Wolfram Pfreundschuh (1986)

Wider die Erziehung

Kinder werden in Liebe gezeugt und geboren und wachsen auch nur in Liebe gut auf. Selbst in der b�rgerlichen Psychologie gibt es eindeutige Forschungsresultate, da� Entwicklungen, die unter Strafe, Strafandrohung, physischer, psychischer, moralischer oder religi�ser Gewalt entstehen, eindeutig schw�chere, d�mmere, unflexiblere also insgesamt lebens- und liebesunf�higere Menschen hervorbringt, als Verh�ltnisse, in denen Kinder ihr Leben frei empfinden und entwickeln und ergreifen k�nnen und das Leben der Erwachsenen nach ihren M�glichkeiten und ohne Druck nachvollziehen und hieraus eigenes Sein entwickeln k�nnen.

Erwachsene vermitteln ihren Kindern immer und in jeder Form ihr Dasein, ihre bisherigen Geschichte, ihr Wissen und Begehren, ihre Ohmacht, ihr Versagen, ihr Geschick, ihre Liebe und ihre Konflikte und Ängste. Erziehung hat damit nicht viel zu tun; sie will nicht vermitteln, sie will "ziehen". Erziehung stellt an das Kind eine Anforderung an seine Entwicklung und abstrahiert vor allem von dem wirklichen Verhältnis, von dem tätigen Miteinander von Erwachsenen und Kindern in ihren unterschiedlichen Welten. Erziehung meint "groß-ziehen". Kinder sollen dahin gezogen werden, wo das bestehende Erwachsensein als Lebensgröße vorgestellt wird, und wohin ein Kind gezogen werden muß. Erziehung beinhaltet somit alle Vorstellung der überkommenen Existenz und Lebensweise als Maßstab für die kindliche und benötigt Sanktionsmittel, um das Kind dahin zu bringen. Stammverwandte Begriffe zur Erziehung sind daher auch Zucht (Erzogen-sein als Selbstdisziplin) und Züchtigung (Nötigung zur Zucht).

Der Raum, in welchem Erziehung stattfindet, ist im Allgemeinen die Familie. Dort trifft Liebe und Existenz zusammen. Existenz ist in der kapitalistischen Gesellschaft nicht gesellschaftliche Lebensgestaltung, das Zusammentragen von Kraft und Geist von Menschen zur allseitigen Entfaltung ihres eigenen und ihres sozialen Lebens, sondern die Notwendigkeit zur individuellen Selbsterhaltung, der Zwang zur Teilnahme an einem entfremdeten Arbeitsprozeß, um ausschließlich die Mittel zum individualisierten Leben zu ergattern.

Die Familie �bertr�gt diesen Zwang auf die Menschen, welche sich in ihr voraussetzungslos erscheinen d�rfen. Sie setzt ihn nicht unmittelbar gegen ihre Mitglieder als gesellschaftliche Gewalt durch, sie teilt ihn aber durch die famili�ren Rollen an jeden ihrer Mitglieder durch eine gesellschaftlich – und das hei�t hier vor allem existentiell – bestimmte Rollenerwartung mit. Die Menschen m�ssen die Rollen ihrer �u�erlich bestimmten Existenz erf�llen, ob allein- oder gemeinschaftlich erziehend; der Mann als Mann ebenso, wie die Frau als Frau, und die Kinder m�ssen das werden, was gesellschaftlich erwartet wird, weil es existentiell n�tig erscheint. Die Familie als Ganzes besteht als Haushaltungsgemeinschaft zwar nur durch die Erf�llung dieser existentiellen Aufgabe, ist aber unmittelbar als soziale Gemeinschaft ein ausschlie�lich wechselseitiges pers�nliches Verh�ltnis ihrer Mitglieder. Sie enth�lt den Widerspruch b�rgerlicher Lebensgewalt und pers�nlicher Zuneigung in der Einheit der Menschen, die damit ihre Existenz, ihren Haushalt, ihre Lebensplanung und ihre Altersversorgung erwerben und vollziehen.

Im Verh�ltnis der Generationen ist der Begriff "Erziehung" der Ausdruck dieses Widerspruchs. Er besagt dem Kind die gesellschaftliche Notwendigkeit eines bestimmten Seins, die ihm zugleich die Ohnmacht seiner Liebe in einem isolierten gesellschaftlichen Raum bedeutet. Es kann daran nichts �ndern. Es steht in der Notwendigkeit, das zu werden, was die Gesellschaft an Erwartungen und F�higkeiten dort schon abverlangt, wo es diese Existenzgewalt noch garnicht erkennen kann. Es mu� also erzogen werden, damit es "etwas wird", und indem es etwas wird, verliert es das, was es ist: Ein erwartungsfroher Mensch mit allen Strebungen der Neugier, des Erfahrens, der Wi�begierde und des Lernens. Der Boden der Erziehung ist nicht die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Leben und seiner Gewalten, sondern die in Liebe bereits aufgel�ste Gewalt, bevor sie �berhaupt erfahrbar werden kann.

Eltern haben in diesem Verh�ltnis vor allem eines im Sinn: Da� ihr Kind das tut, was sie f�r richtig halten. Und es tut dies, weil es ihre Liebe sucht. Erziehung ist von daher in erster Linie nicht Er�ffnung des Lebens und seiner M�glichkeiten, sondern die Reduktion der Lebensm�glichkeiten auf die Notwendigkeiten eines Lebens, welches nur dem Erwachsenen zug�nglich ist, in der Liebe und Seele des Kindes. Sie ist die Durchsetzung vorweggenommener existentieller Gewalt als seelische Selbstbeschr�nkung der Kinder.

Gewalt ist Gewalt, auch wenn sie in z�rtlicher Form auftritt. Durch die Form der Gewalt ist nichts anders; die Form kann lediglich den Schein �ndern und damit – im friedlichen Gehabe – zur Falle werden. �nderbar aber sind die Gr�nde f�r Gewaltt�tigkeit, die Lebensformen. Man kann sich Familie oder andere Entwicklungs- und Beziehungsr�ume als einfaches Zusammenleben der Generationen vorstellen, man kann ihre Form �ndern, sofern es die �u�eren Bedingungen des Lebens zulassen, sofern es also die gesellschaftliche Form der Lebensbedingungen zul��t. Sowohl die Kleinfamilie wie auch das Kinderhaus stehen unter dem Druck einer Gesellschaftsform, die �ber den Existenzdruck zur Indiviadualisierung, zur Zerst�rung von Gesellschaftlichkeit, zur Anpassung an diesen Druck, zur Erziehung zwingt. Die Kritik der Erziehung beeinhaltet so auch unmittelbar Gesellschaftskritik.

Es ist daher n�tig, die Erziehung und die darin vermittelten Verh�ltnisse und Rollen und die dort vermittelte Gewalt genauer anzusehen.

 

1. Gewalt und Gebot des Bestehenden

Die "Sorgeberechtigten", die verehelichten oder unehelichen gemeinsam oder alleine erziehenden �lteren, die Eltern, M�tter und/oder V�ter, die Familien, haben durch b�rgerliches Recht ungeheuerliche Gewalten �ber ihr Kind:

Sie k�nnen jederzeit �ber ihr Kind bestimmen,
• ob und welche seiner Bed�rfnisse anerkannt oder disqualifiziert werden sollen,
• was ihm als gut und was als b�se gelten soll,
• ob es "normal" empfunden wird oder als therapiebed�rftig gilt,
• wo es sich aufhalten darf,
• mit wem es verkehren darf,
• in welche Schule es geht,
• welcher Religion es zugeh�ren soll,
• ob es zu Hause leben "darf" oder ins Heim oder ins Internat kommt,
• ob es gez�chtigt oder belohnt wird,
und so weiter...

Die "Elterliche Gewalt" gilt als eines der wichtigsten Werkzeuge f�r das Wachstum der Kinder in unserem Land. Staatspolitisch gesprochen handelt sich bei der Sicherstellung der elterlichen Gewalten um "Familienschutz", worin "Verantwortung, Aufgaben und Pflichten" der Eltern festgestellt und �ber das "Scheidungsrecht" und den sogenannten "Jugendschutz" durchgesetzt werden. Eltern mit wesentlich anderen Auffassungen k�nnen z.B. ihre Kinder entzogen bekommen, indem ihre Familie einfach als verwahrlost eingestuft wird.

Erziehung soll bewirken, da� die "nachwachsende Generation" jene F�higkeiten erwirbt, die hierzulande zur Existenzbeschaffung und -erhaltung geboten sind; – und sie soll dies nicht als eben dieses Gebot, also als �u�erliche Notwendigkeit, weitergeben, sondern vor allem die schlichte Intimit�t der Geburtsst�tte, die einfachste und innigste Beziehung von Eltern zu ihren Kindern nutzen, um dies zu erreichen. Wo Gebote und Verbote n�tig sind, da w�re die Auseinandersetzung �ber das N�tige geboten oder der Hinweis des Erwachsenen auf die existentielle Notwendigkeit, auch wenn sie dem Kind (noch) nicht zug�nglich ist. Die Gebote und Verbote des Erziehers aber verlangen schlichten Gehorsam und hierf�r w�re der Aufwand an Kontrolle und Strafe zu hoch. Wo ein Mensch dem Gebot aber in Liebe folgt, vollstreckt er das Gebotene wie von selbst. So k�nnen eben vor allem die Eltern garantieren, da� ihre Kinder das werden, was sie werden m�ssen, und deshalb sollen sie auch m�glichst ungest�rt �ber das Werden ihrer Kinder verf�gen k�nnen – jedenfalls solange sie es tun.

Nur die Eltern und Familien, in denen die Verf�gungsgewalt aus verschiedenen Gr�nden nicht oder nicht mehr ausge�bt wird, werden von Jugend�mtern aufgesucht und im einfachsten Fall mit einer "Erziehungsbeistandschaft" bedacht, oft auch durch gewaltsamen Entzug des Kindes gema�regelt.

Staatlich gesch�tzt werden soll ein Ort, wo das M�ssen als Wollen erscheinen kann, wo das Gewordene sich zum Werdenden m�chtig und liebend zugleich verhalten kann, wo Eltern ihre Kinder zu etwas machen, was sie sein sollen, – wo sie diese also erziehen k�nnen sollen. Ein Recht des Kindes auf seine Selbstfindung, auf eigenes Sein und Werden, gibt es nicht; – es ist hierzulande gerade mal gegen Verkr�ppelung, Pr�gel und wirtschaftliche Ausbeutung einigerma�en gesch�tzt. Stattdessen gesteht das b�rgerliche Recht den Erziehenden ungew�hnlich viel Willk�r zu, denn das wesentliche ist, da� sie ihr Kind "nach ihrem Bilde" gestalten, welches sie aus ihrer Existenz heraus und nach ihrem gelebten Leben entwickelt haben. Die kleinen G�tter in der Familie sollen das Sagen haben, denn der gro�e Gott, der Staat, kann ihren Bildern ruhig vertrauen, weil sie auf der Bem�hung gr�nden, "aus einem Menschen was zu machen".

