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Freerk Huisken, Uni Bremen

Zur Kritik der Bremer "Hirnforschung":

Hirn determiniert Geist - Fehler, Funktion und Folgen 1

1. Die Resultate der Bremer "Hirnforschung"

a. Die Bremer Hirnforschung - verbunden mit dem Namen des Hirnforschers Gerhard Roth - nimmt ihren Ausgangspunkt bei Erfahrungen, die Menschen st�ndig im Alltag machen. 2 Gute Argumente verfangen nicht oder werden nicht verstanden; Kindern kann man einen Sachverhalt x-fach erkl�ren, sie begreifen ihn nicht; oder glauben ihn begriffen zu haben, irren sich aber. Glasklare Begr�ndungen werden in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenh�ngen nicht akzeptiert, obwohl sie nicht zu widerlegen sind; oder sie werden akzeptiert, aber nicht in Taten umgesetzt. Und immer wieder begr�nden Menschen ihr Tun selbst v�llig sachgerecht, setzen es in die Tat um und stellen dann jedoch fest, dass eine gew�nschte �nderung ihrer Lage nicht eintritt.

All diese Sachverhalte, die um den Zusammenhang von Einsicht, Begreifen, Lernen, begr�ndetem Handeln und dessen Resultaten kreisen, sind nicht zu bestreiten. In der Geisteswissenschaft liegen im Prinzip drei ‚Modelle' zur Erkl�rung dieser Sachverhalte vor. Die erste Erkl�rung h�lt fest, dass gute Argumente hierzulande leider nicht die Welt regieren, sondern Interessen und Zw�nge; dass es beim Lernen nicht ums Begreifen, sondern um gute Noten geht, und dass falsche Gedanken eher dazu taugen, sich in dieser Welt als anst�ndiger Mensch vorzuf�hren, als richtige. Dieser Ansatz ist ziemlich aus der Mode gekommen. Die zweite Erkl�rung ist daf�r umso durchgesetzter: In ihr werden alle Formen des Scheiterns beim Lernen, das Festhalten an falschen �berzeugungen und Handlungen ganz innerhalb des Menschengeistes, also psychologisch erkl�rt. Da sind dann Menschen durch fr�hkindliche Erfahrungen falsch gepolt, arbeiten sich irrational an Frustrationen ab, brauchen Vorurteile zur Verhaltensstabilisierung oder leiden an einem Mangel an Lern- oder Einsichtsf�higkeit. Immer liegt es, diesem Ansatz zufolge, an den betroffenen Menschen selbst, wenn sie in der Schule beim Lernen nicht mitkommen, im Beruf nicht vorankommen oder als gesellschaftliche St�renfriede stigmatisiert werden. Immer bem�ht diese Erkl�rung die tautologische Konstruktion, dass sich beim Menschen nur �u�ere, was als Eigenschaft oder Trieb, Kraft oder Potenz in ihm selbst angelegt sei. G. Roth und Mitarbeiter stehen f�r die dritte, die �rgerlichste Variante, die diesen Fehler biologisch radikalisiert. Bei ihm sind es Naturvorg�nge, zwar irgendwie gesellschaftlich beeinflusst, aber letztlich nat�rliche Vorg�nge im biologischen Gehirn, die jede Differenz zwischen guten Gr�nden, erw�nschter Einsicht und Verhalten erkl�ren sollen. �rgerlich deswegen, weil auf diese Weise leicht jedes unerw�nschte Verhalten auf Hirnbesonderheiten oder -anomalien zur�ckgef�hrt werden kann. Roths Frage, inwieweit eigentlich das bewusste Ich von Menschen bei Straftaten als schuldf�hig anzusehen ist, ob nicht vielmehr das nat�rliche Gehirn verantwortlich sei, m�ndet zuende gedacht - auch wenn Roth sich gegen diese konsequente Verl�ngerung seines Gedankens str�uben w�rde - bei der wissenschaftlichen Legitimation von Lobotomie und Euthanasie. 3

Damit ist zugleich klar gestellt, warum ich mich mit der Bremer Hirnforschung befasse, obwohl ich kein studierter Naturwissenschaftler bin. Der Vortrag wird zudem zeigen, dass es sich bei der besprochenen Theorie gar nicht um Biologie handelt, sondern um philosophische und psychologische Urteile, zu deren Beleg biologische Daten, Experimente und Gesetzm��igkeiten nur als Material, nicht aber als naturwissenschaftliche Beweise fungieren. Das kann eigentlich nicht verwundern, denn Roth befasst sich mit Fragen des Geistes, behandelt die Gegenst�nde Wille, Bewusstsein und Einsicht, die noch kein Biologe unter dem Mikroskop entdeckt oder im Reagenzglas eingefangen hat.

b. Die Befunde der Bremer Hirnforschung lauten in Kurzfassung folgenderma�en: Nicht die Menschen bestimmen ihre Zwecke, versuchen sie durchzusetzen, scheitern allzu h�ufig und legen sich ihr Scheitern an gesellschaftlichen Hindernissen als Segen oder Sachzwang zurecht, sondern das nat�rliche Gehirn soll es sein, das all dies f�r sie leistet. Denn das Gehirn, dieses Naturst�ck aus Nerven, Blut, Fettgewebe etc. besitzt, laut Roth, die F�higkeit, "aus innerem Antrieb Handlungen durchzuf�hren" (310). Der Mensch dagegen bildet sich seine Willensfreiheit nur ein, ist darin selbst nur "Konstrukt eines (ihm) unzug�nglichen realen Gehirns" (331). In unserem Denken, Wollen und Tun sind wir, so wird hier behauptet, nur Anh�ngsel von Naturvorg�ngen und unsere Vorstellung von geistiger Autonomie ist selbst pure Fiktion. Der Geist ist durch biologische Vorg�nge determiniert, sagt Roth. Deswegen k�nne man auch nicht auf Einsicht setzen, wenn es um Prozesse der "Verhaltens�nderung" - damit meint Roth die Erziehung - geht, deswegen sei der gute Vorsatz, g�ltige Erkenntnisse zu ermitteln, nicht zu halten und deswegen stellt sich schlie�lich die Frage, ob man das bewusste Ich von Menschen f�r ihre Taten verantwortlich machen kann, wo diese doch das Werk des Gehirns, also das Werk biologischer Prozesse seien.

c. Was bedeutet dieser Befund? Ob der Mensch beschlie�t, Hirnforscher oder Politiker zu werden, ob er sich ein Fahrrad, eine Panzerkompanie oder ein Forschungslabor mit Primaten zulegt, ob er CDUSPDDVU w�hlt oder vom W�hlen nichts h�lt, nie hat er - laut Roth - daf�r seine Gr�nde, die er - und m�gen sie nun richtig oder falsch sein - vertritt, die er zur Grundlage seines Handels macht und deren Resultate er an seinen Zwecken misst. Nichts davon. Immer hat das Hirn, also ein Naturvorgang im Kopf, selbst�ndig entschieden und den Menschen handeln lassen. Ob ein- und derselbe Mensch mit ein- und demselben Gehirn sich entschlie�t, von einer Gewohnheit des Denkens oder von bestimmten Urteilen Abschied zu nehmen, weil er ihre Fehler erkannt hat, ob er etwas Neues lernt, weil er sich davon Chancen auf dem Arbeitsmarkt verspricht, oder ob er in der Kopfarbeit Dr�ckebergerei vor der Handarbeit sieht - nie hat da ein Mensch sich so seine Gedanken gemacht, immer hat das Hirn ihn so denken lassen. Und wenn er sein Tun reflektiert, wenn er �berlegt, was er falsch gemacht hat, wenn er mal wieder seine Zwecke nicht erreicht hat, dann sitzt er dem Wahn, der Einbildung auf, er selbst sei es, der der Herr dieses Zusammenhangs von begr�ndeter Zwecksetzung, reflektiertem Tun und theoretischer Bilanzierung der Resultate dieses Tuns ist. Er als willentlich handelndes Wesen kann einfach nichts f�r sein Denken und Tun, hei�t die logische Quintessenz dieser Theorie. Der liebevollsten Tat wie der gr�bsten Brutalit�t steht man demzufolge ohnm�chtig gegen�ber, da beide sich jeder Bekr�ftigung ebenso wie jeder Kritik entziehen. Bewusste Beeinflussung ist schlechterdings nicht m�glich, da Argumente gegen Naturvorg�nge nun einmal nichts auszurichten verm�gen.

Noch einmal sei hier vor einem wohlwollenden Missverst�ndnis gewarnt: Roth m�chte keineswegs darauf verweisen, das sich das Begr�nden, Verfolgen und Bilanzieren von Zwecken immer in gesellschaftlichen Zusammenh�ngen vollzieht, viele frei gew�hlte Zwecke bei vielen Zeitgenossen nicht in gew�nschter Weise aufgehen, und schlie�lich viele falsche Erkl�rungen des Scheiterns der frei gesetzten Zwecke ("ich bin selber schuld, habe zu wenig geleistet, bin unbegabt...") selbst noch einmal auf Konstruktionsprinzipien der kapitalistisch verfassten Gesellschaft verweisen. Roth will also weder die verbreitete Einbildung kritisieren, der zufolge die vorfindliche Gesellschaft jedermann nach dessen Interessen zu Willen ist; noch will er er auf den richtigen Zusammenhang deuten, dass die freie und demokratische Marktwirtschaft zwar das freie Setzen von Zwecken zul�sst, aber zugleich viele Menschen bei deren Verfolgung notwendig scheitern l�sst, weil die hierzulande vorgeschriebenen Wege der Interessenverfolgung - Geldverdienen, Eigentum mehren, Waren kaufen, Meinung �u�ern - gar nicht der Wohlfahrt aller B�rger dienen. Diese zutreffende Kritik von Freiheit und Autonomie in der b�rgerlichen Gesellschaft ist gerade nicht sein Thema. Die Untersuchung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem jeder Mensch nun einmal denkt und handelt, blendet er aus. Und dies obwohl er st�ndig von lauter gesellschaftliche Tatsachen handelt - Wille, Einsicht, Schuld, Schuldf�higkeit, Erziehung .... - ,die er aber als Naturtatsachen, als biologisch bestimmte Sachen einordnet. Natureigenarten sollen daf�r verantwortlich sein, wenn Menschen an Zw�ngen in dieser bestimmten Gesellschaft scheitern, ihnen ohnm�chtig ausgeliefert ist, sofern er sich auf sie aus freiem Willen einl�sst.

