren konnten). Und ich sah, wie er Kinder nach solchen Zusammenstößen schlug.« (1990, S. C4) Pekow weist auch darauf hin, daß Bettelheims Methoden denen deutscher KZs sehr ähnelten. Alle diese Artikel sind lesenswert, besonders der in der Argumentation straff aufgebaute von Ronald Angres (1990). Empfehlenswert ist auch der Artikel von Ron Grossman (1990), der auf die Unstimmigkeiten in Bettelheims Ausbildung hinweist (es ist nicht einmal klar, ob er überhaupt einen Abschluß in Psychologie hatte) und der aufdeckt, daß »die leitenden Mitarbeiter sich auch regelmäßig zu einer Analyse bei Bettelheim auf die Couch legten und Bettelheim die Ergebnisse anschließend der ganzen Belegschaft mitteilte« (S. 9). Siehe auch den Artikel von Richard Bernstein (1990).

(12) Der Brief, der an den Herausgeber von Commentary geschickt wurde, wurde nicht veröffentlicht. Ich konnte ihn mit der Hilfe von Ron Angres einsehen. Der Herausgeber veröffentlichte im Februar 1991 eine Reihe von Briefen zu diesem Artikel, zusammen mit einer Antwort von Angres. Die meisten Briefe, viele davon von ehemaligen PatientInnen, unterstützten ihn, aber es gab auch einige wie den von Federn.

(13) Sanders (1990) schrieb eine Würdigung, die mit den Worten schließt: »Dr. B. wußte nicht nur, was ich über ihn zu sagen hatte, er wußte auch von dem Plan, in der Schule für Orthogenetik ein Bettelheim-Forschungs- und Ausbildungszentrum einzurichten, damit es einen ganz persönlichen Ort mit seinem Namen und in seinem Andenken geben wird, als Teil einer großen Universität, wo Herz und Verstand zusammengeführt werden können, so daß das Licht, das wir brauchen, um weitere Fragen über die dunklen Schatten der Leiden der Kinder erforschen zu können, heller scheinen kann.« Es muß wohl nicht gesagt werden, daß sie nicht die Leiden im Auge hatte, die von Bettelheim verursacht wurden.

(14) Glenn Collins (1988) z.B. beschuldigt mich in der Kritik meines Buches »Die Abschaffung der Psychotherapie«, die Leserschaft auf eine große Reise der Horrorgeschichten über Therapien zu schicken, als ob dies ein grundlegender Charakterfehler von mir wäre oder ein Beweis für Sadismus. Er scheint es mir als Fehler anzulasten, daß ich »Behauptungen wiederbelebe, Carl Jung hätte während des 2. Weltkrieges mit den Nazis zusammengearbeitet«, als ob ich einen Fehltritt beginge und mit meiner Aussage nicht dem guten Geschmack entspräche; diese Haltung betrifft auch meinen Hinweis, »die Götter der Therapie seien patriarchalisch, sexistisch, autoritär und allzu fehlerhaft.« Aber Collins sagt nie, daß ich mich irre oder wann genau es falsch ist, solche Fragen aufzuwerfen. Besonders wichtig ist die Feststellung von Mr. Collins, ich würde suggerieren, »die Psychotherapie stelle sich nicht den Problemen sexueller Gewalt, Kindesmißbrauch, Vergewaltigung, Mißhandlung, Folter, Torturen der KZs und anderer Scheußlichkeiten.« Ich suggeriere das nicht nur: Ich spreche es klar und deutlich aus, immer wieder. Ich glaube das, ich glaube es auf der Grundlage vieler historischer Beweise. Ich kann sogar noch weiter gehen und sagen, daß jedes neue psychiatrische Interesse an Unterdrückung mit einiger Skepsis beurteilt werden sollte, besonders da die größten Unterdrücker die Psychiater selbst sind: Lobotomie (operative Durchtrennung von Vorderhirn-Nervenbahnen), Elektroschock, psychiatrische Psychopharmaka, die tardive Dyskinesien (häufig bleibende und mit unwillkürlichen Muskelbewegungen einhergehende Parkinsonsche Nervenschädigungen) hervorrufen können, Zwangsunterbringung in psychiatrischen Einrichtungen, sexueller Mißbrauch von PatientInnen; die Liste könnte lange fortgesetzt werden. Es stimmt, daß Psychiater neuerdings versuchen, sich das öffentliche Interesse am sexuellen Mißbrauch zunutze zu machen. Sie sagen z.B., sie seien `Experten' für die Behandlung der Opfer, und Frauen sollten einen Psychiater aufsuchen, um `geheilt' zu werden. Es sei mir erlaubt, skeptisch zu sein bei einem Berufsstand, der Sachkenntnis auf einem Gebiet -- Mißbrauch von Kindern -- haben will, von dem er bis vor einigen Jahren noch bestritten hat, daß es überhaupt existiert!

