Kerstin Kempker

Rezension von Thomas Szasz:

Grausames Mitleid.
�ber die Aussonderung unerw�nschter Menschen

erschienen in Dr. med. Mabuse, 1998, Heft 111, S. 74

Thomas Szasz' �Grausames Mitleid� ist ein Pl�doyer gegen Zwangsbegl�ckung, aufbauend auf der Geschichte der Entsorgung der Unerw�nschten am Beispiel der Bed�rftigen, Schuldner, Epileptiker, Kinder und Obdachlosen. Es erschien 1994 in den USA und ist der Folgeband zu �Insanity: the idea and its consequences� von 1987.

Angelockt zum Lesen und Besprechen dieses Buches wurde ich von dem in seiner Widerspr�chlichkeit so wunderbar stimmigen Titel und von einem Autor, der – ebenso widerspr�chlich und konsequent – seit Jahrzehnten die Antipsychiatrie mit fundierten Theorien versorgt, gleichzeitig aber niemanden unfl�tiger beschimpft als die legend�ren linken Vertreter eben dieser Bewegung, Laing und Cooper.

Abgesto�en hat mich bei der Lekt�re von Seite zu Seite mehr das grausame Desinteresse an den �Unproduktiven�, die tiefe Verachtung, die badness (Schlechtigkeit) mit madness (Verr�cktheit) gleichsetzt, und die brutale Konsequenz einer von allem Sozialen bereinigten purkapitalistischen Weltanschauung. In bezug auf die Psychiatrie basiert diese auf den �bekannten Grundtatsachen der Existenz, n�mlich, dass manche Menschen arbeiten und andere nicht und dass das Gesch�ft der Psychiatrie darin besteht, Armenf�rsorge (getarnt als medizinische Versorgung) an erwachsenen Abh�ngigen zu betreiben (deren Faulheit und Z�gellosigkeit sich als Krankheit tarnt)�.

 

Ausgehend von der Frage �Wer ist f�r wen und warum unerw�nscht?� und der Beobachtung: �In den Vereinigten Staaten sind die Unerw�nschtesten heute Drogenabh�ngige, chronische Psychiatriepatienten und Obdachlose� f�hrt Szasz durch die Geschichte der Zwiesp�ltigkeit des Helfens: Von den ersten Armengesetzen in England um 1600, die neben der Unterst�tzung die Arbeitsh�user einf�hrten, �ber die Schuldt�rme, die Epileptikerkolonien und die Besserungsanstalten f�r Kinder kommt er zur Obdachlosigkeit als einer in den USA anerkannten psychiatrischen Kategorie. �Doch ebenso wenig, wie uns der Begriff der Krankheit sagt, was Gesundheit ist, sagt uns der Begriff der Obdachlosigkeit, was ein Zuhause ist.� So wie die Schuldhaft 300 Jahre sp�ter abgeschafft wurde, weil sie nicht effizient war, auch nicht f�r Staat und Gl�ubiger, denn sie hielt den Schuldner von der Arbeit ab, so wie auch die Epileptikerkolonien abgeschafft wurden, weil sich die Meinung ge�ndert hat und Epilepsie nicht mehr als Geisteskrankheit und Epileptiker nicht mehr als gef�hrlich gelten, so wird es auch Zeit, die Kinderpsychiatrie abzuschaffen, die in den USA �wie Fast-Food-Ketten� seit den 70ern geboomt ist und sich �das wahllose Abf�llen von Kindern mit Psychopharmaka� zur Aufgabe gemacht hat.

Szasz' sehr berechtigte Kritik an der Therapiegesellschaft, an der paternalistischen Zwangsherrschaft, mit der vermeintliche Bed�rfnisse befriedigt werden, und an dem gef�hrlichen Bundesgenossen Mitleid als Rechtfertiger von Zwang, ausge�bt an den hilflosesten Mitgliedern der Gesellschaft, sowie seine Maxime, �dass Erwachsene Rechte und Pflichten haben, die von psychiatrischen Diagnosen nicht ber�hrt und noch viel weniger annulliert werden�, verblassen und verlieren an Glaubw�rdigkeit, wenn das Wunschziel seiner �berlegungen die totale Marktwirtschaft ohne Sozialabgaben ist, das Wahlrecht nur f�r Steuerzahler und das Recht auf Armut, Obdachlosigkeit, Sucht und Drogentod f�r alle �brigen. Laissez-faire, laissez-mourir:

�Es ist Torheit, das Bet�tigungsfeld des 'therapeutischen Staates' bewusst auszuweiten, indem man den Personenkreis der Anspruchsberechtigten gegen�ber seinen Dienstleistungen um neue Kategorien erweitert, wie sexuell aktive Halbw�chsige (die schwanger werden oder Aids bekommen k�nnten) oder erwerbst�tige Erwachsene (die legale oder illegale Drogen konsumieren oder spielen). Diese Personen ben�tigen weder die Dienstleistungen des Staates noch verdienen sie sie in dem Sinne, in dem, sagen wir, ein verwaistes Kind oder ein bed�rftiger alter Mensch sie ben�tigt und verdient.�

Es ist ganz einfach, wie Szasz auch immer wieder gerne betont: Im Kapitalismus seiner Wahl hat der Staat einzig die Aufgabe, Eigentum und Freiheit zu sch�tzen. Es gibt nur Produktive und Unproduktive. Die Unproduktiven sind die Feinde der Freiheit. �Ein Individuum, das nicht produktiv werden kann oder will, muss ein Abh�ngiger oder ein R�uber werden oder zugrunde gehen.�

erschienen in Dr. med. Mabuse, 1998, Heft 111, S. 74