G. Roth verfehlt folglich in der theoretischen Befassung mit ihm seinen eigenen Gegenstand: Gesellschaftliche Sachverhalte werden als biologisch bestimmte gefasst.

2. Paradoxa und ihre scheinbare Aufl�sung

a. Nat�rlich kann so eine Theorie �ber Denken, Wille und Handeln nur G�ltigkeit beanspruchen, wenn sie sich auf das wissenschaftliche Treiben des Hirnforschers Roth selbst anwenden l�sst. Unternehmen wir einmal diesen Versuch, dann gelangen wir zu folgendem Befund: Es war gar nicht G. Roth, der in seinem Studium auf theoretische Probleme und offene Fragen der Psychologie oder Philosophie gesto�en ist, sondern es war sein Gehirn, das ihn diese Gedanken hat denken lassen. Und es war und ist gleichfalls nicht G.Roth, der mit Wille und Bewusstsein, mit wissenschaftlichem Interesse und forschungspolitischer Absicht ein Institut aufgebaut hat, B�cher schreibt und Vortr�ge h�lt, etwa weil er meint, der Welt etwas ebenso Zutreffendes wie Wichtiges mitteilen zu m�ssen; nein, auch hier hat sein Gehirn ihn aus "innerem Antrieb" dazu gebracht, all dies zu tun und zu denken. Und Roths Bewusstsein von seinem Tun, seine von ihm gedachten Gr�nde f�r dieses sein Tun, jede seiner Begr�ndungen f�r ein neues Forschungsprojekt sind nichts als die Einbildung eines autonom begr�ndeten Tuns. In Wirklichkeit treibt ihn irgendeine Synapsenverbindung an, sagt er und das wei� er auch, wie er �ffentlich erkl�rt - ohne jedoch erkl�ren zu k�nnen, wie er von seiner Geistest�tikeit �berhaupt ein zutreffendes Bewusstsein haben kann.

All das bereitet dem Forscher Roth merkw�rdigerweise kein Kopfzerbrechen. Dabei m�sste ein Mensch eigentlich an sich selbst irre werden, wenn es sich erstens st�ndig sagen muss: �Das, was ich da tue, ist nie das, was ich tue, worin ich meinem freien Willen folge. Ich mag mir zwar einbilden, bestimmte Gr�nde f�r mein Tun zu besitzen, doch in Wirklichkeit treibt mich ein mir fremdes, "unzug�ngliches Konstruktionsprinzip" meines nat�rlichen Gehirns.� Und wenn er, kaum hat er so Rechenschaft �ber seine eingebildete Willensfreiheit abgelegt, zweitens auch diesen geistigen Vorgang selbst mit demselben Verdikt belegen muss: `Erneut war ich es nicht, der sich da klar gemacht hat, dass es immer mein biologisches Gehirn ist, das mir meine Urteile eingibt; erneut ist reine Einbildung, wenn ich mir diesen Befund �ber meine Einbildungen als Resultat meiner freien Geistest�tigkeit zurechnen w�rde.� 4

Das f�hrt zu der alles entscheidenden Frage, woher Roth eigentlich wei�, dass der Mensch sich seine Willensfreiheit nur einbildet, woher er wei� , dass diese nur das "Konstrukt eines ihm unzug�nglichen Gehirns" ist - wo ihm als frei forschendem Wissenschaftler doch die Konstruktionsprinzipien des/seines Gehirns, wie er behauptet, unzug�nglich sind? Wenn er behauptet, das tats�chlich zu wissen, also dar�ber zutreffende Erkenntnisse ermittelt zu haben, dann ist ihm als forschendem Subjekt das "reale Gehirn" als getrenntes Objekt der Erkenntnist�tigkeit zug�nglich. Dann hat er Kenntnisse �ber das Funktionieren des Gehirns und �ber den Zusammenhang von Hirn und ge�u�ertem Willen. Wenn aber dies der Fall ist, dann bef�higt ihn dieses sein gesichertes Wissen auch dazu, den "inneren Antrieb des Gehirns" selbst zu erfassen, dann w�re er als bewusstes Forschersubjekt nicht mehr bewusstloses Anh�ngsel des Schleimklumpens unter der Hirnschale, sondern sein geistiger Herr. Folglich enth�lt die Roth�sche Erkenntnis zugleich die Widerlegung ihrer Behauptung. Denn auf der Grundlage des durchschauten Zusammenhangs von Gehirn und Willen bzw. Bewusstsein ist der Mensch in seinem willentlichen Tun gerade nicht mehr willenloses Anh�ngsel der Hypophyse, des Thalamus, des limbischen Systems usw. Er h�tte ein Bewusstsein von sich selbst als Anh�ngsel, k�nnte also zwischen wahrem Trieb und eingebildetem Willen unterscheiden. Das aber, behauptet Roth in seiner zentralen These, k�nne der Mensch gerade nicht.

Seine Theorie enth�lt also ein - in sich - unaufl�sbares Paradoxon und ist darin falsche Theorie: Besteht Roth darauf, dass seine Behauptung stimmt, also Wissen, Erkenntnis ist, dann h�tte er sie gar nicht ermitteln k�nnen, weil die Behauptung die theoretische Unzug�nglichkeit ihres eigenen Gegenstands einschlie�t. H�lt man aber an der Theorie fest und wendet sie auf Roths eigenen Erkenntnisprozess an, dann muss es sich bei ihr auch um blo� eingebildete Geistesleistungen handeln, die in Wirklichkeit etwas sind, was man - im strengen Sinne des Wortes - nicht wissen kann. Bleibt man aber dabei, dann sind seine "geistigen Leistungen" nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind.

Noch einmal anders formuliert: Es kann nun einmal eine Theorie nicht ernst genommen werden, die sich als Anwendungsfall von sich selbst ausschlie�t. Denn entweder ist es eine Theorie �ber das Gehirn, also �ber alle Gehirne, dann f�llt eben das des Forschers auch unter seine Theorie. Wenn f�r das Gehirn des Forschers aber eine Ausnahme gelten soll, dann h�tte sich seine Theorie selbst desavouiert, sprich: widerlegt. Die Theorie w�rde n�mlich zugleich eine g�nzlich aus ihrem eigenen Theorierahmen fallende Ausnahme von der gerade vorgestellten Behauptung einschlie�en m�ssen: Die Theorie von G.Roth gilt f�r alle Gehirne, nur f�r das von Herrn Roth nicht!5 Was w�re etwa - um ein anderes Beispiel zu nehmen - von einem Mediziner zu halten, der behauptet, die Funktion der Bauchspeicheldr�se vollst�ndig erkl�rt zu haben, und der zugleich darauf insistiert, dass diese Erkl�rung f�r seine Dr�se nicht zutrifft! Das Fazit lautet: Behauptet die Theorie ihre Stimmigkeit, dann stimmt sie nicht. Geht sie jedoch von vornherein davon aus, dass �ber ihre Stimmigkeit kein Urteil zu f�llen ist, dann m�sste man sich erst recht nicht mit ihr befassen.

b. Roth selbst gesteht dieses Paradoxon ein. Er macht es selbst zum Thema und k�ndigt sogar dessen Aufl�sung im Rahmen seiner eigenen Theorie an. Die beginnt er mit dem klassischen Bekenntnis jeder skeptizistischen Philosohie: Hinsichtlich seiner geistigen Leistungen "per se" (!) k�nne er keinen "Anspruch auf Allgemeing�ltigkeit erheben" (22f), da alle "geistigen Leistungen" solche des Gehirns sind, die "den biologischen Konstruktions- und Funktionsbedingungen (des) Gehirns unterliegen".6 Im Unterschied zu jenen radikalen Konstruktivisten - denen sich Roth nicht zurechnet -, die ganz offen erkl�ren, dass es der "gr��te Fehler" des radikalen Konstruktivismus sei, diese Denkweise auf sich selber anzuwenden, also um die Selbstwiderlegung wissen und sich deshalb diesen Gedanken verbieten, verf�hrt Roth also anders. Er geh�rt zu jenen redlichen Philosophen, die solchen (Selbst-)Betrug nicht mitmachen. Ihn hat das Paradoxon so lange nicht ruhen lassen, bis er meinte, es - und gleich drei weitere Paradoxa, die aus seiner Theorie resultieren (21f), dazu - gel�st zu haben: Am Ende des zitierten Buches betont er nun einerseits erneut, er habe den Anspruch aufgegeben, "objektive Wahrheiten zu verk�nden", will aber andererseits - und dies gilt ihm als die L�sung des Paradoxons - daf�r gesorgt haben, dass seine Darstellung "gehobene Anspr�che an Plausibilit�t und interne Konsistenz erf�llt" (363). 7 Doch was will er damit gesagt haben? Wof�r stehen Plausibilit�t und interne Konsistenz? Es handelt sich bei genauerer Betrachtung dieser beiden Kriterien um nichts anderes als um methodische Umschreibungen eben jenes Wahrheitsanspruches, den Roth f�r sich eigentlich gerade nicht gelten lassen will. Wir haben es folglich mit der Neufassung des alten Widerpruchs, nicht aber mit seiner Aufl�sung zu tun: Einerseits distanziert sich Roth hier vom Wahrheitsanspruch, andererseits will er seine Aussagen auch nicht zu puren Glaubenss�tzen, zu theoretischen Willk�rprodukten, zu Resultaten bewusstloser Hirnstr�me herabstufen.