(15) Es ist gemeinhin bekannt, daß sich Anna Freud wenig für die tatsächlichen Lebensumstände ihrer PatientInnen interessierte; »... sie verlegt auch die gesamte adoleszente Pathologie (`krankhafte Störung' im Jugendalter) in den Innenraum der jungen Menschen und bringt sehr wenig Interesse für ihre soziale Umwelt auf. Bei der Diskussion eines klinischen Fallberichts in der Hampstead Clinic (in London) war sie irritiert, als einige Therapeuten die Auffassung vertraten, daß die Ursache der Pathologie in der Familie des/der Adoleszenten zu suchen sein könnte, und sie wies darauf hin, daß die Eltern sichtlich wohlmeinende und gutartige Mittelständler seien, wobei sie übersah, daß keine dieser Eigenschaften ein möglicherweise pathologisches Familiensystem ausschloß.« (Sophie Freud 1988, S. 329) Jedoch ist Sophie Freud, die Tochter von Esti Freud, der Schwiegertochter Sigmund Freuds, mit meiner Kritik nicht einverstanden: »... die neuerdings geäußerte Kritik, daß Sigmund Freud oder Anna Freud alle Beschuldigungen gegen Eltern in das Reich der Phantasie verbannt hätten, ist unberechtigt.« (S. 341) Dies ist offensichtlich ein Hinweis auf mich, und sie zitiert einen Abschnitt Anna Freuds, um das zu belegen: »Im praktischen Leben aber ist es meistens sehr viel wichtiger, das Kind vor dem Zorn des Vaters zu schützen, als den Vater vor der Aggression des Kindes.« (A. Freud 1980a, S. 97; zit.n. ebd.)

(16) David Viscott, ein bekannter Psychiater in Los Angeles mit einer eigenen Radio- und Fernsehsendung, erwog kürzlich die Möglichkeit, daß Anna Freud von ihrem Vater Sigmund sexuell mißbraucht worden sein könnte. Er lieferte keine direkten Beweise dafür, sondern schloß nur indirekt hierauf.

(17) Die Studie von Diana Russell (1983) gilt allgemein als die ernsthafteste und verläßlichste auf dem Gebiet, und sie wurde inzwischen schon einige Male neu aufgelegt. Ihre Schlußfolgerung lautet: »Mehr als ein Viertel aller weiblichen Kinder ist vor dem 14. Lebensjahr sexuell mißbraucht worden; und mehr als ein Drittel mußte solche Erfahrungen bis zu seinem 18. Lebensjahr machen.« (S. 145) Ihre Definition für außerfamiliären sexuellen Mißbrauch lautet: »ein sexueller Übergriff oder mehrere sexuelle Übergriffe durch Personen, die nicht durch Blutsverwandtschaft oder Heirat in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen; das Spektrum der sexuellen Vergehen reicht von Petting (Berühren der Brüste oder der Geschlechtsorgane oder der Versuch zu solchen Berührungen) bis zu Vergewaltigungen vor der Vollendung des 14. Lebensjahres der Opfer oder versuchter oder vollzogener Vergewaltigung zwischen dem 14. und (einschließlich) 17. Lebensjahr«. Sexueller Mißbrauch innerhalb der Familie wird definiert als »jede Form erzwungenen sexuellen Kontaktes zwischen Verwandten, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad, bevor das Opfer das 18. Lebensjahr vollendet hat.«