Das klappt meist auch wunderbar und fast unwidersprochen. Nur am Rande, in den Krippen, den Heimen, den p�dagogischen oder psychiatrischen Anstalten und den Horten wird hier und da Verweigerung erkennbar. Um so gr��er ist dort die Macht der Erziehung als Profession, die es versteht, Disfunktionen auszub�geln. Aber auch das geht schier reibungslos. Ein Blick z.B. in die Jugendpsychiatrie gen�gt, um zu zeigen, wieviele und welche Kinder die Urteile und Bilder ihrer Eltern nicht einzul�sen verm�gen, welche Kinder von ihren Eltern oder den Allgemeinvorstellungen einfach "anders" gehabt werden wollen: Kinder mit "religi�sen Vorstellungen", Kinder mit Angst, Kinder, die bettn�ssen, Schule schw�nzen, N�gel bei�en, einschei�en oder einfach von zu Hause abhauen. Letzteres ist die h�ufigste "Krankheit" f�r die Jugendpsychiater.

Die Erzieher und Psychiater sind dort die Sorgeberechtigten und sorgen mit oder ohne Drogen (Psychopharmaka) daf�r, da� sich das Kind f�gt, worein es sich f�gen mu�. Aus der Verweigerung des Kindes machen sie einen psychologisch/medizinisch/psychiatrischen Befund und begr�nden damit, was sie tun: Einsperren, Beruhigen, Strafen, chemisch/psychologisches Vernichten von Empfindungen und Gef�hlen und Anpassung durch Angsterzeugung. Das abweichende Kind kann nirgendwo als Mensch existieren, – es ist alleine und ausschlie�lich ein Problem f�r die "Sorgeberechtigten". Und wer "Probleme" mit seinem Kind hat, kann sie jederzeit in solchen Anstalten abliefern – auch wenn es so ohne weiteres keinen "Befund" gibt. Dann geschieht es eben mal aus "Verst�ndnis f�r die Eltern" – und deshalb ist die h�ufigste Diagnose in der Jugendpsychiatrie eine Diagnose die praktisch nicht �berpr�fbar ist und die schon viele Kinder f�r Jahrzehnte hinter die Anstaltsmauern gebracht hat: Hebephrenie, jugendliche Form der Schizophrenie. Hier und da wird auch diese "Ordnung" unterbrochen, und dann zeigt sich der Umfang und die Totalit�t der b�rgerlichen Gewalt schlagartig. Wo Kinder aus Heimen oder aus der Psychiatrie abhauen und nicht nach Hause wollen oder kein Zuhause haben, soll es f�r sie nichts mehr geben.

So ist z.B Ulli R. aus der Indianerkommune in N�rnberg wegen "Kindesentziehung" mit 3 anderen Kommunenmitgliedern seit 1981 bereits 13 1/2 Monate in U-Haft gewesen und hat jetzt neuerdings 1 Jahr Knast auf Bew�hrung und 1.600,– DM Geldstrafe bekommen, weil die Indianer Kinder aufnehmen, die von zu Hause abhauen und nicht mehr zur�ck wollen. Die Fratzen der Kinderseelsorge werden dann deutlich: Die Situation der Kinder wurde nur unter bitteren Hohn zur Kenntnis genommen. Die Indianer ver�ffentlichen zur Gen�ge ohne Wirkung:

"Nur ein Beispiel f�r den Geist dieses Familienschutzprozesses. Als Ulli darstellte, wie Patrizia aus Angst vor ihrem Stiefvater zitterte, mit den Z�hnen klapperte und 'fiepste', meinte Staatsanwalt Henner: 'Klar doch, wenn Sie nicht heizen'. Firnkorn meinte noch, da� wir Kinder auf den Strich br�chten, weil wir sie nicht zur Schule schicken. Doch von uns aus besuchten immer wieder Kinder die Schule. Schon fr�her einmal hatte das Jugendamt einen Ausrei�erjungen von der Schulbank weggeholt."

 

2. Leben unter Existenzzwang

Eine Gesellschaft, die den Menschen nicht als Ensemble gesellschaftlicher Existenz, Arbeit und Stoffwechsel, sondern als Gewalt begegnet, als formalisierter Existenzzwang, als Existieren-k�nnen-m�ssen, als Staatsmacht, als Tr�ger einer den Menschen bedrohenden Wertbildung und Weltzerst�rung, hat vor allem das Problem mit den Menschen selbst. Wo sich das Leben der Menschen nicht gesellschaftlich gestalten kann, da mu� die Gesellschaft den Menschen gestalten; sie mu� ihn in ihre Verh�ltnisse einf�gen, damit sie insgesamt funktioniert. Die Menschen m�ssen darin zusammenwirken, ohne den Grund ihres Zusammenwirkens verwirklichen zu k�nnen. Sie sind in ihrem k�rperlichen und geistigen Sein, in ihrer ganzen Wirklichkeit, von einer Macht beherrscht, die ihre ungeheuerliche wirtschaftliche Eigengesetzlichkeit als einzige Existenzgestaltung hat, die alles Lebende, Mensch und Natur als ihr Mittel vernutzt, als Moment einer �konomie, die in sich selbst nur reine Gewalt ist: sich selbst verwertender Wert, sich selbst verwirklichendes Geld, weltwirtschaftliche Macht. Und diese Gewalt verschlei�t nicht nur das Leben der Menschen, sondern bedroht inzwischen auch ihre ganzen Lebensbedingungen.

Wo die Menschen nicht ihre Beziehungen und Verh�ltnisse gesellschaftlich verwirklichen, wo sie sich nicht in ihrer Ganzheit existentiell wiederfinden und erkennen k�nnen, da werden sie selbst zu einer geteilten Ganzheit, zu isolierten Individuen, die vom Wohl und Wehe eines Ganzen abh�ngen, das sie weder durchschauen noch als ihre eigentliche Lebensgrundlage ansehen k�nnen. Als Einzelzellen in dieser Welt, als Paare, Familien oder Subkulturen m�ssen sie damit auskommen, das zu bleiben, wozu sie bestimmt sind. Sie sollen auf sich selbst gegr�ndet leben, auf ihrer Einzelheit und ihrem Stoffwechsel, um durch ihre auf sich selbst reduzierte Notwendigkeit dieses schiere nur fremde Objektive zumindest als Arbeitskr�fte und Konsumenten, am besten auch als Gehilfen objektivierter Lebenspl�ne und Moral zu erf�llen. Das Ganze der b�rgerlichen Gesellschaft kann solange unbeschadet erhalten bleiben, solange die Menschen ihr das geben, was ihnen abverlangt wird. Und die wirtschaftlichen Einrichtungen dieser Gesellschaft geben ihnen daf�r das als Mittel zur�ck, was sie ihnen als Substanz nehmen: ihre Lebenskraft als Lebensmittel, ihre Arbeit als Broterwerb.

Mit der L�ge der Individualit�t, der Abgetrenntheit kleiner Menschen, h�lt sich dieses System in Gang. Was diese bringen m�ssen, ist die Erhaltung dieser vereinzelten Zellen des Lebens – ohne gesellschaftliches Organ. Die Gesellschaft verweigert sich ihrer eigenen Lebensgr�nde und zwingt die Menschen zu ihrer puren Selbsterhaltung. Dieser Zwang des ganzen Systems auf die voneinander getrennte Individualit�t der Menschen, die darin existieren m�ssen, ist nicht nur rein materiell. Sie ist allgegenw�rtige buergherrliche Gewalt des Ganz-Sein-Sollens �ber das Nicht-Teil-Sein-K�nnens. Die b�rgerlichen Rechte und Gewalten haben darin ihren h�heren Sinn. Sie gr�nden nicht auf einem gesellschaftlichen Wissen �ber menschliches Leben, welches Menschen miteinander entwickeln und verwirklichen, sondern auf der Notwendigkeit des Existieren-m�ssens, dem Gebot der Selbsterhaltung individualisierter Menschen.

Die Agenten des moralischen und sozialen Ganzen dieser Gesellschaft, die P�dagogen, Psychologen und Psychiater, regeln den Verkehr und stopfen die L�cher, wo etwas ausbrechen k�nnte. Sie sehen den einzelnen Menschen, der sich diesem System in irgendeiner Form verweigert, als beschr�nkt an. Indem sie die Beschr�nktheit der Individuen zu ihrem Gegenstand machen, vertuschen sie deren gesellschaftliche Schranken. Der Mangel des Ganzen stellt sich an den Menschen dar; aber es soll nicht das Ganze seiner M�ngel entbl��t werden. Deshalb sollen es eben die Menschen sein, die versagen. Um sie "existenzf�hig" zu machen, m�ssen sie funktional werden.

Es gibt von staatlicher Seite einen gigantischen Apparat f�r das soziale "�berbau"-Management, der eingreifen soll, wenn Menschen nicht funtionieren. Es wird sich aber wohl kaum ein Agent dieser Gewalt so bewu�t seinen Zielen widmen, wie es z.B. die Milit�rforscher tun, die Milit�rmediziner, die Milit�rpsychiater, die Milit�rpsychologen oder die Milit�rp�dagogen; nein – es soll ganz im Gegenteil hierzu um die Behandlung der Menschen gehen, um ihr Versagen, ihr Abweichen, ihr nicht sein k�nnen usw. Denn schlie�lich hilft es ihnen selbst, wenn sie das k�nnen, was sie k�nnen m�ssen – jedenfalls da, wo es au�er dieser Existenz nichts anderes gibt.

So treten die Funktionalisten und Technopragmatiker vor allem als Menschenfreunde auf, die viel von der Art und Weise des menschlichen Leidens verstehen – und sie verstehen sich auch wirklich so human, wie sie in ihrer T�tigkeit allgemein erscheinen. Ihre Mittel erfassen deshalb weniger die Bedingung und Notwendigkeit dieses wohlverstandenen Leidens; sie greifen in den vereinzelten Menschen selbst ein. Sie entwickeln Wissenschaften und Sozialberufe, die vor allem eines bringen m�ssen: die Anpassung der Menschen an eine Welt, die den Menschen selbst keinen Sinn macht, weil sie ohne Sinn f�r die Menschen ist. W�hrend sie in ihrer Vorstellung "nur" das beste f�r diese Menschen wollen, wollen sie durch ihr Tun, da� diese Welt so bleibt wie sie ist. Sie sind durch ihre T�tigkeit selbst stumpf (tumb) und k�nnen gar nicht begreifen, da� Menschen �berhaupt nur in ihrem urspr�nglichen und wirklichen Leben – auch wenn sie darin verr�ckt oder hilflos erscheinen – im Begriff sind, eine Kraft gegen diese Welt zu entwickeln.