Schauen wir etwas genauer auf den Gehalt dieser beiden Ma�st�be, die er an seine Urteile schon angelegt haben m�chte. Das Kriterium der internen Konsistenz macht zwar Sinn, aber ohnehin nur im Zusammenhang mit der Plausibilit�tspr�fung, da die Widerspruchsfreiheit auch zwischen Behauptungen festgestellt werden kann, die von gar wenig "plausiblen" Sachverhalten ausgehen.8 Und Plausibilit�t meint nichts anderes, als dass der Verfasser erstens selber von seinen Befunden �berzeugt sein will und zweitens seine Leser von ihnen �berzeugen m�chte: Sie sollen ihnen einleuchten. Dies aber bedeutet, dass seine Befunde nicht durch andere Urteile oder Tatsachen widerlegt werden k�nnen, also dass die behaupteten Zusammenh�nge nachpr�fbar sind und vom wissenschaftlich geschulten Leser nicht bereits nach einer ersten �berpr�fung mit erheblichen Fragezeichen versehen werden k�nnen usw. Also selbst ein Verfahren, das "blo�" die Plausibilit�t einer theoretischen Aussage feststellen m�chte, hat zur Voraussetzung, dass die Gegenst�nde, die Objektivit�t, von denen diese Theorie handelt, auch einer �berpr�fung durch ein getrennt existierendes, selbst�ndig denkendes Subjekt zug�nglich sind. Gerade dies aber leugnet Roth zugleich. Das Paradoxon ist folglich nicht aufgel�st, sondern nur auf die n�chst h�here Ebene des Nachdenkens �ber das Nachdenken transponiert.

Damit bin ich mit der �berpr�fung der Theorie - eigentlich - fertig. Dennoch bin ich noch nicht fertig. Erstens deswegen nicht, weil Roth sich sicher ist, dass seine Befunde weitreichende praktische Konsequenzen haben, nicht zuletzt f�r den Bereich der Erziehung.9 Und zweitens nicht, weil Roth selbst seine Behauptungen - wie es sich wissenschaftlich nun einmal geh�rt - begr�ndet und Belege f�r sie anf�hrt, die f�r sich �berpr�ft werden sollen; wobei sich ein paar Klarstellungen �ber das Verh�ltnis von Hirn und Geist nicht vermeiden lassen werden.

3. Gehirn determiniert Geist: Begr�ndungen und Belege von G.Roth

a. Die psychologisch-philosophische Hirnforschung, die die Determination des Geistes durch das Gehirn behauptet, nimmt regelm��ig ihren Ausgang bei der gegenteiligen Feststellung, bei der Nichtdetermination. Auch Roths Befunde haben ihren Ausgangspunkt in der Feststellung, dass sich niemand den Geist - das F�hlen, Vorstellen, Erinnern, Denken, Wollen usw. - ohne das Gehirn vorstellen kann. Damit beginnt diese Forschung: Ohne Gehirn kein Denken. Dem ist ebensowenig zu widersprechen wie etwa dem Satz, dass man sich ohne Beine das Gehen schwer vorstellen kann.

Bestimmt man das Verh�ltnis, das in dieser Aussage behauptet wird, positiv, dann ergibt sich - und das ist kein �berm��iges R�tsel - , dass das Gehirn mit seinen neuronalen und biochemischen Prozessen die nat�rliche Voraussetzung jeder geistigen Bet�tigung ist, ebenso wie Muskeln, Sehnen und Kochen die nat�rlichen Voraussetzungen f�rs Fortbewegen sind. Gehirn steht zu Geist in einem Bedingungs- bzw. Vorausetzungsverh�ltnis: Das eine, die objektive Natur und ihr Funktionieren m�ssen gegeben sein, damit sich das andere, der subjektive Geist, bet�tigen kann - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Natur, ist das eine, das Stoffliche und darin die Voraussetzung der geistigen Prozesse, die das ganz andere sind, eben das Ideelle, die Gedankenwelt.

Diesen bestimmten Zusammenhang von Natur/Hirn und Geist erf�hrt der Mensch selbst regelm��ig am eigenen Leibe. Er wei�, dass M�digkeit das Denken erschwert, und dass umgekehrt das Lesen eines Buches, das L�sen eines R�tsels, das Abfassen eines Vortrags in ausgeruhtem Zustand leichter vorangeht. Dieses Voraussetzungsverh�ltnis schlie�t damit zwei kontr�re Bestimmungen ein: Zum einen ist die geistige Bet�tigung abh�ngig vom biologischen Funktionieren des Gehirns. Daf�r steht das M�digkeitsbeispiel. Wenn die biologische Funktion beeintr�chtigt ist, klappt`s mit dem Denken schlechter. 10 Zum anderen schlie�t dieses Verh�ltnis aber umgekehrt auch so etwas wie Freiheit des Geistes gegen�ber seiner nat�rlichen Voraussetzung ein. Auch das sp�rt der Mensch am eigenen Leib: Bei starker Konzentration z.B. auf ein mathematisches, �konomisches oder Schach-Problem vergisst man nicht nur manchmal die Zeit, sondern auch seine M�digkeit oder den Schnupfen. Diese Freiheit hat allerdings Grenzen, die eben durch die genannte Abh�ngigkeit der geistigen T�tigkeit von der Natur gezogen wird: Irgendwann muss man schlafen, irgendwann l�sst sich die M�digkeit nicht mehr "vergessen".

Mit diesen Bestimmungen ist die Frage nach dem "Verh�ltnis von Geist und Gehirn" f�rs erste fertig beantwortet - wohlgemerkt nur die Verh�ltnis-Frage. Weder ist damit �ber das Gehirn als Naturding N�heres gesagt noch �ber den Inhalt geistiger Bet�tigung. Wollte man hier Genaueres erfahren, dann w�ren einerseits die Bestimmungen des Gehirns und sein Funktionieren und andererseits die Bestimmungen der geistigen T�tigkeit f�r sich zu kl�ren. Die erste Aufgabe f�llt ganz in die Naturwissenschaft, in die Medizin und Biologie. Die zweite Aufgabe geh�rt in die Geisteswissenschaft. Ihr k�me es zu, die Formen des "subjektiven Geistes" (Empfindung, Gef�hl, Aufmerksamkeit, Anschauung, Vorstellung, Erinnerung, Denken, .....) und ihre Inhalte zu untersuchen.11 Und wie es keine Frage der Medizin ist, sich etwa �ber Identit�t und Differenz von Gef�hl und Verstand auszulassen, so f�llt es umgekehrt nicht in den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaft, sich Klarheit �ber Typen von Neuronen und die Funktionsweise der Zirbeldr�se zu verschaffen. Gerade weil das Verh�ltnis von Geist und Gehirn gekl�rt ist, ihre Nichtidentit�t ausgemachte Sache ist, gehen beide Disziplinen ihre eigenen Wege und haben ihre eigenen Methoden.

b. Und doch belassen Roth und Mitarbeiter die Frage nach dem Verh�ltnis zwischen Hirn und Geist weiter auf der wissenschaftlichen Tagesordnung. Was gibt es da noch zu erforschen? Wenn die Nichtidentit�t von Geist und Gehirn, von der sie selbst ausgehen, festgehalten und die Hirnfunktion als Voraussetzung f�r geistige Prozesse positiv bestimmt ist, dann wendet sich jede weitere Frage entweder den einzelnen Bestimmungen des Gehirns oder des Geistes zu. Doch gerade das sehen die Bremer Hirnforscher anders. Gleich in ihrem zweiten Schritt bezweifeln sie n�mlich ihren eigenen Ausgangspunkt, die von ihnen zun�chst festgehaltene Nicht-Identit�t zwischen Gehirn und Geist. Sie gehen zwar von dem Konditionalverh�ltnis aus, landen aber beim glatten Gegenteil, n�mlich bei der Behauptung eines Kausal- bzw. Determinationsverh�ltnisses. Sie dementieren mit ihrem Ergebnis, der Konstruktion eines Willens, der durch das Naturding 'Hirn' bestimmt sei, ihren eigenen Ausgangspunkt, dass ohne Hirn nichts Geistiges geht, und landen bei der falschen Umkehrung, dass deswegen das Hirn der Grund jedes geistiges Prozesses ist, folglich das Hirn jede geistige Operation bestimmt - und dann der wache Verstand, das Bewusstsein nur noch Anh�ngsel der Naturprozesse ist.