(18) Mehr Auskunft über die Problematik, die der von Stettbacher empfohlenen Therapieform zugrunde liegt, erhalten wir auch in diesem Fall von Betroffenen selbst. Am Abend des 22. Februar 1990, dem 31. Geburtstag des Maschinenbau-Ingenieurs und Psychiatrie-Betroffenen Thomas B., brachte der Berliner Rundfunksender SFBeat einen Bericht über dessen besondere Therapie-Erfahrungen; dieser Bericht belegt die Gefahren, die das vertrauensselige Befolgen therapeutischer Ratschläge auch von scheinbar hochqualifizierten Therapie-ExpertInnen in sich bergen kann. Der Journalist Paul Amberg beschreibt in der »Geschichte von einem, der auszog, sich selbst zu helfen und dabei in die Fänge derer geriet, die sich berufen fühlen, anderen zu helfen« -- zum Teil mit dessen eigenen Worten -- einen Teil des Leidenswegs von Thomas B.; dessen Psychiatrie-`Karriere' begann sechs Jahre zuvor in der Berliner Universitätsanstalt und führte kurze Zeit später zur Abstempelung als schizophren und nicht therapierbar. Bei der Suche nach qualifizierter Psychotherapie stieß Thomas B. auf Alice Miller, die in ihrem Buch »Das verbannte Wissen« (1988) den Schweizer Primärtherapeuten Stettbacher empfiehlt. Der Journalist: »Für Thomas ein Strohhalm der Hoffnung. Bei einem Treffen mit Stettbacher empfiehlt ihm dieser eine Therapeutin in Berlin. Was Thomas nicht weiß: Diese Therapeutin ist eine normale Ärztin, die Konrad Stettbacher lediglich über eine Telefontherapie kennt. `Ihr einziger Hintergrund ist, daß sie nach der Methode Stettbachers, die sie für sich in Anspruch nimmt, anwenden zu können, in Hamburg zwei Frauen betreut hat, in ihrer Praxis als Praktische Ärztin: eine, die nicht so schwer dran war, ein Jahr, und mit der anderen würde sie jetzt auch über Hamburg-Berlin Telefontherapie machen.' Das war eigentlich nicht das, was Thomas wollte, beruht doch die Primärtherapie auf persönlichem Kontakt mit dem Patienten und zu dessen Schutz auf einer fundierten Ausbildung des Therapeuten. Wie sich weiter herausstellte, war die vermeintliche Helferin selber gerade in einer labilen Phase und verfügte zum Zeitpunkt des ersten Treffens Ende Dezember noch nicht einmal über Behandlungsräume, die einen Urschrei zuließen. Anfangs traf er sie sogar in einer Pizzeria mit der Aussicht, die Therapie in der Eineinhalbzimmer-Wohnung der Tochter weiterzuführen. `Ja, ich hatte ein ganz komisches Gefühl. Also bei ihrer Tochter hat sie es dann doch nicht gemacht. Da hat sie dann ganz schnell in der Fritschestraße (im Berliner Stadtteil Charlottenburg) die psychologische Praxis, den Raum dort, ausfindig gemacht und hat ihren Hund mitgebracht. Und beim zweiten Mal war sogar ihr Hund draußen vor der Tür, und während ich da drin sozusagen die Urschrei-Therapie machte, hat das arme Vieh an der Tür draußen ständig gekratzt und so. Ich hatte sie auch ein paarmal gefragt, wie denn das wäre über Telefon, und hab schon so ein bißchen zaghafte Zweifel geäußert -- sie ist ausgewichen.' Vollends stutzig wurde der mittlerweile fachkundige Thomas, als seine vermeintliche Primärtherapeutin Therapieformen bunt mischte. `Was du mir erzählst, ist doch Verhaltenstherapie. Hat sie gesagt: Das ist es. Da hab ich sie dann schon gefragt, was hat das mit Primärtherapie zu tun? Und da hat sie dann gesagt, das wär sensationell oder die große wissenschaftliche Errungenschaft, daß Stettbacher das jetzt so erweitert hätte. Aber in seinem Konzept hab ich -- weiß Gott! -- nichts gelesen, was mit verhaltenstherapeutischer Behandlung zu tun hätte.' Da Thomas keine Adresse und Telefonnummer von der Frau besaß, ging er zum zweiten Mal in die Praxis, um die Therapie zu beenden, war jedoch zu schwach, sich durchzusetzen, und so lag er wiederum drei Stunden auf dem Boden und sollte Gefühle freilassen, und das in einer Atmosphäre, die alles andere als vertrauensvoll für ihn war. Das Resulat: ein Rechnung über 480 Mark für therapeutische Bemühungen. Thomas bezahlte bislang nur 200 Mark, mehr ist er nicht bereit, für diese Scharlatanerie auszugeben.« (Amberg 1990)