Die menschlichen Gewaltt�ter, die Psychologen, P�dagogen, Eltern usw. suchen schlicht und einfach und im guten Glauben an sich nach Mitteln, wie sie andere dazu bringen k�nnen, wohlbefriedet zu existieren, weil sie f�r sich die Frage l�ngst ausgeschaltet (beantwortet) haben, warum man das nicht unbedingt will, sondern eben einfach mu�. Um etwas zu werden, mu� man erst mal das sein k�nnen, was man sein soll!

 

3. Erziehungsziel Selbststeuerung durch Strukturierung der Selbstgef�hle

Die b�rgerlichen Gewalten enthalten deshalb auch das Wissen um den Trick, wie Menschen in dieser Gesellschaft am besten und widerstandslos existieren k�nnen: durch Selbststeuerungsmechanismen. Wenn Menschen aus sich heraus tun, was sie tun m�ssen, um existieren zu k�nnen, dann k�nnen sie auch nicht empfinden, wof�r sie existieren m�ssen.

Seit es Psychologie und P�dagogik gibt, besch�ftigen sich diese Wissenschaften und Berufszweige mit der Selbststeuerung der Menschen: wie l��t sich der individualisierte Mensch so einrichten, da� er seine Vereinzelung und gesellschaftliche Ver�dung akzeptiert; wie kann man einen Menschen dazu bringen (beherrschen), sich in eine Welt zu f�gen, die ihm nicht menschliche Welt sein kann, aber als Welt voller weltloser Menschen ist.

Die Antwort ist eindeutig: Man mu� die Menschen selbst zur Welt machen, ihre weltlosen Verh�ltnisse zueinander als ihre voraussetzungslose Lebenswelt ausgeben. Man mu� ihr Verhalten an diese Verh�ltnisse anpassen, so da� sie ihnen als eigenes Verh�ltnis, als Produkt ihres Verhaltens, erscheinen k�nnen, worin sie sich so wahrnehmen und empfinden, wie sie auch selbst wahrgenommen werden. Und so, wie sie sich darin schlie�lich ohne eigenen Grund und Sinn erleben, so verhalten sie sich auch, so steuern sie ihr Verhalten, denn nur dieses bildet dann ihre Wahrnehmungswirklichkeit, ihr zwischenmenschliches Verh�ltnis.

Das gelingt aber nur in Verh�ltnissen, in denen Menschen ihre Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen, ihre Gef�hle und Bed�rfnisse auf sich und ihre N�chsten beschr�nken und zugleich durch sich und ihre N�chsten entwickeln k�nnen: in dem Verh�ltnis individualisierter Menschen, die ihre Individualit�t als Auszeichnung durch andere Menschen erleben. Nur Familien oder familien�hnliche Gruppen k�nnen einen Menschen wirklich zur Selbststeuerung bringen, zu Gef�hlen, die ihn nicht einfach nur �berkommen, sondern regeln. Sie k�nnen Liebe einsetzen oder verweigern, um ihn dahin zu bringen, wo er hin soll. Sie k�nnen die Zuwendung geben, die seine Verlassenheit �bert�lpt, weil er schon verlassen ist und deshalb Zuwendung sucht.

Erziehung ist die gezielte und meist sogar bewu�te Erzeugung von Selbstwahrnehmungen und damit Grundlage und Inhalt jeder Selbststeuerung als anerzogenes Selbstgef�hl, welches Selbstwert und Unwert des Kindes ohne erfahrbare fremde Gewalten bestimmt und eigenes Handeln vom Gef�hl her schon besser steuert, als es ein Staatsanwalt oder Polizist mit aufwendigsten Verhaltensvorschriften verm�chte.

In einer weltlosen Gruppe, die alleine von der wechselseitigen Wahrnehmung der Menschen, also insgesamt von ihrer Selbstwahrnehmung getragen wird, ist jedes Verhalten nur moralisch – nicht als fremde Moral einer fremden Macht, sondern als Moral, die im Selbstgef�hl der Menschen ist, und die ihnen als seelisches Selbstwertgef�hl, als Gef�hl der Zuneigung, Schuld oder �chtung, vertraut ist. Hier kann alles in Liebe geschehen, denn alle sollen ja nur und ausschlie�lich f�reinander da sein. Gewalt tritt darin in verkehrtem Sinn auf: als Selbstdarstellung der Kr�nkung durch das Verhalten anderer. Gewalt ist darin die Abwehr der Wirklichkeit des anderen, die Erniedrigung seines wirklichen Verhaltens, in der Form des Be-Leidigt seins, des Leidens durch die Liebesschuld, die ihm angetragen wird. Wer gegen diese Schuld verst��t, dem wird in einer solchen Gruppe die eigene Wirklichkeit zur Ohnmacht: Er steht au�erhalb der Achtung der Gemeinschaft und ist – solange er diese Liebesgemeinschaft nicht infrage stellen kann – auch f�r sich selbst ver�chtlich. Ein wirklicher Mensch, ein Mensch mit Wirkung st�rt hier das Verh�ltnis selbst, weil dieses keinen Grund au�er durch sich selbst hat, – weil es eben unwirklich ist, sein soll und sein will.

Menschen sollen sich nicht mit den Schranken und Zw�ngen ihrer Gemeinschaft und ihrer Lebensbedingungen befassen; – sie sollen diese aus Liebe auf sich nehmen. Sie sollen nicht Kraft aus der Ohnmacht ihrer Individualisierung entwickeln sondern Selbsterfahrungen hiergegen erwerben, Bewegungen zwischen Lust und Leiden, Schmerz und Freuden, schrankenloses Selbstvertrauen und Selbstgef�hl ad ultimo. Selbststeuerung ist das Ordnungssystem innerer Bewegung, mit denen Menschen ihre Welt um sich ausgleichen und "bew�ltigen"; – Gef�hle, mit denen man bei sich bleiben kann, mit denen man sich �berall wiederfindet, weil man �berall vor allem sich selbst empfindet.

Der B�rger (althochdeutsch: Buergherr), diese Burg der Selbstwahrnehmung, wei� dies sowieso als seinen Lebensinhalt, seinen Sinn f�r sich selbst. Was er zu f�rchten hat ist alleine die Bodenlosigkeit seiner Selbstwahrnehmungen und hiergegen ist er deshalb emsig bem�ht, Psyche zu entwickeln, die als Produkt der Selbsterfahrung, als Selbstgef�hl, das vorweist, was sonst aus gegenst�ndlicher Erfahrung und Auseinandersetzung entstehen m��te (Vertrauen in sich, Solidarit�t mit bestimmten anderen Menschen, Soziet�t usw.). Wer seine gegenst�ndliche Welt nur als Selbstgef�hl erlebt, kann nicht wissen, was er damit in Wirklichkeit ist, und im Selbstgef�hl zehrt er die wirkliche Auseinandersetzung anderer Menschen auf.

Die b�rgerliche Welt besteht vor allem aus diesen Eingegrenztheiten der abstrakten Eigensinnigkeit und des eigentumslosen Besitzes, aus Schutzw�llen vor der Wirklichkeit, der wirklichen Beziehung der Menschen aufeinander und zu ihrer Arbeit und ihren G�tern. Deshalb ist es der Sinn jeder b�rgerlichen Erziehung, dem Kind eine bestimmte Art der Selbstwahrnehmung zuzuweisen, die seine Beziehung auf sich und andere bestimmt und als diese Selbststeuerung sein Selbstgef�hl belebt, seine Sinne beseelt und sein Ego begr�ndet.

Erziehung �bermittelt Selbstgef�hl und vermittelt sich darin. Wo sich ein Kind b�se f�hlt, weil es sich so verh�lt, wie es die anderen nicht wollen, da kann es �ber die Gr�nde seines Verhaltens nichts mehr wissen; – es ist gut erzogen. Im Unterschied zum Lernen findet Erziehung deshalb auch nur zwischen Menschen selbst statt, immer in Abwesenheit gegenst�ndlicher Probleme; – am und im Menschen selbst, in seinen Empfindungen und Bed�rfnissen, seiner Zuneigung und Angst. Der Erzieher, welcher die inneren Bewegungen und Erregungen eines Kindes am besten kennt und in seinem Verhalten zu ihm umsetzen kann, ist der beste Erzieher.

Selbstgef�hl kann man nicht erzeugen, indem man es vorstellt und propagiert; – es mu� sich ereignen, "von selbst entstehen". Das ist schwer; da mu� viel �berschaut werden, die Mittel d�rfen nicht fehlen und der Fragen gibt's �berviele. Eine liegt unter allen anderen: "Wie bringe ich mein Kind dazu, da� es ....?". So wird jeder erziehende Erwachsene zum kleinen Psychologen, denn die Antwort kann nur psychologisch sein.

Sie liegt in der Beziehung der Empfindungen auf die Bed�rfnisse des Kindes: Die nat�rlichen Bed�rfnisse des Kindes m�ssen in der Weise und mit den Mitteln befriedigt werden, die die �lteren als Inhalt seiner Empfindung setzen. Das Resultat des Bedarfs mu� vorweggenommen werden, damit das Kind dessen bedarf, was es werden soll. Es soll nicht erfahren, wer oder was Gegenstand seines Bed�rfnisses ist, sondern soll das geboten bekommen, dessen es bed�rfen darf – und anderes eben nicht. Und da mu� nat�rlich allerhand geboten werden, denn nur im Angebot l��t sich die Entstehung der Selbstgewi�heit des Kindes schon im Ansatz vernichten.

Wenn ein Kind sich bewegen will, erfahren will, lernen will, dann entwickelt es seine Welt, die Gegenst�nde seines Seins und Werdens an allen vorgefundenen Dingen, Menschen, Tieren oder Pflanzen. In der Erziehung durch Angebote kommt es aber darauf an, diese Welt zu bestimmen, zu f�llen, die Kinder um die Welt der Erwachsenen zu scharen; es kommt drauf an, da� ihnen diese Welt in erwachsener Form geboten wird, da� sie das vorfinden, was der Erziehende als richtigen Inhalt ihres Bed�rfnisses ansieht. Wer sein Kind liebt, der gibt ihm, was ihm gut tut! – Und was ihm gut tut, das wei� dann eben eigentlich nur der Erzieher.