Roth f�hrt diese falsche Logik exemplarisch in seinem Buch ‚Das Hirn und seine Wirklichkeit' vor. Seine Urteile �ber das Verh�ltnis von Hirn und Geist �hneln einem "Eiertanz": Vermittels herangezogener Resultate der neurophysiologischen bzw. psychologischen Hirnforschung wird zwischen Gehirn und Geist zun�chst ein "enger Zusammenhang" (277), dann eine "Parallele" (278) festgestellt; sp�ter "entstammt" (306) der Geist dem Gehirn und schlie�lich "f�hrt das Hirn aus innerem Antrieb Handlungen durch" (310).12 Dieser Beliebigkeit in der Logik steht eine umso gr��ere Gewissheit in der Behauptung gegen�ber, dass das Hirn die letztendlich ma�gebliche Instanz ist. Letzteres scheint eben f�r Roth von vornherein fest zu stehen und durch neurologische Fakten einen Schein von Plausibilit�t bekommen. 13

c. Seine "Belege" sehen folgenderma�en aus. Drei seien exemplarisch herausgegriffen:

Erstens: Er stellt fest, dass jede geistige Aktivit�t des Menschen - Erinnern, Vorlesen, Rechnen, Musizieren, Probleml�sen ... - als Neuronenaktivit�t im Hirn messbar ist. Das wird schon so sein. Doch was ist damit gezeigt? Roth meint: Weil man einen Gedanken oder eine Vorstellung als neuronalen Vorgang messen kann, deswegen ist die Neuronenaktivit�t die Wirklichkeit des Geistes. Folglich kann, weil nun die Neuronenaktivit�t der wirkliche Geist ist, denkt Roth weiter, das geistige Erlebnis selbst, das Denken, Musizieren, Vorlesen.... nur die Einbildung von Geist, also blo� "Geist" - mit Anf�hrungszeichen - sein. Diese Beweisf�hrung lebt erneut von einem Fehlschluss: Denn wenn geistige Aktivit�t als Neuronenaktivit�t messbar ist, dann folgt daraus nicht, dass der Naturvorgang der geistige Prozess ist bzw. den geistigen Prozess hervorbringt; genauso wenig wie ein Spaziergang, der ebenfalls als Folge von Muskelkontraktionen messbar ist, damit schon von diesen Richtung, Tempo und Zweck diktiert bekommt. Roth erkl�rt hier die Neuronenaktivit�t im Hirn, die die physiologische Verlaufsform des geistigen Prozesses ist, letztlich zu dessen Ursache.

Widerlegen l�sst sich dies auch durch die Analyse des Versuchs selber. Roth muss n�mlich den Geistesinhalt, dessen neuronale Aktivit�t er erfassen will, immer vorher von der Versuchsperson erfragen bzw. mit ihr eine bestimmte geistige Operation festlegen: Soll ein Goethe-Gedicht gelesen, eine Rechenaufgabe gel�st oder der letzte Urlaub erinnert werden. Dies ist notwendig, da den Neuronenaktivit�ten n�mlich der Inhalt der Geistest�tigkeit gerade nicht anzusehen ist. Ohne eine derartige R�ckversicherung w�re ihnen nichts als der biologische Vorgang zu entnehmen, der sich gerade nicht als andere geistige Qualit�t, sondern nur als andere neurophysiologische Quantit�t erfassen, deswegen auch messen l�sst. Wenn man aber �berhaupt nur dann wei�, welcher Gedanke oder welches Gef�hl sich als eine bestimmte Neuronenfiguration ereignet, weil man vorher und getrennt vom Messvorgang die geistige Aktivit�t zur Kenntnis genommen hat, dann ist sie eben weder auf das Nat�rliche zu reduzieren noch ergibt sie sich aus ihm. Kein Neurobiologe w�sste, welche geistige Aktivit�t sich als welche Neuronent�tigkeit ereignet, wenn er nicht die geistige Aktivit�t f�r sich und vorher als selbst�ndige geistige Aktivit�t zur Kenntnis genommen. Und zur Kenntnis nehmen muss er sie als die Wirklichkeit des Geistes, w�sste er doch sonst gar nicht, wof�r der Neuronenkomplex steht. 14 Um seine Theorie zu beweisen, muss Roth also voraussetzen, das sie nicht stimmt: Er muss das bewusste geistige Handeln zun�chst f�r sich als eigenst�ndiges Tun registrieren, es also als bestimmtes selbst�ndiges geistiges Tun akzeptieren, wenn er anschlie�end dessen neuronales Abbild messen will. Wenn die Wirklichkeit des Geistes dem ganzen Versuch vorausgesetzt ist, dann kann die messbare Neuronenaktivit�t nicht ihr Grund sein.

Diesen Widerspruch - immer schon als selbst�ndige Aktivit�t des Bewusstseins zu unterstellen, was er dann im Hirn identifiziert - versucht Roth zu l�sen, indem er dem Naturding Hirn selbst Qualit�ten von Bewusstheit andichtet: Das Gehirn "bewerte" alle Erfahrungen, die wir machen, schaffe auf diese Weise ein "Bewertungsged�chtnis, in dem unsere ganzen Lebenserfahrungen abgelegt sind". Und dieses Bewertungsged�chtnis steuere unser ganzes Verhalten. Sein Fazit: "Dies bedeutet, dass die eigentlichen Antriebe unseres Verhaltens aus den 'Tiefen' unserer unbewussten Ged�chtnisinhalte .... stammen." (307) Was denn nun? Redet Roth vom Ged�chtnis, also einem bewussten geistigen Prozess namens erinnern - bei dem wir ziemlich bewusst registieren, das es manchmal "nachl�sst" -, oder redet er von Naturvorg�ngen? Denen haftet aber nun wirklich keine Bewusstseinsqualit�t an. Oder will er allen Ernstes behaupten - und das w�re der vollst�ndige Widerspruch - , dass wir �ber ein doppeltes Bewusstsein verf�gen, ein unbewusstes Bewusstsein namens Bewertungsged�chtnis und bewusstes Bewusstsein, das sich �berdies seine Bewusstheit nur einbildet. Da wird Wissenschaft dann vollst�ndig zum absurden Theater.

Zweitens: Sein Lieblingsbeleg f�r die Determination geistiger Prozesse durch Naturvorg�nge im Gehirn besteht im Verweis auf Hirnmessungen, die ergeben haben, dass sich im limbischen System ein Willensakt bereits eine kurze Zeitspanne vor seiner Ausf�hrung in einem "corticalen Prozess" als Folge von messbaren Hirnstr�mungen ank�ndigt. Daraus folgt f�r ihn, dass der Willensentschluss, fassbar an der willentlichen Handlung, �berhaupt nur "ein Begleitgef�hl" (308) dieser Handlung ist, es aber zum eigentlichen "Willensentschluss" l�ngst vorher im limbischen System gekommen ist, weswegen es als die "eigentliche Ursache f�r eine Handlung" (309) anzusehen ist. Berufungsinstanz ist der Hirnforscher Benjamin Libet mit seinen Experimenten, in denen er festgestellt hat, dass - so die Interpretation - bereits ca. 500 Millisekunden vor dem "Willensentschluss bzw. Gef�hl des Willensentschlusses" erkennbar ein "Bereitschaftspotential" im limbischen System aktiviert wurde, das dann zum Beweis daf�r herhalten muss, dass der eigentliche Willensentschlus vom limbischen System l�ngst "gefasst" worden sein muss, bevor sich der Entschluss als blo� gef�hlter bemerkbar macht.

Lassen wir uns einmal auf das Experiment ein und �berpr�fen seine "Plausibilit�t". Plausibel wird es, wenn �berhaupt nur solche Interpretationsalternativen vorgestellt werden, die zur Theorie passen. Das geht in diesem Fall so und ist deswegen �berhaupt nicht plausibel: Wenn vor dem spontanen Entschluss zur Fingerbewegung - spontan muss er wegen der intendierten Herstellung einer Zeitgleichheit von Fingerbewegung mit Willensentschluss sein - Hirnstr�mungen messbar sind, dann war der gef�hlte Willensentschluss nicht der eigentliche, sondern dann lag der eigentliche Entschluss vor dem gef�hlten. Also: Wenn keine Hirnt�tigkeit vorher, dann gef�hlter gleich eigentlicher, wenn jedoch vorher Hirnt�tigkeit messbar, dann folgt der gef�hlte dem eigentlichen Entschluss, der selbst Hirnprodukt ist, nach. Jede andere Erkl�rung f�r die vorher gemessene Hirnt�tigkeit ist hier nicht zugelassen.

Und genau darin liegt der Hase im Pfeffer: Denn wenn - die Messergebnisse einmal als korrekte unterstellt - eine Versuchsperson aufgefordert ist, sich spontan zur einer Finger�bung zu entscheiden, dann wird z.B. das damit aktivierte "Bereitschaftspotential" wohl ebenso als Ver�nderung von Str�mungen gemessen werden, wie der danach erfolgte Beschluss zur spontanen Fingerbewegung selbst. Da zudem v�llig unklar ist, was jeweils mit den EEG-Messger�ten an elektrischen Str�mungen gemessen worden ist, da immer nur eine quantitative Ver�nderung der Kurve sichtbar wird, steht es mit der Plausibilit�t dieses Belegs nicht gerade zum Besten. Wof�r also die vorher gemessenen Ver�nderungen der Hirnstr�mungen stehen, l�sst sich diesen gerade nicht entnehmen. (307ff)

Drittens: Einen weiteren Beleg meint Roth unserer Alltagserfahrungen entnehmen zu k�nnen: "Wir versuchen t�glich, andere von unseren Einsichten zu �berzeugen und ihr Verhalten entsprechend zu �ndern. Dies gelingt oft nicht, obwohl unsere Argumente scheinbar glasklar und unwiderlegbar sind. Es kann passieren, dass man uns zustimmt, die Verhaltens�nderung verspricht, aber nicht so handelt. (Auf Nachfrage wird oft behauptet, man tue doch genau das, was verlangt worden sei.)" (Impulse 2/2000, S.8)Auch das soll den Befund plausibel machen, dass "das Sprach-Logisch-Bewusste wenig Einfluss hat auf die Instanzen in unserem Gehirn, die letztlich unser Handeln bestimmen." (a.a.O., S.11) Hier lebt das angef�hrte Belegmaterial erneut davon, dass erstens jede Erkl�rung au�erhalb der nun hinreichend bekannten Alternative - entweder "das bewusste Ich" (bzw. das Ideal, das sich Roth darunter vorstellt) oder das "Gehirn" ist der "gro�e Boss" - nicht in Erw�gung gezogen wird; und das zweitens "das sprach-logisch bewusste Ich" in einer Weise gedacht wird, wie dies im �brigen nur Manipulationstheoretiker zustande bringen.