(19) Es gibt wenig neue Bücher, die grundlegende Zweifel an der Psychiatrie äußern. Ich empfehle besonders das Buch von Kate Millett »The Loony Bin Trip« (1990; »Der Klapsmühlentrip«), eine wichtige Anklage gegen Zwangsbehandlung. Das neue Buch von Peter Breggin, »Toxic Psychiatry« (1991; »Giftige Psychiatrie«), ist eine der vernichtendsten Kritiken, die je gegen die Psychiatrie verfaßt wurden. In England wird außerdem eines der beiden Bücher neu aufgelegt, die meiner Ansicht nach die besten Bücher gegen Psychiatrie überhaupt sind, die je geschrieben wurden: »Too Much Anger Too Many Tears« (1975; »Zu viel Zorn, zu viele Tränen«, 1977) von Janet und Paul Gotkin. Das andere Buch ist »Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern«, geschrieben von Tina Stöckle (1983) über eine Berliner Selbsthilfegruppe von Psychiatrie-Betroffenen und ihre antipsychiatrische Arbeit in den ersten Jahren nach Gründung der Gruppe. Ich selbst habe kürzlich »Final Analysis: The Making and Unmaking of a Psychoanalyst« (1991a; deutsche Übersetzung bei C. Bertelsmann Verlag München, in Vorbereitung) veröffentlicht; im Buch stelle ich die Geschichte meiner Analytiker-Ausbildung dar und schildere, wie und warum ich dem Fach den Rücken kehrte.

(20) Siehe dazu das hervorragende Buch des Genetikers Benno Müller-Hill »Tödliche Wissenschaft: Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933 -- 1945« (1989). Robert J. Liftons »Ärzte im Dritten Reich« (1988) ist in meinen Augen eine Art Schönfärberei der Psychiatrie. Lifton, ein US-amerikanischer Psychiater, macht nicht klar, wer genau die Übeltäter waren, und beschuldigt niemanden außerhalb Deutschlands, obwohl das Schweigen der internationalen Gemeinschaft der Psychiater eine Verurteilung verdient. (Ich kenne bis jetzt keine Studie über die internationale Reaktion, obwohl vorbereitende Untersuchungen, die ich angestellt habe, ergeben haben, daß es auch außerhalb Deutschlands so gut wie keinen Protest gab.) Tatsächlich haben psychiatrisch Tätige (einschließlich der Inhaber anerkannter Lehrstühle für Psychiatrie an deutschen Universitäten) enthusiastisch die Eliminierung von ungefähr 80% aller PsychiatrieinsassInnen betrieben. Im Jahr 1942 schrieb Foster Kennedy, Leiter der Neurologie am Bellevue-Hospital und Präsident der American Neurological Association (US-amerikanische Standesvereinigung der NeurologInnen), über »unfähige, geistesschwache Kinder, mindestens 5 Jahre alt«; er bezeichnete sie als »nutzlos, dumm und absolut lästig« und meinte, daß sie euthanasiert werden sollten. Das Journal of the American Psychiatric Association billigte im Juli 1942 diese Ansichten! Kürzlich kamen auch einige neue Informationen über die Tötung von Psychiatrie-PatientInnen in Frankreich ans Tageslicht (siehe dazu Lafont 1987).

(21) Psychotherapie ist ein Teil der psychiatrischen Welt. Kaum einer der PsychotherapeutInnen lehnt psychiatrische Konzepte ab. Deshalb geht es Psychotherapie-Betroffenen nicht viel anders als Psychiatrie-Betroffenen, und beide Gruppen sollten sich in ihrem Kampf gegen Unterdrückung zusammentun.

 

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Stamp