In der Art und Weise, wie er dem Kind die ihm n�tigen Sachen und Lebensmittel zuwendet, schlie�t er den Kreislauf zwischen Verlangen und Welt (Bed�rfnis und Gegenstand) und bestimmt somit die Inhalte des Selbstgef�hls auch stofflich. Wahrnehmung und Verlangen werden zu einer vom Erzieher bestimmten Befriedigung gebracht, weil hierin der von ihm gewollte Friede mit der Welt geschlossen werden mu�. Solche Befriedigung erzeugt wiederum bedingte Empfindung. Und weil dies durch nichts unterbrochen ist und l�ckenlos in das Verh�ltnis zum Erwachsenen eingeht, f�hlt sich das Kind in diesem Beziehungsraum auch zeitweise wohl, ja, geborgen. Das Ungeborgene erscheint ihm nicht nur als fremde, �u�ere Welt, sondern als Liebesbedrohung durch alle �u�ere Weltlichkeit. Die Erwachsenenwelt und die Welt der Kinder erscheinen in diesem Verh�ltnis als eine, und die Einigkeit vers�hnt und verschleiert den Gegensatz, der in Wirklichkeit zwischen dem Leben der Kinder und dem der Erwachsenen ist.

Zugleich ist das Kind hierdurch von seiner Welt und der Welt �berhaupt abgeschirmt. Die L�ge dieser Einheit kann nurmehr von au�en gest�rt werden, wenn n�mlich etwas so ist, wie es das Kind nicht oder nicht mehr aufnehmen kann. Und es wird um so mehr Erfahrungen geben, die es einfach nicht mehr aufnimmt, nicht aufnehmen kann, wenn diese Erziehung gelingt.

Der Eifer, der hier allerdings von den Erwachsenen aufgewendet werden mu�, ist enorm. Die Kinder m�ssen praktisch ununterbrochen von den Erwachsenen beobachtet werden, denn allseits lauert das Problem, was dem Kind gut, und was ihm schlecht tut. Das ist kompliziert genug: Der Raum mu� l�ckenlos sein, die Verh�ltnisse dar�ber �berschaubar; die richtigen Freunde m�ssen von den falschen getrennt werden, die rechte Antwort auf das rechte Gef�hl mu� zur rechten Zeit am rechten Platz fallen. – Und da� manche Kinder hier�ber immer wilder werden und sich f�r den Erwachsenen immer unverstehbarer verweigern, das wird der Erwachsene und die Existenzgaranten seiner Generation dann wohl nicht mehr so schnell begreifen k�nnen. Die Irrenh�user sind voll von dieser Geschichte.

 

4. Erziehung ist die Gewalt über das Lernen

Es gibt viele Entwicklungen, die ein Mensch im Laufe seiner Geschichte durchgeht. Ganz allgemein wird fast jeder essen lernen, sprechen lernen, "sauber" werden, mit anderen Menschen umgehen, schreiben, rechnen etc. Und auch ohne Erziehung gibt's dabei unter bestehenden Lebensbedingungen viele Schwierigkeiten. Aber Geschichte kann nur inhaltlich und so schwierig sein, wie sie ist.

F�r die Erziehung werden diese Geschichten zu einem ganz eigenst�ndigen Thema: Wie erreiche ich, da� ein Kind "sauber" wird, da� es sprechen lernt, aufr�umt, "rechtzeitig" schlafen geht usw. Das Verhalten steht dem Erzieher st�ndig als Frage an, als Gefahr f�r das gute Werden und Wachsen, als M�glichkeit der "Fehlleitung" oder das �berkommen schlechter Gewohnheiten oder gar der �berw�ltigung des Z�glings durch die Gier oder Sucht, die der Erzieher in sich doch gerade so erfolgreich niederh�lt. Er sieht das Kind innerhalb einer Vorstellung allgemeiner Entwicklung als Besonderung, als besondere Form allgemeiner Lebenswege. Und da kann er auch keinen wirklichen und bestimmten Grund im Kind, seinem Z�gling sehen, der dessen Verhalten ausschlie�lich und mit bestimmtem, in Situation und Bedingungen liegenden Sinn bew�ltigen (beweltigen) l��t.

Wie ein Psychologe des Wachstums vergleicht er und �bertr�gt er Verhalten und Bed�rfnisse und mu� sich deshalb permanent in die Erlebnisse der Kinder einmischen, mal positiv, mal negativ. Da� es sein Wissen um Gier oder Sucht, also letztlich nur Wissen seiner eigenen Triebe und Bewegungen ist, die er mit dem Kind vergleicht, geht im p�dagogischen Verhalten unter – und so hat das Kind schon Erwachsenenprobleme, ohne je erwachsen gewesen zu sein. Ist es mal gierig, wird es mit der Gefahr des Selbstverlustes konfrontiert, die Erwachsene als ihr Problem rumschleppen; ist es mal besonders brav, weil es sich etwas ganz bestimmtes dabei erhofft und in einem erzieherischen Verh�ltnis mit solchem Verhalten die einzige Gewinnchance hat, dann f�rchtet der Erzieher, sein Z�gling k�nnte sich ein Ergebenheits-Verhalten zulegen und fortan ergeben sein, wie es eben so viele ergebene Erwachsene gibt.

Das wirkliche Werden, die Entwicklung von Menschen an und durch ihre unmittelbare Wirklichkeit, braucht keine Vorgabe, kein Ziel und keine Vorstellung. Es entsteht immer und jederzeit in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und der Aneignung von Sachen, die nur in diesem aktiven Entdecken zur Selbstentdeckung werden. Alles Werden-wollen, kann nur im einzelnen Menschen selbst sein. Jede Entwicklung zeigt bei genauerem Hinsehen, da� sie haupts�chlich davon bedroht ist, da� und wenn sich hier andere Menschen ma�geblich (Ma�-setzend) einmischen.

Da� ein Kind von selbst sprechen lernt ist zwar hinl�nglich bekannt, da� es mit Begeisterung Laufen und Klettern ohne irgendeine Verhaltenlinie gelernt hat, hat man auch schon erlebt. Aber wie ist das z.B. mit dem Aufr�umen? Ist da nicht ein Trick f�llig? Ist das Nicht-Aufr�umen ein erzieherisches Problem oder dr�ckt es lediglich aus, da� das Kind sich hierbei zu bestimmten Sachen und Geboten so verh�lt, wie es im Verh�ltnis zum Erwachsenen und seinen Sachen l�ngst angelegt ist, da� es beispielsweise f�r die verr�umten Sachen keine Ordnung ben�tigt, weil es diese als Erziehungsmittel nicht mehr akzeptiert, weil ihm also die Ordnung nicht als Teil seines Spielens begreifbar ist oder weil ihm die Forderung der Erwachsenen als Gewalt eines ihn beherrschenden Wohnverh�ltnisses erkennbar sind?

Durch Erziehung wird da nichts gelernt sondern etwas g�nzlich anderes produziert: Ein Verhalten wird durch Mittel und Vermittlung bewirkt, ohne da� der zugeh�rige Stoff gegenw�rtig sein mu�. Das Falsche wird in der Selbstwahrnehmung ge�chtet und das Erw�nschte gef�rdert. Erziehung bezieht sich vor allem auf Verhalten und Gesinnung. Sie will nicht Wirklichkeit unter den Kindern, – sie will, da� deren Wirklichkeit, ihr aufeinander einwirken und ihre sachliche Wirklichkeit, Gegenstand von Verarbeitungsweisen, Mittel ihrer seelischen Beziehung wird. Sie will dem Kind ein reines seelisches Wesen zusprechen, welches der Welt dadurch m�chtig wird, da� es ihrer nicht mehr bedarf. Insofern erzeugt Erziehung in der Tat eine enorme Lebensf�higkeit, eine ungeheuerliche Lebensf�higkeit! Denn schlie�lich kann es f�r ein Individuum unter den herrschenden Gewalten nichts besseres geben, als ein Selbstbewu�tsein, das sich wie ein allgegenw�rtiges Selbstgef�hl �ber alles Seiende stellt, was man nicht mehr wissen mu� – Nichtbewu�tsein.

Die sogenannte Erziehungsdiskussion ist deshalb vor allem die Diskussion um innere Ber�hrtheit, um die Pflege der Selbstwahrnehmung, um die Aufbereitung von "Erlebnis-F�higkeit", die von ihrer erzieherischen Seite her gerade das produziert, was sie zu vermeiden vorgibt: Wo Leben und Erleben als F�higkeit gelten, da kann es sich nicht bilden. Leben ist unmittelbar, also unvermittelbar. Was das anerzogene Leben ausmacht, ist vergangenes Leben, Produkt und Ursprung vergangener Wirklichkeiten, Fehler und Unzul�nglichkeiten, Mangelhaftigkeit der Geschichte der erziehenden Generation.

Diese Mangelhaftigkeit hat den heute Erwachsenen wohl auch zum Erzieher werden lassen: Er will es an anderen besser machen, an anderen seine Ideen vom Leben verwirklichen, ohne sich wirklich mit anderen als andere, als Menschen mit anderer, eigener Geschichte �berhaupt befassen zu k�nnen. Er will durch andere zu sich selbst, zur Idee seiner eigentlichen Vollkommenheit, gelangen und mu� deshalb in seiner Vorstellung von seinem Leben Macht �ber sie haben. Deshalb mu� er seine Argusaugen vor allem auf das richten, was so vielf�ltig und unentschieden ist, was alle Entwicklung in sich hat, was in der Vielf�ltigkeit sich �berhaupt nur wirklich auseinandersetzen k�nnte und �ber dies setzt er seine erzieherische Einfalt, sein Bed�rfnis, auszurichten, wo ihm die Vielfalt als Gefahr vieler falscher Wege erscheint, als Chaos, als "Unausgerichtetheit". Sein wichtigster Antrieb ist die Erziehung richtiger Bed�rfnisse, die vor allem das schon im vorhinein ausschlie�t, was er im nachhinein und nur aus der Position des Gewordenen als falsch ansieht.