Auf solche Gedanken kommt man n�mlich nur, wenn man jedes "glasklare Argument" wie einen N�rnberger Trichter denkt, also wie eine Art �berzeugungsautomatismus. Zun�chst geh er von der idealistischen Vorstellung aus: Wenn das Argument - f�r mich - glasklar ist, dann m�sste es doch eigentlich - jeden anderen - �berzeugen! Dann folgt der falsche Umkehrschluss: Wenn es jedoch, obwohl glasklar, nicht �berzeugt, dann kann es nur daran liegen, dass unsere Vorstellung vom Verstand als autonomer geistiger Gr��e nicht stimmt, sondern dass die Verhaltens�nderung durch das nat�rliche Gehirn gesteuert wird. So ungef�hr muss G.Roth denken - und zwar ganz autonom, frei und falsch!

Man muss sich jetzt einmal klar machen, welche geradezu auf der Hand liegenden Erkl�rungen der genannten Sachverhalte von Roth ausgeblendet werden m�ssen, damit er an seiner Erkl�rungsalternative festhalten kann: Dass jedermann, der von etwas �berzeugt werden soll, ein jedes Argument selbst erst einmal aufnehmen, verstehen und in seiner Konsequenz begreifen muss, dass er es also auch nicht verstehen oder missverstehen kann, dass sich vor Konsequenzen f�rchtet oder ihm die M�glichkeiten zur Umsetzung der neuen Einsicht fehlen usw., all das f�llt bei Roth heraus. 15 Auch wird nicht in Erw�gung gezogen, dass �berzeugende Argumente ohnehin rar sind und dass das �berzeugen hierzulande gerade nicht die durchgesetzte Methode der "Verhaltens�nderung" ist, weswegen auch schlichtes Argumentieren ohne psychologisches Einwickeln, moralischen Druck oder unmittelbare Sanktionsdrohung (Strafe, Gesetze...) nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellt - von der Kindererziehung ("Lass das, sonst setzt es was!") bis zum Erwachsenenalltag ("Ich zeig' Sie an!").

Dass eine gew�nschte "Verhaltens�nderung"16 per argumentativer �berzeugung h�ufig nicht gelingt, kann also viele Ursachen haben: Erstens geh�ren zum �berzeugen zwei dazu bereite Wesen, zweitens �berzeugende Argumente, drittens der Abschied von vielleicht zur Gewohnheit gewordenen Verhaltensweisen, viertens gelegentlich die �berf�hrung des Arguments in eine Kalkulation mit mehreren Gr��en, zu denen auch Handlungsvorschriften geh�ren, die nicht auf Argumenten, sondern auf Gesetzen/Gewalt basieren ("Ich sehe zwar das und das ein, aber wenn ich danach handele, komme ich in Schwierigkeiten, verbaue mir vielleicht die Zukunft; weswegen ich es doch lieber lasse!"); und selbst die Feststellung, dass eine behauptete Verhaltens�nderung mit der gew�nschten gar nicht deckungsgleich ist, verdankt sich h�ufig ganz harmlosen Umst�nden: Da ist entweder ein Argument nicht verstanden, dessen Umsetzung misslungen oder es wird Zustimmung schlicht geheuchelt. Es handet sich um lauter simple Aufl�sungen, die sich von Fall zu Fall leicht verifizieren lassen, und die selbst dann allesamt zum bewussten, geistigen Umgang mit theoretischen und praktischen Anforderungen geh�ren, wenn sie einem �berhaupt nicht gefallen - wie die Heuchelei oder jene Sorte von Vernunft, die das richtige Urteil dem Anstand opfert. Roth kommt jedoch - so steht nun zu vermuten - deswegen nicht auf diese schlichten Erkl�rungen, weil er Einsicht �berhaupt nur als ein borniertes Organ denkt, das auf glasklare Argumente geeicht sein m�sste. Wenn das aber nicht der Fall ist, sich folglich Roths erfundenes Einsichtsorgan an der Wirklichkeit mangelnder Einsichtsf�higkeit oder gesellschaftlich geforderter Einsichtsnotwendigkeit blamiert, gibt es sie eben nicht als autonome Qualit�t. Jede diesen Schluss st�rende Erkl�rungsalternative hat in dieser Theorie keinen Raum!

c. Das Resultat der Berufung auf die biologische Hirnforschung l�uft letztlich auf folgendes hinaus: Weil sie immer mehr dar�ber herausfindet, wie und wo im Hirn geistige Prozesse physiologisch ablaufen, soll es irgendwie auf der Hand liegen, dass alle geistigen Vorg�nge durch physiologische Abl�ufe bestimmt sind! So wird denn aus der "ohne-dass"-Logik eine "dadurch"-Bestimmung, aus einer Voraussetzung eine Bedingtheit und aus der Angabe der "Lokalit�t" - des "Ortes" im Hirn - ein "Grund", wird also ein physiologischer Sachverhalt in ein logisches Verh�ltnis umgedeutet. All diese Fehler hat diese Bremer Hirnforschung hinter sich, wenn sie das gekl�rte Verh�ltnis von Gehirn und Geist um seine Existenz bringt, den Willen des Menschen in ein Anh�ngsel physiologischer Vorg�nge, also in einen Naturvorgang und das Bewusstsein, das wir von unserem Willen haben, in eine Einbildung verwandelt. So landet Roth bei seinem Befund, dass nicht wir denken, sondern das Gehirn f�r uns denkt; dass nicht wir uns begr�ndet Zwecke setzen, sondern unser Gehirn uns das Handeln diktiert und uns dar�ber auch noch mit der Einbildung versorgt, dass unser Wille frei ist!

4. "Hirnforschung" und "Zeitgeist"

a. Die Befunde der Bremer Hirnforschung, die letztlich auf einen, mit viel Aufwand inszenierten, schlichten Fehlschluss zur�ckzuf�hren sind, der die nat�rlichen Voraussetzungen des Geistes zum Grund des Denkens und des Willens erkl�rt, der mit der Identifizierung der nat�rlichen Abl�ufe bestimmter Geistesaktivit�ten deren Determination durch das physiologische Gehirn ermittelt haben will, haben zur Zeit gesellschaftlich Konjunktur. Es kommt heute wieder in Mode, z.B. den per Konkurrenz aussortierten, f�r unbrauchbar oder unerw�nscht erkl�rten oder auf die "schiefe Bahn" geratenen Volksteilen zu attestieren, dass ihre Natur, also ihr Genmaterial oder ihre angeborene Leistungsbereitschaft etc.ihren privaten Aufstiegsw�nschen nicht entspricht bzw. ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze nicht hergibt. Rechtsextremisten sind zwar einerseits neuerdings "�berzeugungst�ter", die man andererseits aber nicht �berzeugen kann, weil ihre �berzeugung "ver-tiert" ist17 und deswegen Resozialisierungsbem�hungen �berfl�ssig sind.

Der in der politischen und wissenschaftlichen �ffentlichkeit pr�sente "Zeitgeist" muss sich den wissenschaftlichen Reim auf diese Naturalisierung gesellschaftlicher Ausschlussprozesse nicht selbst machen. Er kann auf die Leistungen der freien Geisteswissenschaften zur�ckgreifen. Die Geisteswissenschaftler brauchen n�mlich nicht erst solche politischen Konjunkturen, um auf naturalistische Theorien zu verfallen. In Psychologie und P�dagogik, aber auch Philosophie und Politologie ist es Tradition, der Menschennatur anzulasten, was ihr von Politik und �konomie angetan wird. Diese Abteilungen pluralistischen Denkens re�ssieren dann, bekommen Konjunktur und erfahren pl�tzlich eine �ffentliche Wertsch�tzung, die sie lange vermissen mussten.

b. Einige Beispiele sollen das illustrieren:

Erstens: Vorbei ist die Zeit, in der es in der Bildungspolitik als ein Zeichen f�r �berholtes Denken galt, mit dem Begabungsargument f�r eine quantitative Begrenzung der Elitenbildung zu pl�dieren. Als in Deutschland-West die 1.Bildungskatastrophe ausgerufen wurde und mehr Abiturienten gew�nscht waren, um �ber die Akkumulation von "Human-Kapital" die "Konkurrenzf�higkeit der Wirtschaft" (G.Picht, 1964) voranzubringen, da hatten solche p�dagogische Denker Konjunktur, die den Lernerfolg des Nachwuchses nicht durch Anlagen und Gene begrenzt sahen, sondern auf die Umwelt setzten und in der F�rderung der Anlagen das Mittel entdeckten, ihm auf die national erw�nschten Spr�nge zu helfen. Begabung kam auf einmal von begaben und die Bildungspolitik machte mit ihren Entscheidungen wahr, was diese p�dagogische Denkvariante vertrat. Sp�ter drehte sich der Spie� wieder um. Gedacht wurde und wird zwar innerp�dagogisch wie eh und je, es gibt Anlagen- und Umwelttheoretiker und vor allem solche, die f�r jede politische Konjunktur Material pr�sentieren und die Anlage-Umwelt-Theorie favorisieren. Doch wenn z.B. Sparen im Bildungssektor angesagt ist und es obendrein im Angebot mehr Ausgebildete gibt als "der Markt" verlangt, dann wissen Bildungstheoretiker sogleich, dass zu viele "Unbegabte" die Unis bev�lkern und "Studentenberge" produzieren, die die nationale Elite nivellieren. Dann sind sie sich sicher, dass es so viele "Begabte" in einer Nation gar nicht geben kann und dass die Unis "viel zu vielen zur Wissenschaft kaum bef�higten jungen Menschen"18 ge�ffnet werden. Dann lassen sich die Begabungsforscher nicht lange bitten. Sie haben es ja schon immer gesagt, dass nur eine sch�rfere Auslese die Spreu vom Weizen trennen kann.

Auch Gerhard Roth hat da etwas im Angebot, was diese Debatte bereichert. Er hat herausgefunden, dass das Lernen letztlich nicht vom Willen und der Anstrengung des Lernenden abh�ngt und ein Appell an die Einsicht ohnehin versagt: In der Zeitung war zu lesen, dass der "Bremer Wissenschaftler es f�r ziemlich aussichtslos h�lt, wenn Eltern oder Lehrer bei der Erziehung an die Einsicht (!) von Kindern appellieren. Wichtiger sei es, zu motivieren - und Motivation bedeute nichts anderes, als das Kind in emotionalen Aufruhr (!) zu versetzen" (WK, 25.1.97). Denn nur so sei das "limbische System" im Gehirn zu affizieren. Das Lernen wird demzufolge vom Gehirn diktiert, ist der F�rderung durch eine gr�ndliche, auf Einsicht setzende Erkl�rung gar nicht zug�nglich, weswegen dann auch dem p�dagogischen Bem�hen durch das jeweilige Gehirn seine Grenzen gezogen sind. Alle Sitzenbleiber und in der Schule Gescheiterten, die von Lehrern mit ihren Zensuren je nach den quantitativen Vorgaben der jeweiligen Bildungspolitik produziert werden, d�rfen sich dann mit der Unzul�nglichkeit ihrer Natur �ber ihre von der Staatsschule zerst�rte Lebensperspektive hinwegtr�sten.

Nebenbei gibt der Bremer Wissenschaftler, der der Einsicht des Menschen nicht etwa aus Erfahrung misstraut, sondern ihr �berhaupt beim Lernen nichts zutraut, all denen recht, die es schon immer mit der alten p�dagogische Maxime gehalten haben, dass wer nicht h�ren will/kann, eben f�hlen muss, d.h. in "emotionalen Aufruhr" versetzt werden muss. Es f�llt schwer, diese Sache mit dem "emotionalem Aufruhr" zu Ende zu denken, ohne sich an all jene Techniken zu erinnern, mit denen Begeisterung und Hingabe, Herzschmerz, Betroffen- und Zerknirschtheit erzeugt zu werden pflegen. Da die Pr�gelstrafe verboten und der Hurrapatriotismus noch nicht wieder in Mode gekommen ist, geht es heute bei der Beeinflussung des Verstandes unter Umgehung des einsichtigen Argumentierens "subtiler" zu. Da wird dann auf den "Bauch" gesetzt, die Verstandest�tigkeit als "Verkopfung" denunziert - ganz in der Manier der deutschen Faschisten, die dem Intellekt nur "Zersetzendes" zutrauten - und dem Gef�hl das Urteilen ganz erfahrungs- und handlungsorientiert anvertraut. Sehns�chtig blicken inzwischen einige Bildungspolitikern wieder �ber den gro�en Teich, weil selbst bei dieser modernen p�dagogischen Ausschaltung des Verstandes der "Aufruhr" der Gef�hle immer noch ein wenig zu kurz kommt. In bestimmten zivilisierten L�ndern ist es dagegen l�ngst �blich, uniformierte Sch�ler t�glich vor Schulbeginn mit Flagge und Hymne emotional "aufzur�hren".

Ich will extra betonen, dass G. Roth daran vielleicht nicht einmal im Traum denkt. Doch das muss er auch nicht. Seine Wissenschaft wird gesellschaftlich dadurch in Funktion gesetzt, dass sich andere, die an so etwas nicht nur denken, durch diese "Hirnforschung" legitimiert sehen.

Inzwischen kommen in den Feuilletons deutscher Zeitungen immer h�ufiger Hirnforscher zu Wort, sich zum Lernen �u�ern. Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts f�r Hirnforschung in FaM, etwa pl�diert f�r die Volksweisheit: "Was H�nschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr!", h�lt allerdings Training f�r das "Gegenteil von Vernachl�ssigung", wenngleich doch unklar bleiben muss, "ob die strukturelle Komplexit�t durch �ben �ber das normale Ma� hinaus gesteigert werden kann; was ihn schlie�lich zu dem Postulat f�hrt, dass es "nutzlos (ist), vielleicht sogar kontraproduktiv, Inhalte anzubieten, die nicht ad�quat verarbeitet werden k�nnen, weil die entsprechenden Entwicklungsfenster nicht offen sind" - �ber die "aber bislang wenig Daten vorliegen". (FAZ, 28./29.7.01) Das ist als Pl�doyer - PISA l�sst gr��en - f�r Lernkindergarten gut zu ben�tzen. Allerdings wird er sich streiten m�ssen mit jenen Bildungspolitikern, die neuerdings auf die Patchwork-Biographie setzen, die lebenslang aus einem Wechsel von Lernen, Arbeit und sozialen Diensten (sprich: Arbeitslosigkeit) bestehen soll. Andere wiederum, wie Detlef Linke, Neurophysiologe aus Bonn, warnen denn auch davor, jetzt vor allem das Lernen im Kindergarten zu favorisieren. Ihm erscheint "zielgerichtetes Lernen ... erst ab dem 6. Lebensjahr sinnvoll". (SZ, 11.01.02) Und daf�r "sollte (man) die Sch�ler mit 17 Jahren aus der Schule entlassen, nachdem sie einem intensivem Umgang mit Sprache (und Mathematik) zugef�hrt wurden...." Dar�ber w�ren dann einerseits die Handwerkskammern sehr erfreut, andererseits die Hochschulpolitiker, die den fr�heren Studienbeginn sofort in l�ngere Lebensarbeitszeit der Studierten umrechnen.

Die praktischen Schlussfolgerungen, die Roth selbst neuerdings f�rs Lernen aus seiner Theorie zieht, h�ren sich �brigens �u�erst merkw�rdig an 19: Da ist die Rede davon, dass eher und besser gelernt wird, wenn der Lernende 1. der Auffassung ist, das das Lernen lohnt; dass folglich Lernen 2. als positive, lustvolle T�tigkeit empfunden werden muss, weswegen 3. die Attraktivit�t von Lernen und Schule erh�ht und die Vertrauensw�rdigkeit des Lernortes gesteigert werden, 4. das Vorwissen der Sch�ler in Rechnung gestellt, 5. eine angstfreie Lernsituation hergestellt werden muss und 6. die Bewertung des Lernerfolgs als gerecht empfunden werden muss. Merkw�rdig ist dieser Katalog zum einen, weil er eine Ansammlung von p�dagogogischen Banalit�ten darstellt. Wer h�tte das gedacht, dass Vorwissen der Sch�ler eine Rolle spielt, wenn alle einer gleichen Behandlung unterzogen werden? Wer w�re ohne den Hirnforscher je auf die geniale Idee gekommen, dass Lernen ohne Angst erfolgen sollte? usw. Doch das allein ist es nicht, was diese "Faktoren" so merkw�rdig macht: Sie sind �berdies eine Sammlung von Lernbedingungen, die das Lernen selbst gar nicht erfassen. Seine Frage lautet: Welche Bedingungen m�ssen gegeben sein, damit Lernen besser geht? �ber das, was da besser gehen soll, das Lernen, erf�hrt man - erneut - nichts. Schlie�lich gibt es noch eine weitere Merkw�rdigkeit: Denn all diese albernen Hinweise aus der p�dagogischen Mottenkiste will er seinem Wissen �ber das Gehirn abgelauscht haben: "Unser Gehirn pr�ft st�ndig, lohnt sich der Aufwand", verk�ndet Roth den staunenden Zuh�rern, die bisher der Auffassung waren, dass dies ihre, bewusst vorgenommene Kalkulation ist! Nichts da, das wirkt ganz unbewusst! Was nat�rlich wiederum erstaunt, weil von allen Kalkulationen und Lernbedingungen ein klares Bewusstsein vorherrscht, das seit ca. 300 Jahren in der p�dagogischen Literatur dokumentiert ist. Schlussendlich jedoch darf eine weitere Merkw�rdigkeit nicht unterschlagen werden: Bereits auf den ersten Blick erkennbar entwirft Roth mit seinem Katalog ein �u�erst realistisches Bild von Schule heute, ohne sich jedoch f�r die Frage zu interessieren, warum eigentlich Sch�ler - z.B. in der Hauptschule - irgendwann zu der Auffassung kommen, Schule lohne sich f�r sie nicht mehr; warum eigentlich f�r viele Sch�ler Lernen und Schule so unattraktiv ist20; warum das Vertrauensverh�ltnis in der Schule so nachhaltig gest�rt ist, dass umfangreiche Disziplinierungskataloge erstellt werden m�ssen; warum eigentlich in der Schule gelegentlich und vor allem vor den Zeugnissen Angst regiert; warum die Bewertung der Lernleistungen trotz jahrzehntelanger Kritik immer noch als "ungerecht" empfunden wird usw.? Dass es daf�r Gr�nde geben k�nnte, die im bildungspolitischen Zweck verankert sind, der mit Schule hierzulande verfolgt wird, ist f�r den Hirnforscher von minderem Interesse. Folglich fragt er auch nicht, ob "seine" h�bschen Lernbedingungen eigentlich im Sinne der Schulerfinder, Schulverwalter und Schulreformer sind? Die Borniertheit seines Anliegens gipfelt hier in der impliziten Logik, dass Schulreform selbstverst�ndlich den Gesetzen der (Hirn-)Natur zu folgen habe, nicht aber den Zwecken, die mit Schule im Kapitalismus leider ziemlich erfolgreich und ziemlich gleichg�ltig gegen�ber den Erfindungen des Hirnforschers durchgesetzt werden - von den Regeln der Vernunft ist ohnehin nicht die Rede. Harmlos ist auch diese neuere Einmischung in Lernen und Schule nicht - obwohl seine dummerhaften Ratschl�ge an Harmlosigkeit nicht zu �berbieten sind. Denn die Botschaft, die damit transportiert wird lautet allemal: Dass es in der Schule so zugeht wie es zugeht, liegt nicht an den Zielen der hiesigen Bildungspolitik, sondern daran, dass P�dagogen keine Ahnung von den Hirnfunktionen haben. 21