Hierzu f�nf Beispiele:

1. Beispiel: Ern�hrung

Die erwachsene Welt und ihre Politiker haben in ihrer bisherigen Geschichte ein ungeheures Ernährungsproblem entwickelt: sie sind dabei, ihre natürlichen Lebensstoffe zu vergiften, ihre Seen, Flüsse etc. zu verseuchen Länder, Pflanzen, Tiere und Menschen zu verstrahlen; sie deformieren ihre Nahrungsmittel durch Kunststoffe und Gifte; sie kommen ohne viele Sucht- und Betäubungsmittel (von der Zigarette, dem Wein bis hin zu permanent genommenen Psychopharmaka) fast nicht mehr zurecht Von daher ist es sicher richtig, Kinder über bestimmte Stoffe – weil und sofern sie nicht zu schmecken sind – zu informieren. Und wenn sich Erwachsene über ihre Ernährung Gedanken machen, so ist das sicher auch für die Kinder gut.

Erzieherisch gewendet sieht das alles aber völlig anders aus: Kinder sollen es anders machen, sollen zur gesunden Ernährung erzogen werden, sie sollen das, wonach sie ein Verlangen verspüren, dem Gesundheitsurteil von Erwachsenen unterwerfen und möglichst nur das essen, was genügend Vitamine, Ballaststoffe und weniger von den von Erwachsenen als gefährlich angesehenen Stoffe enthält. Auf dieser Ebene, das heißt in der Form eines Gebots der Erzieher, kann es denn auch keine Geschmacksbildung aus verfügbaren Lebensmittel, sondern nur ein Hin und Her an "Belegen" geben, die entweder die Oma oder die Wissenschaften anbieten, d.h. das "gesund befinden" einer Nahrung steht von Vornherein auf einer Rationalebene von Urteilen, die von der praktischen Ernährung völlig getrennt ist. Von da her ist auch jedes Bedürfnis von vorn herein schon denunziert, wenn es im Widerspruch zur aktuellen Ernährungstheorie steht. Geschmack kann sich nicht aus dem Verlangen bilden, sondern wird "gepflegt". Hätte der Mensch erst wissen müssen, was das ist, was er zu sich nimmt, so hätte es ihn sicher nicht gegeben. Aber ,,hier wird es plötzlich zur Regel, daß menschliches Bedürfnis keinen Sinn für den Stoff haben soll, nach dem es verlangt. Wenn Kinder nach Süßigkeiten verlangen, dann sieht der Erzieher darin weniger ein Verlangen, das Kindern aus vielen Gründen – vielleicht auch aus natürlichen – zu eigen ist, sondern er erkennt darin vor allem die Gefahr von Zucker, von Sucht usw. Groteskerweise fällt er dann auch ständig mitten im Streit der Wissen-Schaffer durch, die Zucker mal als notwendig für Wachstum, mal als schädlich für die Zähne herausstellen; und die selbst gebastelten Zucker-Auswege (z.B. über Honig oder Ahornsirup) erweisen sich früher oder später wiederum als ulkiger Selbstbetrug; Zucker bleibt Zucker.

Die Entwicklung und Bildung des Geschmacks kann sich unter dem Interesse der Erziehung nicht an den Empfindungen und Erfahrungen mit den Stoffen des Lebens und in der Auseinandersetzung mit der K�che, ihren Produkten und ihren Argumenten orientieren, sondern wird zu einer Frage der "richtigen" Ern�hrung, die der Erwachsenen setzt. Durch das platte Ausschlie�en der vielf�ltigen "falschen" Ern�hrung ist es allerdings wahrscheinlicher, da� ein Kind hiernach s�chtig wird, als da� es schon in seinem Geschmacksinn erkennen wird, was gut f�r es ist.

2. Beispiel: Friedensp�dagogik

Die Welt der Erwachsenen besteht aus Krieg, Konkurrenz und Selbstschutz. Zerstörung und Selbstzerstörung macht ihnen Angst weil sie das kennen. Alle naselang scheitern sie an gewalttätiger Abgrenzung oder auch an ihrer eigenen Gewalt. Ihr Mißtrauen gegen sich selbst ist selten unberechtigt. Sie hätten hier viel zu tun; Krieg in den eigenen Verhältnissen begreifen, die eigene Gewalt als Resultat einer bestimmten Geschichte unter Angst, Verlust und Enteignung zu erkennen, die Gesetzmäßigkeiten und politischen Zwecke der Kriege auffassen und Widerstand am so erkannten Ort des Geschehens entwickeln ... – die Kinder könnten es wohl auch irgendwie verstehen, was ihre Eltern da so alles auf dem Buckel haben; von Verlust und Enteignung jedenfalls begreifen sie eine Menge.

Was so Sache der Eltern und ihre Geschichte w�re, wird per Erziehung zum Frieden zur Gewalt gegen Kinder: Sie sollen entwaffnet sein – und zwar gerade dort am meisten, wo die Eltern und Erzieher Ihre Gewalt gegen sie am wenigsten begreifen ("Die Pistole werde ich meinem Kind schon austreiben"). Um das erzieherische Unternehmen, Kinder zur Waffenlosigkeit zu bringen, auch optisch gut abzusichern, werden absonderliche Beziehungen zur Begr�ndung hergestellt: Knallspielzeuge in der Form von Wildwest-Colts werden gleichgesetzt mit Kriegsspielzeug, welches die gro�en Kriege imitiert, das Situationen-bestimmen-wollen von Kindern wird gleichgesetzt mit einer wirklichen T�tungsabsicht und die Lust am Knallen und Erschrecken wird verglichen mit der Lust am Zerst�ren und T�ten.

"Positiv gewendet" hei�t dann die friedensp�dagogische Frage: wie bringe ich die Kinder zu einem unbewaffneten konfliktl�senden Verhalten? Selbststeuerungsprinzip "konfliktl�sendes Verhalten" erw�nscht! Es klingt jedenfalls gut – aber kann man die L�sbarkeit bzw. Unl�sbarkeit von Konflikten zu einem "Verhaltensmerkmal" machen oder geht es da nicht schon immer um den Inhalt des Streits selbst? Ist ein guter Arbeitnehmer erw�nscht, der die Reibereien und Klassengegens�tze in seinem Betrieb "pers�nlich ausgleichen" kann? Oder der brave kleine Mann in Nicaragua? Klar gibt es Macht und Gewalt auch bei Kindern – dies aber gr�ndet eher auf den erzieherischen Bem�hungen selbst als da� sie hierdurch zu �ndern w�ren. Oohne den Inhalt hiervon zu erkennen und darauf einzugehen, wird sich jedenfalls nichts anderes ergeben – es sei denn: offene und verdeckte Unterdr�ckung, d.h. Ausschaltung von Widerstand und Beherrschung der Sache.

3. Beispiel: Erziehung zur Konfliktf�higkeit, Solidarit�t, sozialem Verhalten

Es ist grausam, in einem p�dagogisch einwandfreien Kindergarten zuzuschauen, wie dort Erwachsene mit Streitereien und anderen Auseinandersetzungen der Kinder umgehen: sofortige Zuweisungen von (Erwachsenen-)Recht und Unrecht, Besitzzuteilungen, und ethisch-moralische Urteile hindern die Kinder systematisch, ihre ureigensten Konflikte �berhaupt als die ihren zu erkennen, �berhaupt einen anderen Menschen als wirklich anderen, also mit anderen Interessen, anderem Verm�gen usw. zu erkennen und im Gegensatz die Gleichheit, das gemeinsame Eigene, Eigenschaftliche, Eigent�mliche und Eigentum zu erfassen (Solidarit�t). Die B�rgerwerte der gew�hnlichen P�dagogik NICHT mitzumachen ist die Bedingung jedweder Beziehung zu Kindern.

Es gibt es keine "Erziehung zur Konfliktf�higkeit" oder zur Solidarit�t, ohne da� Kinder ihre eigenen Konflikte (wenn auch zun�chst ungeschickt) austragen und zunehmend in der Erkenntnis gleicher Berechtigung l�sen lernen! Erziehung zur Konfliktf�higkeit hie�e, da� Erwachsene Kinder davon �berzeugen k�nnten, da� solche Tugenden per se als F�higkeiten sich herausstellen lie�en! Erwachsene in der permanenten Bem�hung des Einsichtigmachens, Verst�ndnisproduzierens, Gegens�tze-Erl�uterns usw. erzeugen keine Konfliktf�higkeit, sie produzieren den Glauben an das h�here Recht der erzwungenen Einsichtigkeit des erwachsenen Verstands, dem ein Kind sich beugen mu�.

Konflikte k�nnen nicht von anderen Menschen ohne ein Urteil �ber das Verh�ltnis beantwortet werden – z B. in der Einsch�tzung eines Ego-Verhaltens, der Bewertung von Besitz oder der Beschr�nkung der Einsicht in die Inhalte des Konflikts. Deshalb sollten die Erwachsenen auch einfach als eben diese anderen Menschen sagen, wie sie etwas sehen, beurteilen oder einsch�tzen – aber deutlich im Bewu�tsein, ein wirklich dritter Mensch zu sein. Erziehung verstellt hier dem Kind auch die Beurteilung der Sicht des Erwachsenen und dessen wirkliche Beschr�nktheit im Urteilsverm�gen auf das rechtlich Allgemeine. Es macht aus dem Erwachsenen jemanden, der wei�, wie der Streit zu fassen ist, weil er wei�, wie man Konflikte – sozial versteht sich – l�st.

Konflikte m�ssen immer gel�st werden und das mu� dabei belassen sein; – ein "ungut" beantworteter Streit schafft Trauer oder Unbehagen und hat von daher alle Notwendigkeiten in sich. Ebenso ist Solidarit�t ureigenstes Erkennen eines Verh�ltnisses und seiner Bedingungen, und sie entsteht nur dort wo Menschen an den Kern ihres Verh�ltnisses kommen. Alleine in den Lebensstrukturen – insbesondere der Familie – liegt es, wenn dies nicht entstehen kann, weil darin Verh�ltnisse gesetzt sind, die gar nicht mehr frei auseinander gesetzt werden k�nnen. Erziehung l�uft immer drauf raus, dieses Problem mit subjektiver Gewalt aufzul�sen.

4. Beispiel: Gemeinschaftliche Weltverarbeitung

Die Erwachsenen haben zwar f�r sich eine andere Welt als die Kinder, gemeinsam aber stehen sie vor der gleichen Welt. Auf den Kindern lastet der Existenzdruck der Eltern – zwar nicht in der selben Art, aber in derselben Substanz. Sie wollen von ihren Eltern wissen, was sie tun k�nnen, was zu tun ist, was zu erwidern ist – was sie sind. Eltern, die sich nicht mit ihren Kindern zu dieser Welt verhalten, die ihr Tun, ihre Angst und auch ihre Kraft hiergegen nicht zeigen und sich darin nicht mit ihnen verhalten, haben meist die Scheu des P�dagogen vor dem allgegenw�rtigen seelischen Schaden, den Wirklichkeit zuf�gt.