Zweitens: Bei "Kriminellen" ist man sich heute, wo Armut fl�chendeckende Ausma�e erreicht und deswegen Ordnung noch gr��er geschrieben wird, gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht statt - wie einst noch - als Opfer sozialer Umst�nde vielmehr als Tr�ger eines kriminellen Gens zu identifizieren sind. Wo auf staatliche Betreuung der Armut in dem Ma�e verzichtet wird, wie diese w�chst, da wird es nicht lange dauern, bis der wissenschaftliche Rassismus auch hierzulande nur die gerechte Bedienung einer Menschennatur entdeckt, die es eben wegen ihrer nat�rlichen Ausstattung zu mehr nicht bringen konnte.

G. Roth kann sich diesem Urteil nicht v�llig verschlie�en. Auch er h�lt es f�r m�glich, "dass kriminelles Verhalten erfahrungsunabh�ngig, genetisch-hirnorganisch bedingt ist".22 Die Frage, woher eigentlich die Gene wissen, welche Taten vom Gesetzgeber einer bestimmten Gesellschaft jeweils als "kriminell" geahndet werden, wie sie in Erfahrung bringen, was als "kriminelle Tat" gilt, da z.B. bei Uniformierten in Aus�bung ihres Berufes ganz legal ist, was Privatpersonen als Vergehen angelastet wird, und woher sie Rechtsstaaten von Unrechtsstaaten unterscheiden k�nnen, zumal so etwas immer erst das Resultat gewonnener kalter oder hei�er Kriege ist, stellt er sich nicht.

Auch ist ihm die Redeweise vom "kriminellen Verhalten" wissenschaftlich wenig suspekt, obwohl mit der gar nicht �ber das Wollen und Tun von Menschen geurteilt, sondern nur der jeweils herrschende Rechtsstandpunkt als Ordnungs- und Sortierungsma�stab angelegt wird. Warum der eine Mensch bargeldlos Lebensmittel mitgehen l�sst und ein anderer eine Bank �berf�llt, warum Bilanzen frisiert und Steuern hinterzogen werden, interessiert ihn wenig, solange er am kriminellen Gen als einer "Denkm�glichkeit" festh�lt.

Wo die Konkurrenz h�rter wird, in der die B�rger sich zu bew�hren haben, wo immer mehr von ihnen aus den gewohnten Lebensumst�nden heraus- und nicht einmal mehr in ein "soziales Netz", sondern ganz in ihre armselige Privatexistenz fallen, da ist Wissenschaft gefragt, die die gesellschaftlich hergestellte Aussortierung zu einer Sache der Menschennatur verfabelt. Dadurch ist die herrschende Produktionsweise einmal mehr aus dem Schneider, deren Reichtum auf der Armut derer beruht, die ihn produzieren. Aber auch die Opfer k�nnen nicht viel f�r ihre "Lage". Nicht einmal falsch gemacht haben sie etwas, denn ihre Natur hat f�r sie nichts anderes vorgesehen. Damit ist alles in einer gerechten Ordnung, weil letztlich jeder an dem Platz ist, an den er seiner Natur nach hingeh�rt.

Wenn so eine "Hirnforschung" universit�r als Aush�ngeschild benutzt wird, dann hat das also - so gesehen - nichts mit besonderen Leistungen der "Hirnforschung" zu tun. Sie profitiert vom "Zeitgeist", der gerade Bedarf an neuen/alten Naturalisierungstheorien anmeldet. �ndert der sich, dann hat sie ausgedient und versinkt auch wieder im Geistesbrei pluralistischer Wissenschaftsfreiheit und tut sich Drittmittelanwerbung entsprechend schwer.

Drittens: Allerdings ist auch ein Aufstieg dieser Wissenschaft vom Produzenten n�tzlicher Legitimationstheorien zu einer Disziplin, die als Handlungsanleitung f�r gesellschaftliche Sortierungsvorg�nge benutzt wird, nicht ausgeschlossen. Daf�r muss es einer politischen Legislative erstens nur ein- und gefallen, dass bestimmte Abweichungen im Denken und Tun von B�rgern tats�chlich eine Sache ihres Gehirns sind, und sie muss zweitens diese Menschen zu Patienten erkl�ren, denen mit einem Hirneingriff wieder zu gesellschaftlich erw�nschtem Verhalten verholfen werden kann - wenn sie nicht gleich das Urteil �ber eine abartige Natur zum Anlass f�r den Befund nimmt, dass hier nur noch die "Ausmerzung" hilft. Es braucht nicht einmal einen Faschismus, um die Erfindungen �ber den naturdeterminierten Willen des Menschen umzusetzen. Das schaffen auch Demokratien. Bei den "Kindersch�ndern" ist man sich hierzulande bereits ganz sicher, dass eine Krankheit vorliegt. Denn wenn erwachsene M�nner das mit Kindern machen, was im (Sado-Maso-)Liebesleben unter Erwachsenen an der TV-Tagesordnung ist, es n�mlich als Feld verstehen, auf dem sie roheste Beweise ihrer m�nnlichen �berlegenheit erbringen und daraus ihr rassistisches Selbstbewusstsein beziehen, dann liegt nicht mehr "kreative Sexualit�t", sondern ein Hirnschaden vor. Darin sind sich nicht nur Stammtische, sondern auch Juristenkreise inzwischen einig - die es obendrein begr��en w�rden, wenn sich aus Genstrukturen Pers�nlichkeitsprofile ableiten lie�en, mittels derer "verbrecherische Charaktere" fr�hzeitig dingfest gemacht werden k�nnten.

Auch G. Roth, der seine Theorie der Naturalisierung gesellschaftlicher Vorg�nge konsequent zu Ende denkt, st��t - wie in der Einleitung angedeutet - auf die Frage, ob eigentlich die Strafe als S�hne verf�ngt, wenn doch gar kein individueller T�ter zur Rechenschaft gezogen werden kann, der seine Tat bewusst geplant und umgesetzt hat, er vielmehr nur den Befehlen seines Hirns gefolgt ist. Er fragt: Welcher Instanz soll man "Schuld" zurechnen? Und antwortet: "Es m�sste sehr sorgf�ltig diskutiert werden, ob und inwieweit es sowohl bei der Strafe als S�hne wie der Strafe als Erziehung zum Besseren einen gro�en Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dieses �berhaupt m�glich ist), oder das Gehirn und seinen Organismus als autonomes System."(330f; Klammer im Original!) Roth fragt sich also, wer eigentlich Adressat der Strafe sein soll. Wird das Ich eingesperrt, dann trifft es ja strenggenommen den Falschen. M�sste man also nicht eigentlich das Gehirn bestrafen - doch wie "bestraft" man ein St�ck Natur? Durch chemische Therapie, durch physische Einwirkung, also mit Elektroden, Skalpellen oder �hnlichem? Es beruhigt keineswegs, dass Roth diese Frage erst "sorgf�ltig diskutieren" will (331). Denn der Skandal liegt bereits in der Frage. Strafe, also gewaltsame Wiederherstellung der per Vergehen angegriffenen jeweiligen Rechtstaatlichkeit, wird in ihr zum medizinischen Sachverhalt erkl�rt, und mit dem Befund �ber Schuld und Unschuld ein Rechtsurteil �ber die Natur gef�llt. Allein die Frage seiner Vollstreckung ist bei ihm offen.

Eine Anna Katharina Braun, Rattenforscherin aus Magdeburg, untersucht - hier ganz auf der Roth'schen Linie - , wie "fr�he emotionale Erfahrungen das kindliche Gehirn beeinflussen". (DIE ZEIT 45/2002) Sie wei� - von Rattenversuchen, "die sie nicht ungern auch einmal ihren Mitarbeitern �berl�sst" -, dass "emotionale Vernachl�ssigung das Gehirn nachweisbar ver�ndert" und tr�umt davon, dass man bei "vernachl�ssigten Kindern", die als Erwachsene "psychisch krank werden", "vielleicht doch irgendwann eingreifen und das Gehirn wieder auf normal (?) drehen" kann. Dieses zynische Ideal, das davon ausgeht, am Gehirn unerw�nschte Sozialverhaltensweisen - so hat sie z.B. das ADS (Aufmerksamkeits-Defizit.Syndrom) im Visier - zu korrigieren, die die Forscherin selbst als das Resultat gesellschaftlicher Zerst�rungsprozesse von Familien ausgemacht hat, kann sich durchaus auf Vorbilder aus unverd�chtigen Zeiten und Staaten berufen.