Den f�gt sie allerdings immer zu – auch dort, wo er es nicht f�r m�glich h�lt: in dem guten, allseits umsichtigen Aufgehobensein, Geborgensein unter seinem selbstlosen Schutzmantel. F�r ihn kann im Grunde die Welt sein wie sie will, wenn man nur dem p�dagogischen Proze� des Verarbeitens und Umgehen-k�nnens vertraut. Wo Erwachsene ihre Welt nur noch als Verarbeitungsgegenstand, als Aufgabe zur Verarbeitung vorstellen, da sind sie nicht nur gegen die Kinder, sondern gegen das Leben �berhaupt nurmehr zynisch.

Mir ist ein solcher Zynismus am heftigsten nach der Tschernobyl-Katastrophe begegnet. Da ging es im Kinderhaus darum, angesichts einer Strahlenbelastung von 400 000 Bequerel pro qm Luft, die von einem Kind allein in ca. eineinhalb Stunden geatmet wird, die Kinder aus M�nchen herauszubringen und dorthin zu verfrachten, wo es nach der damaligen M�glichkeit der Einsch�tzung der Lage (die sich im Nachhinein auch best�tigt hatte) weitaus besser mit der Belastung war. Zur Atomkatastrophe kam f�r mich die Katastrophe der Kernspaltung in Form psycho-p�dagogischer Argumente hinzu: Das Wegbringen der Kinder sei eine Flucht vor der Wirklichkeit und es sei wichtiger, mit ihnen gemeinsam "hier in M�nchen dieses Ungl�ck zu verarbeiten".

Ich war zu dieser Zeit gl�cklich, mit anderen Eltern unter schwierigsten Bedingungen diese Flucht zu schaffen und es war die st�rkste Leistung des Kinderhauses, durch die Mithilfe einiger Betreuer und Praktikanten es zu schaffen, da� die Kinder f�r sechs Wochen dem schlimmsten Strahlenterror entgehen konnten. Inzwischen ist es schon grotesk: Bei der Milch, die zu maximal zwei Liter pro Tag getrunken wird, kann es heftigen Streit mit den Erziehern geben, wenn die mit zw�lf statt mit acht Bequerel belastet ist. – Inzwischen wei� man eben, wie man damit umzugehen hat!

5. Beispiel: Zwang, Verbot und Entzug

Es gibt in unserer Welt viele Momente, wo wir durch das "Zusammenleben" mit Kindern Zw�nge oder Verbote durchsetzen m�ssen (z.B. morgendliches Anziehen unter Zeitdruck, Verbot bestimmter Fernsehsendungen) oder bestimmten Bed�rfnissen in einem bestimmten Ausma� nicht folgen wollen (z.B. nach S��igkeiten). Das hat eigentlich nichts mit Erziehung zu tun, sondern ist eher die Frage, wie ein gegebener Druck auf Erwachsene an Kinder weitergegeben wird oder wann wir die Kinder von bestimmten Wirkungen des Erwachsenengem�ts fernhalten wollen oder warum wir eine Gier nicht befriedigen wollen. Als erzieherische Frage wird das Verh�ltnis umgekehrt: Es soll eine bestimmte Weise geschaffen werden, durch welche das "Problemverhalten kindgerecht bew�ltigt wird", durch welche also Kinder dazu gebracht werden, das zu tun, was Erwachsene – egal, ob sie m�ssen oder wollen – von ihnen verlangen. P�dagogisches Arsenal: Verniedlichung des Drucks, unter dem Eltern stehen, durch Rollenspiel: spielerisches also unbewu�tes Erreichen des gew�nschten Verhaltens durch "Sekund�rmotivation" (z.B. Bonbons oder Flei�zettel) oder Ablenkung von einer solchen Situation durch schmackhafte Verhaltensalternativen, durch welche dasselbe Ziel erreicht wird, ohne da� dabei das Verbot (z.B. Fernsehsendung anschauen) ausgedr�ckt wird. Die erzieherischen Sinnentstellungen vermitteln Sinnlosigkeit und Selbstverlust und verhindern die Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt dadurch, da� der Erwachsene seinen Druck, seine Verweigerung oder sein Verbot nicht erkl�ren oder verdeutlichen mu� – er bleibt der zweifelhafte Freund des Kindes, die L�ge der Generationenfreundschaft im Sinn.

Durch Erziehung wird im wesentlichen der Streit der Generationen gewaltt�tig und zugunsten der Erwachsenen ausges�hnt. In einer Gesellschaft des Privateigentums sind Eltern immer im Besitz der Lebensbedingungen ihrer Kinder und hierin – je nach eigener Klassenlage – selbst auch m�chtig oder ohnm�chtig. Was sie aufgrund ihrer Existenz geworden sind und sind, ist unter dieser Voraussetzung immer im Gegensatz zu den Kindern. Auch wenn viele Eltern diesen Gegensatz begreifen, k�nnen sie ihn dadurch nicht l�sen. Kinder werden sich immer unter den gegebenen Bedingungen an den Vorgaben ihrer Eltern abarbeiten m�ssen. Ihr Leben kann �berhaupt nur auf dem gr�nden, woher sie kommen und sie m�ssen deshalb auch – f�r sich und f�r andere – die Fragen beantworten, die ihre Eltern nicht aufl�sen wollen: Wer ihre Eltern sind, und was die leben bzw. gelebt haben.

Erziehung stellt dieses Verh�ltnis auf den Kopf: Wo die Erwachsenen mit den Kindern ihre ungel�ste Geschichte, ihre Zweifel und Fragen zu erkennen und zu leben h�tten, werden die Kinder zu einer Antwort auf das Leben der Erwachsenen gezwungen. Erzieher wollen, da� die Kinder das werden, was sie selber sein wollen, was sie also nicht sind. Erziehung scheut die Wirklichkeit als Ort der Auseinandersetzung, weil sie die Lebensvorstellungen des Erziehers zur Farce werden l��t. Die Erziehung behauptet ein Leben, das nur als eine Idee vom Leben besteht; und diese wird von einer Generation einer anderen zur Verwirklichung vorgeschrieben, die sich selbst Rechenschaft �ber die Unwirklichkeit und Unverwirklichbarkeit ihrer Ideen zu geben h�tte. Erziehung bezieht sich auf den Z�gling als Liebe zur Idee des Lebens und hat deshalb in ihm ihr einzig lebendes Fleisch und Blut. Das Kind gilt hierin als Erwachsen-sein-sollender Mensch, also als noch nicht vollkommener Erwachsener und wird nicht nur in seinem Kindsein betrogen, sondern mit der Erziehungsidee selbst belogen: im Leben der Erwachsenen k�nnte sie keiner �berpr�fung standhalten – sie lie�e sich dort n�mlich leicht als idealisiertes Zerrbild eines puren Existenzzwanges, als verkl�rte Selbstentfremdung erwachsener Menschen erkennen.

Ob der Z�gling hierdurch und hiergegen trotzdem zu seinem Leben finden kann, das kann nur davon abh�ngen, ob er trotz dieser Erziehung zur Auseinandersetzung seiner Generation mit dieser Welt und ihrer Gewalten findet. In diesem Fall haben ihm seine Eltern gar nichts, wirklich gar nichts anderes mitgeteilt, als was sie sich von seinem Leben vorstellen; – und das ist eben im Grunde nichts anderes, als das, was sie sich von ihrem Kind vorstellen: da� es f�r sie leben soll.

Deshalb ist die Erziehung eben am wenigsten das, was sie als Sorge um das Wohl des Kindes zu sein vorgibt. Sie ist wesentlich mehr: sublime Lust der Erwachsenen im Verh�ltnis zu sich selbst, das leer und unausgef�llt ohne das Kind, dem Zentrum und Mittel all ihrer Selbstbezogenheit ist. Wenn die n�tigen Existenzmittel, Besitz und Position, gegeben sind, ist dieses Verh�ltnis materiell stabil und f�r die Erwachsenen richtig. Und weil es f�r die Eltern sch�n ist, kann es auch f�r Kinder sch�n sein: der Schein des gemeinsamen Bem�hens um das sch�ne Leben, um das eigene Haus, um den guten Menschen und dergleichen. Allerdings: die so geteilte Sch�nheit hat ihren platten Boden allein in materiellem Wohlstand, also in dem, was Eltern materiell an Grundlagen f�r ein Leben, wie es sein soll, vorstrecken k�nnen. Sie wird sehr abrupt zerbrechen, wenn ein solcher Haushalt verlassen wird oder werden mu�. Aber immerhin ist das in jedem Fall eine Grundlage f�r die seelische Selbstverwirklichung in dem Gem�uer versklavter Herzen, f�r die die Welt nichts anderes sein kann, als Mittel ihrer Beziehung auf sich selbst. Der Zweifel �ber dieses Selbst, der hier genauso gedeiht wie die Beziehung auf andere, mu� allemal gerade dann, wo er heftig wird, niedergemacht werden – er w�re sonst unmittelbare Lebensangst. Der Selbstzweifel ist somit gerade dort angelegt, wo er nicht auftreten darf; er kann in dem Heim, dem er entspringt, nur vernichtend, unheimlich sein. Die heimliche Wirklichkeit hierin ist die Unheimlichkeit, gegen die vor allem die Eltern nichts zu setzen haben, denn das eigentliche Leben der Eltern hat in diesem Verh�ltnis l�ngst aufgeh�rt.

Deshalb geht es ihnen auch vorwiegend um Werte, um Moral, �sthetik, Benehmen usw., denn darin ist das geronnen, was sie vom Leben erwarten und nicht leben k�nnen, – ihre Kultur, die sie als Ma�stab nehmen. Sie haben vielleicht auch nichts, wovon die Kinder lernen k�nnen; – aber als Erzieher kennen sie auch nicht die Bescheidenheit des Besitzlosen. Im Gegenteil: was man nicht ist oder hat, das kann man ja als Wert wenigstens vermitteln!

 

5. Das Kinderhaus

Durch die Einrichtung eines Kinderhauses sollte m�glich gemacht werden, da� Kinder und Eltern zumindest f�r einen Teil ihres Alltags ihre verschiedenen Wirklichkeiten und Welten haben sollen, in denen sie ihren eigenen Geschichten nachgehen und diese m�glichst frei aufeinander beziehen k�nnen. Nur aus der selbst entwickelten Welt heraus k�nnen Menschen ihre Kraft zur Auseinandersetzung mit Eigenem und Fremden bekommen und �berhaupt diesen Unterschied zwischen sich und anderem erkennen. Wo famili�re oder pers�nliche Beziehungen sich in den Kindern oder Erwachsenen vermengen, sollen sie hierdurch auch entwirrbar und von der Gewalt des Erfahrenen befreit werden.

Voraussetzung hierf�r ist, da� die Kinder und Erwachsene im Kinderhaus Geschichten miteinander haben, eigene Welt bilden k�nnen und da� Erwachsene sich mit Kindern auseinandersetzen, die hierbei ihre eigene Geschichte, ihr Erwachsensein und Elternsein verarbeiten.

Die Welt der Kinder soll weitgehend frei von Erwachsenen – oder Institutionsstrukturen sein. Kinder sollen nicht durch f�r sie selbst unsinnige Formalisierungen und Trennungen (wie etwa die nach Alter oder Geschlecht) bestimmt sein und ihre Erfahrungen aus ihren eigenen Verh�ltnissen und Sachen machen.

Deshalb gibt es im Kinderhaus keine streng getrennten Gruppen, die aus organisatorischen oder verwalterischen Gr�nden unterschieden sind. Nach dem gruppen�bergreifenden Konzept soll jedem Kind das Leben mit allen Kindern erm�glicht sein. Nur aus dem, was den Kindern als Unterschied in ihrem Tagesablauf selbst eigent�mlich ist, bestimmen sich die verschiedenen Gruppen (z.B. Krippe, Kleinkinder, Kindergarten, Hort), die aber insgesamt durchl�ssig f�r jeden Kontakt sind.

Die Sachen der Kinder sollen ihrer Erfahrungswelt entsprechen und aus keinem p�dagogisch/didaktischem Interesse heraus zur Verf�gung gestellt werden (etwa Vorschulmaterialien usw.). Die Kinder sollen �ber ihre Sachen auch selbst bestimmen und z.B. bei ihrer Beschaffung mitwirken.

Es sollen keine Spiele oder Gruppenereignisse von Erwachsenen gesetzt werden. Die Spiele oder Veranstaltungen sollen mit den Kindern so entwickelt werden, da� sie ihre Gestaltung selbst bestimmen k�nnen. Angebote, mit denen Erwachsene Kinder um sich scharen und dabei selbst Zentrum des Geschehens bleiben, k�nnen nicht unser Ziel sein. Die Erwachsenen sollen sich hierbei �ber ihre unterschiedliche Erfahrungswelt bewu�t sein und ihren Wissensvorsprung nicht als Mittel zur Bestimmung der Situation oder zur Ablenkung einsetzen, sondern eben allein als ihren Beitrag oder Vorschlag verstehen.

Wer im Kinderhaus lebt oder arbeitet soll wesentlich autonom �ber sich und sein Tun bestimmen, sich in allem, was mit anderen zu tun hat, besprechen und nur �ber das verf�gen, was er selbst oder mit anderen erzeugt. Dies soll die wirkliche Basis aller Beziehungen und Auseinandersetzungen sein.

Autonomie hat ihren Grund allerdings auch nur in der Gemeinschaft eines Sinnes, der den Zusammenhang ausmacht. Hierin stehen alle Leute im Kinderhaus vor der Welt und den Bedingungen, zu denen sie sich gemeinsam verhalten. So ist ihre Auseinandersetzung untereinander immer eine Sinnfrage, die sich dort stellt, wo sie n�tig ist und deshalb auch auf alle wieder zur�ckkommt; – auch und gerade wenn sie gegens�tzlicher Auffassung sind.

Es sollen keine Verh�ltnisse nach allgemeinen Strukturen bestimmt sein, die im Kinderhaus kein Leben haben und sich nicht aus der Existenz des Kinderhauses begr�nden. Obwohl z.B. die Betreuer hier Geld verdienen, gibt es kein Arbeitgeber-/Arbeitnehmer- Verh�ltnis, also kein Bestimmungsverh�ltnis, das einer Welt entspringt, in welcher Geld nicht als notwendige Sache des Austauschs von G�tern und Arbeiten, sondern als Gewalt des Geldbesitzers existiert. Es sollen sich f�r Eltern und f�r das Team keine Bestimmungen �ber ihr Verh�ltnis hieraus ergeben; das Team steht hier einfach in einer anderen Situation wie die Eltern (die ihr Geld wo anders her kriegen) und hat in diesem Unterschied auch seine Selbstbestimmung, sein Anderssein und seine eigene Auseinandersetzung.

Die Autonomie der hier Arbeitenden kann auch nicht von den W�nschen einzelner Eltern durchbrochen werden, die ihre Vorstellungen �ber ihr Kind per Verlangen oder Gebot durchsetzen wollen. Die Auseinandersetzung �ber verschiedene Vorstellungen sollen �ffentlich und in den verschiedenen hierf�r vorgesehenen Gruppen (Elternabende, Mitgliederversammlungen, Aussch�sse) gef�hrt werden, weil sich nur so der Einzelnen wirklich auf das Gemeinsame beziehen kann und auch nur so durch seine Vorstellung zur Entwicklung des Kinderhauses beitr�gt.

Die Bed�rfnisse privater Lebensr�ume sollen im Konflikt mit der Autonomie des Kinderhauses ausgetragen werden, ohne Herrschaft �ber dieses zu bekommen. Die Verf�gungsgewalt der Eltern �ber das Wohl ihrer Kinder soll in eine gemeinsame Diskussion der Eltern �ber ihre Existenz und ihre Rolle m�nden k�nnen und die Erwachsenen zum Gegenstand ihrer eigenen Gewalt werden lassen. Kinder m�ssen vor dieser Gewalt nicht mehr gesch�tzt werden, wenn die Erwachsenen �ber sich erfahren k�nnen, was sie von anderen fordern; wenn sie also damit anfangen, durch sich selbst erwachsen zu werden ("Erziehung ist die Erziehung der Erzieher!" – K. Marx).

Die Leute im Kinderhaus m�ssen ihre eigenen Vorstellungen oder Erkenntnisse nicht nur st�ndig mitteilen und sich mit anderen Vorstellungen auseinandersetzen; – sie m�ssen sich auch davor sch�tzen, da� sich ohne �ffentlichkeit oder anderswie erkennbaren Ausdruck Verhaltensweisen oder Verh�ltnisse breitmachen, die das Kinderhaus insgesamt verunm�glichen. Aus diesem Grund gibt es auch Forderungen des Kinderhauses als eine gemeinsame Grundlage mit eigener Existenz an jeden, der damit leben will. Das Kinderhaus existiert als dieses Ganze von Auseinandersetzungen und Lebensm�glichkeiten nur solange, wie alle dabei sind und mitmachen und wie ihre Anwesenheit, ihre Kenntnis und ihr Geschick in dieses kleine Gemeinwesen eingehen. Es ist deshalb f�r das Kinderhaus existentiell notwendig, eine Nutznie�ung durch Privatinteressen (reine Nutzung von Raum und Arbeit anderer), wie man es gegen�ber Institutionen gewohnt ist, auszuschlie�en und einige Forderungen an den Einzelnen zu formulieren.

Die Anwesenheit der Kinder mu� weitgehend gew�hrt sein, der notwendige Tagesablauf mu� erm�glicht werden und das Haus mu� in Ordnung gehalten werden. Die st�ndige Auseinandersetzung �ber das Kinderhaus und �ber das, was dort geschieht mu� m�glich sein und Streit hier�ber mu� ausgetragen werden k�nnen.

Deshalb mu� jeder, der im Kinderhaus ist, sich an den hierbei anfallenden Arbeiten und Auseinandersetzungen in seinem Anteil beteiligen. Und falls dies nicht geschieht, soll das Kinderhaus auch Rechenschaft von ihm verlangen k�nnen.

Gerade weil es keine Kinderaufbewahrungsstelle ist, mu� sich jeder, der hier mitmacht auch in seinem Verhalten oder seinen Entscheidungen solange auf die anderen beziehen, wie er dabei ist Weil hier mit Menschen nicht umgegangen werden soll wie mit Sachen, die mal da, mal dort hingestellt werden, m�ssen alle wesentlichen Entscheidungen, die Erwachsene oder Kinder betreffen, besprochen sein; – insofern gibt es im Kinderhaus keine Privatentscheidungen.

Im Kinderhaus soll es keine Rollen und keine Experten geben. Das Kinderhaus wird von den Eltern und dem Team getragen. Der Alltag des Kinderhauses soll nur von den wirklich Beteiligten gestaltet werden, denn nur unter ihnen kann die Auseinandersetzung �ber den Sinn und Inhalt dieser Arbeit geschehen.

Deshalb machen Eltern auch die verschiedenen Dienste (Fahr- Koch- und Elterndienst und machen auch die Reparaturen im Haus weitgehend selbst). Au�erdem ist nur hierdurch die wirkliche Teilnahme am Kinderhaus m�glich. Profis machen ihre Arbeit ohne Beteiligung und h�ngen ganz von ihrer fachkundlichen Ausbildung ab. Dort k�nnen sie aber nichts �ndern oder anders sehen. Sie k�nnen gar kein Interesse an der Geschichte im Kinderhaus haben, weil sie sonst am Untergang ihrer Fachkundlichkeit interessiert w�ren; – und dann sind sie schon keine Experten mehr.

F�r uns ist wichtig, da� keine Fachkunde sondern das Leben der Beteiligten den Tag bestimmt. Beruf und Ausbildung hat deshalb f�r das Kinderhaus keine Bedeutung; – das kann nur ein Zugest�ndnis an die formale Legitimierung gegen�ber �ffentlichen Stellen n�tig sein. Aber im Grunde verlangt das Kinderhaus die �berwindung des Experten durch sich selbst und seine Erfahrungen, die er hier machen kann. Wo sich Expertentum hinterfragen l��t, wird sich auch offen legen lassen, da� hinter der Fachkunde meist gerade die Verweigerung des wirklichen Bezugs steckt, – das gilt f�r's Kochen genauso wie f�r's "Erziehen". Erziehung ist eben nicht nur ein Fach, sondern vor allem ein dem Erwachsenen naheliegendes Verhalten, wodurch er meist bewu�tlos seine eigenen Vorstellungen, Zw�nge und �ngste ausdr�ckt.

In gleicher Weise ist beim Kochen nicht nur das Produkt entscheidend, sondern auch die Anwesenheit, das Dabeisein und das Mitmachen an der Auseinandersetzung mit der Nahrung f�r die Kinder. Das Fachwissen w�rde sich notwendig vom Bed�rfnis trennen und sich hinter purer Kalkulation mit Gesundheit und Kalorien verstecken (da w�rde noch mehr als nur die vielen braunen Nudeln in den M�ll wandern).

Das Kinderhaus mu� sich in seinem Gegensatz zum Elternhaus bewu�t sein und dieses Bewu�tsein fortw�hrend in seiner Geschichte und seinen Auseinandersetzungen auch mit der erziehenden Welt �berhaupt erneuern und beweisen. Elternhaus und Kinderhaus k�nnen zu einem fatalen Komplott in Sachen Erziehung werden, wenn sich das Kinderhaus als Erg�nzung des Elternhauses versteht: in dem Ma�e, wie das Kinderhaus die L�cken und N�te aus dem Elternhaus schlie�t und wendet, die Klagen der Eltern einl�st und die Bed�rfnisse der Kinder befriedet, in dem Ma�e, wie sich das Kinderhaus mit den Eltern �ber die "Aufgabe der Kindererziehung" verst�ndigt, werden die Kinder eingesponnen in das Netz der Vorstellungen und Bilder der Erwachsenen von kindlichem Leben, und es werden die Kinder dann noch besser und sublimer beobachtet und "verstanden", es wird ihre Flucht nicht nur praktisch, sondern – weit nachhaltiger – seelisch verunm�glicht.

So etwas findet meist in der Form des Verstehens und Verst�ndigseins statt. Sicher k�nnen Erwachsene einzelne �u�erungen von Kindern begreifen, wo sich aber die Erwachsenen im Verstehen ihrer Kinder teilen oder ein Verst�ndnis ihrer Kinder gemeinsam entwickeln wollen, da wollen sie ihre Kinder als gemeine Objekte f�r ihre Lebensauffassung und -beobachtungen bewahren, als Reagenzien ihres Verstandes. Kinder kann man eben immer verstehen – da haben die Erwachsenen sicherlich viel Anschauung. Als die wahren Kinderfreunde sammeln sie auch viel Erfahrung und wissen bald, wie man hier und dort interveniert und wie man mit dem und jenem fertig wird. Die Kindergruppe ist dann wie eine permanent psychologisch angeleitete Selbsterfahrungsgruppe, in welcher die Kriterien der Erwachsenen sich an den Verh�ltnissen der Kinder selbst orientieren, in der die Erwachsenen "f�r ihre Kinder" agieren und Streit, wenn er zu viel wird, mit vorgehaltener Verst�ndnishaltigkeit gegl�ttet wird. Hier kann kein Erwachsener �berhaupt begreifen, was wirklich vorgeht; in solchem gruppenp�dgogischen Bezug begreift man von den Kindern das, was dem eigenen Begriff vom Kind eben schon entspricht.

Ein Verh�ltnis kann nur lebendig sein, wenn sich Erwachsene als Erwachsene zu Kindern verhalten; – und das setzt eben voraus, da� sie auch erstmal f�r sich da sind. Niemand kann einem Menschen seine Natur erl�utern oder erbringen, niemand wei�, was f�r ihn das beste ist, au�er er selbst. Das Kinderhaus kann sich nur mit der Natur der Kinder und ihrer welt auseinandersetzen; es kann keine alternative zur welt sein. Es gibt keine gute Erziehung, auch keine alternative Erziehung, weil es keine zu ziehende Natur des Menschen gibt. Das waren die Intensionen der Menschheitsvernichter, die da behauptet haben: "Wenn wir den Menschen zu seiner Natur zur�ckf�hren, dann wird das gesamte Leben wieder nat�rlich werden!" (A. Hitler)

Jede Vorstellung der Eltern, die �ber das Leben der Kinder Macht gewinnen will, erzeugt Erziehung, auch wenn diese nicht mehr unmittelbar als Handhabungsweise kindlicher Erlebnisse existiert, sondern nur noch als Lebensstruktur, als existentiell strukturierte Lebensvorstellung stattfindet. Diese ist deshalb die versteckteste aller Erziehungen, weil sie nicht mehr als Erziehung besteht und weil auch die Familie sich unfamili�r gibt, ohne anderes zu sein.

Die Auseinandersetzung der Eltern mit sich selbst ist notwendig auch eine Auseinandersetzung �ber ihre allgemein gegebene Rolle, ihre Aufgabe, den gesellschaftlichen Nachwuchs, das Nachwachsen der Gesellschaft in ihrem privaten Sein zu besorgen. Weil sie selbst Kinder waren, k�nnen sie diesen Widerspruch – sofern sie ihr eigenes Kindsein verarbeiten – eben auch als Widerspruch der Erziehung und ihrer Bedingung begreifen.

Das Kinderhaus hat eine lange Diskussion im Laufe seiner Geschichte durchgemacht, deren Grundlage die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein als Mensch in einer bestimmten Welt von Forderungen, Geboten, Zw�ngen und Enteignungen war. Diese l��t sich nicht einfach �bermitteln, sie bestand und besteht eben vorwiegend in dem praktischen Leben, das den Alltag im Kinderhaus ausmacht. Ohne diese Diskussion h�tte das Kinderhaus keine Geschichte gehabt und alles, was kommt, sollte sich hierauf beziehen, Altes �bernehmen oder kritisieren oder �ndern und Neues entwickeln.

Vor allem �ber die grundlegenden Auffassungen zur Erziehung sollte es Einigkeit oder zumindest offenen Streit geben.

Was die �lteren �ber dieses Leben auseinandersetzen oder -gesetzt haben, was sie f�r ein Verh�ltnis zu anderen Menschen, zu Sachen, zur Geschichte, zur Arbeit und ihren bestehenden Formen gefunden haben, das k�nnen sie ihren Kindern mitteilen und ihnen ebenso auseinandersetzen. Was diese daraus machen, wird eben so auch davon abh�ngen, was die Eltern bereits gemacht und bewahrheitet haben, was sie sich schon erarbeitet haben. – Was sie noch nicht kennen oder wissen oder begriffen haben, das �berlassen sie sowieso den Kindern – und das gerade dort am meisten, wo die Eltern durch die Erziehung die gewaltt�tige psychologisch gewendete "Lebenserfahrung" der Eltern als Dogma gegen kindliches Leben ist. Dieses ist das Gegenteil von wirklicher Auseinandersetzung mit dem Leben, denn Leben teilt sich immer selbst und ohne Mittel, unmittelbar mit – da braucht's nichts anderes.

Es gibt keine Erziehung! Keine Erziehung zum sozialen Verhalten, denn Verhalten ist immer sozial (auch wenn's egom��ig erscheint); keine Erziehung zur Kritikf�higkeit, denn Kritik ist keine F�higkeit sondern Notwendigkeit in bestimmten Lebensverh�ltnissen; keine Erziehung zur Selbstverwirklichung, denn ein Mensch ist immer wirklich. (auch wenn er in Widerspr�chen und Spannungen lebt); keine Erziehung zum k�nstlerischen gestalten, denn die Kunst entsteht aus eigener Notwendigkeit zur Gestaltung; keine Erziehung zur Friedfertigkeit, denn der Friede ist erst fertig, wenn der Krieg vorbei ist.

Die Arbeit im Kinderhaus verlangt auch, da� die Erwachsenen aus dem beschr�nkten Ort des Kinderhauses heraustreten und sich auch �ffentlich f�r das einsetzen, wof�r sie k�mpfen: da� den Kindern nicht ihre Welt und Soziet�t genommen wird, da� ihre Kritik nicht unterdr�ckt wird, da� ihr Menschsein nicht zur Individualit�t isoliert wird, da� ihre Gestaltungsversuche gesch�tzt werden und da� ihr Streit nicht beherrscht wird. Das verlangt, da� sich die Eltern selbst gegen die Erziehungsgewalten stellen, da� sie die Institutionen der Erziehung und des Staats, die Aufenthaltsbestimmungsrechte und �hnliche Verf�gungsrechte bestreiten und es Kindern hierdurch erm�glicht wird, sich mit allem, was das bestehende Leben in seiner herrschenden Form ausmacht, so zu befassen, da� darin Kinder ihren Platz und ihren Widerstand finden k�nnen, ohne von Vorstellungen ihrer Eltern bestimmt zu sein.

 

6. �ffentlichkeit und antip�dagogische Politik

Aus dem bisher geschriebenen sind f�r mich f�r das Kinderhaus zu folgern:

Das Kinderhaus soll gegen�ber dem Elternhaus eine m�glichst autonome Einrichtung sein, in welcher die Zusammenh�nge jene bestimmen, die dort leben und arbeiten. Alle weitergehenden Bestimmungsverh�ltnisse entstehen aus dem Zweck des Kinderhauses als antip�dagogische Einrichtung und den materiellen Grundlagen (Zusch�sse bzw. Beitr�ge der Eltern). Wichtig ist, da� alle Erwachsenen, die mit dem Kinderhaus zu tun haben (also haupts�chlich Eltern und Bezugspersonen) sich in einer antip�dagogischen Einstellung einig sind. Das Kinderhaus selbst kann nur ein Versuch sein, und nur das kann erkl�ren, warum es so isoliert ist. Es mu� viele Kinderh�user geben, denn es mu� �berall gegen die Interessen des Staates und der Erzieher gearbeitet werden. Das Kinderhaus soll deshalb auch f�r sein antip�dagogisches Konzept auftreten und werben und zu �hnlichen Gr�ndungen anstiften. Es sollte in erster Linie mit den Menschen zu tun haben, die praktisch keine Familie gr�nden k�nnen (z.B. Alleinerziehende oder getrennt lebende Eltern). Materielle und Klassenunterschiede k�nnen demgegen�ber zur�cktreten. Die Gruppenarbeit soll als Teil der Gesamtarbeit verstanden werden (d.h., da� sich die einzelnen Gruppen von vornherein als Teil einer gesamten Gruppe verstehen sollen und nicht umgekehrt) und auch die Elternarbeit soll sich nicht auf rein materielle Funktionen beschr�nken, sondern an der Auseinandersetzung um Erzieher- und Elternrollen teilnehmen. Auch im weiteren Sinne sollte das Kinderhaus – sofern hierzu Kraft �brigbleibt – antip�dagogische Politik machen. Wo stadtteilgebundene Arbeit m�glich ist, sollte es sich im Stadtteil engagieren und andere Fragestellungen aufgreifen (z.B. Ausl�nderkinder, Kulturprobleme). Es sollte sich f�r alle Fragen auf der Ebene des Kinderrechts und f�r Formen des Widerstands von Kindern gegen�ber ihrem Elternhaus interessierten und einsetzen und die von dort ausgehenden Initiativen unterst�tzen (z.B. Weglaufh�user f�r Kinder, Indianerkommune N�rnberg). Erst in diesem gesamten Bezug w�re das Kinderhaus wirklich Kinderhaus.

Wolfram Pfreundschuh