So wurde etwa j�ngst aus Schweden folgendes berichtet: "Gehirnw�sche mit dem Skalpell. Schwedische Homosexuelle und Kommunisten (in den 50ger Jahren) ohne Einwilligung operiert. Am Gehirn eines �berzeugten schwedischen Kommunisten, so berichtet ein Dr,. Rylander, sei - ohne dessen Einwilligung (!) - die Lobotomie durchgef�hrt worden. Danach, so die Mediziner, habe der Mann jegliches Interesse an der Ideologie verloren." (SZ, 8.4.98) Was er sonst noch alles verloren und woran er �berhaupt noch ein Interesse bekundet hat, teilt der Bericht nicht mit. Zwischen dem zitierten Fall und der von G.Roth, Braun u.a. betriebenen und gest�tzten "Hirnforschung" gibt es einen Zusammenhang, eine geistige N�he - die G.Roth deswegen nicht wahrhaben will, weil er sich nur ethisch vertretbare Lobotomie vorstellen will.23 Wie bei G.Roth geht der Fall davon aus, dass der bestimmte - in diesem Fall der politisch ge�chtete Wille - gar nicht Herr seiner selbst ist, der Mensch sich nicht nach Ma�gabe seiner bewussten Urteile seine Zwecke setzt und verfolgt, sondern dass der bestimmte Wille/Geist seine Ursache im Gehirn, als in den nat�rlichen Bedingungen des Geistes hat. Deswegen wird hier der nicht wie gew�nscht funktionierende Wille auf eine Dysfunktion des Gehirns zur�ckgef�hrt. Eine politische Ausgrenzung - Kommunisten sind unerw�nschte, st�rende, zerst�rende Elemente - wird dann per Gewalt, per medizinischem Zwangseingriff vollzogen, weil das unerw�nschte Handeln einer willentlichen Befassung f�r nicht zug�nglich erkl�rt wird. Statt Auseinandersetzung mit der Gesellschaftskritik der Kommunisten wird diese zur Ausgeburt eines kranken Hirns erkl�rt und letzteres operiert. Kommunisten und Homosexuelle leiden an einer Hirndysfunktion, die k�nnen einerseits nichts daf�r, andererseits kann man ihnen aber nicht trauen, wenn sie beteuern, dass sie nur Reformen und freie Sexualit�t wollen etc. Es liegt hier denn auch die Grundlogik jedes rassistischen Denkens, n�mlich die abstruse, widerspr�chliche Annahme eines "nat�rlichen Willens", vor. Die daraus folgende Trennung zwischen dem ge�u�erten Willen, dem nicht zu trauen ist, und dem wahren (nat�rlichen) Willen, den allein der Mediziner/Psychologe kennt, begr�ndet ebenso den Einsatz von Zwangsmitteln wie auch das gute Gewissen, nur einem "Kranken" helfen zu wollen. 24

c. Erneut verh�lt es sich so, dass G.Roth mit diesen Konsequenzen seiner eigenen - falschen - Gedanken mit Sicherheit nichts zu tun haben will. Das mag ihn vielleicht als Moralisten ehren; vorzuwerfen ist ihm allerdings, dass er die Rolle von Wissenschaft im Kapitalismus verkennt. Es trifft eben nicht zu, dass er nicht "verantwortlich" ist f�r das, was mit oder im Namen seiner Forschung angestellt wird. Denn erstens legt er selbst gro�en Wert auf die Anwendbarkeit seiner Ergebnisse. Und da sie nicht auf dem Mond, sondern in jener Gesellschaft Bedeutung erlangen sollen, in der die daf�r n�tige Forschung alimentiert wird, geh�rt es zu seinem Gesch�ft, sich �ber die gesellschaftlichen Zwecke, denen er in aller beteuerten Unschuld geistig zuarbeitet, Klarheit zu verschaffen. Zweitens werden seine Urteile gar nicht missbraucht, wenn sie "zeitgeistgem��" vereinnahmt werden. Deren legitimatorische Verwendung f�r alle m�glichen unappetitlichen Anliegen folgt der Logik dieser Forschungsarbeiten leider v�llig sachgem��. Nur deshalb muss Roth gelegentlich zum Mittel des Dementis greifen. Und drittens schlie�lich sollten auch Geisteswissenschaftler langsam mitgekommen haben, dass in der demokratischen Gesellschaft die Freiheit f�r ihre Forschung deswegen und so eingerichtet ist, dass sie sich nicht in das gesellschaftliche Getriebe einmischen, das nach ganz eigenen Interessen die Produkte freien Forschens auf ihre Brauchbarkeit f�r ideologische und praktische, politische und �konomische Zwecke untersucht, Brauchbares verwendet und Unbrauchbares im "Elfenbeinturm" der Wissenschaft bel�sst. Freiheit der Wissenschaft in der b�rgerlichen Gesellschaft das ist Freiheit der Wissenschaftler von der Zw�ngen materieller Erwerbsarbeit und damit ihre Freiheit f�r nichts als die Konzentration auf ihre Erkenntnist�tigkeit. Ihre Kehrseite besteht in der institutionellen Trennung von allen Interessen, welche die gesellschaftlichen Belange bestimmen. Folglich ist ihre Freiheit in der Forschung umgekehrt die Freiheit der Politik und der Wirtschaft, sich von der Wissenschaft nicht in ihre Belange hineinreden zu lassen. Gerade in der Freiheit der Forschung von jedem politischen Diktat besteht also die Subsumtion der Wissenschaft unter die Zwecke der b�rgerlichen Gesellschaft. Und es sind gerade Roths Beteuerungen, er wolle den Menschen doch letztlich nur helfen, Alzheimer ausrotten und das Lernen (hirngem��) verbessern 25, die dieses Verh�ltnis widerspiegeln. Wer w�rde schon zum Mittel der Beteuerung greifen, dass seine Forschung letztlich humanen Zielen dienen soll, wenn er denn Herr der ideologischen und praktischen Anwendung seiner wissenschaftlichen Arbeit w�re!

 

Thesen zu Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Kap.12: Geist und Gehirn, FaM 1997 26

G.Roth bestreitet die Existenz eines "freien Willens" beim Menschen. Damit meint er nicht, dass unter den herrschenden gesellschaftlichen Verh�ltnissen den Menschen der Inhalt ihres "freien Willens" vorgegeben - wie etwa beim Wunsch, viel Geld zu verdienen - und ihnen zugleich der freie Zugang zum Geld durch die gesch�tzten Eigentumsverh�ltnisse verwehrt wird. Er bestreitet die "Autonomie des menschlichen Handelns" vielmehr unter Verweis auf die Funktionsweise des Gehirns, also der menschlichen Natur. Wir halten diesen Befund f�r unzutreffend und Roths "Beweise" f�r nicht stichhaltig, wir bestreiten die Vernunft des diese Forschung leitenden Interesses und entnehmen den ersten Versuchen, diese These in juristischen (S. 330) oder p�dagogischen Zusammenh�ngen (s.WK 25.1.97; vgl. z.B. auch: B.Otto, Ist Bildung Schicksal?, Weinheim 1995) zur Anwendung zu bringen, eine problematische Sto�richtung.

1. "Ein Fazit aus diesen Untersuchungen und Erkenntnissen k�nnte lauten: Die Autonomie des menschlichen Handelns �st nicht im subjektiv empfundenen Willensakt begr�ndet, sondern in der F�higkeit des Gehirns, aus innerem Antrieb Handlungen durchzuf�hren."(S.310; alle Sperr.i.Orig.)

1.1. Roth stellt das Verh�ltnis von Geist und Gehirn auf den Kopf: Das Handeln des Menschen folgt nicht seinen - wie auch immer beeinflussten - willentlichen Entscheidungen, sondern ist das Resultat eines "inneren Antriebs", der in nat�rlichen Hirnvorg�ngen begr�ndet liegt. Damit ist menschliches Handeln auf Natur-Antrieb reduziert. Doch wei� auch Roth, dass der Mensch ein Bewusstsein von seinem willentlichen Handeln besitzt. Er kann es in der Vorstellung antizipieren, er wei� sein Tun, kann es sp�ter kommentieren oder dar�ber diskutieren. Damit gibt es das willentliche Handeln bei ihm jetzt doppelt und zwar als unmittelbaren Widerspruch: als Resultat eines Hirntriebs und als "subjektiv empfundenen Willensakt", also als Natur und als Geist. Diesen Widerspruch, der keiner der Sache, sondern der Roth'schen Theorie ist, muss er nun irgendwie aufl�sen, wenn er an seiner neurobiologischen Antriebstheorie festhalten will. Denn entweder gilt seine Behauptung von den erstaunlichen F�higkeiten der Naturvorg�nge im Hirn, dann gibt es den bewussten Willensakt nicht. Oder es gibt diesen, dann verh�lt sich das Gehirn dazu aber als blo�e Naturvoraussetzung. Roths "L�sung" besteht darin, dass er Geist mit "Neuronenverb�nden", also mit Natur, identisch macht, und vom willentlichen, bewussten Tun behauptet, dass es sich nur um das subjektive "Erlebnis" des geistigen Vorgangs, nicht aber um diesen selbst handelt:

1.2. Es ist "(im Rahmen einer solchen nicht-reduktionistischen, physikalischen Methodologie) ... m�glich, Geist auf der einen Seite als einen mit physikalischen Methoden fassbaren Zustand anzusehen, der in sehr gro�en interagierenden Neuronenverb�nden auftritt, und auf der anderen Seite zu akzeptieren, dass dieser Zustand "Geist" von uns als v�llig anders erlebt wird. Dies unterscheidet "Geist" aber nicht vom Erleben des Lichtes, der H�rte von Gegenst�nden oder der Musik." (S.302)

Vom Geist, der im Laufe des Zitats Anf�hrungszeichen bekommt, sagt Roth, dass er anders ist, als er erlebt wird - er ist n�mlich ein Zustand von interagierenden Neuronenverb�nden, wird aber erlebt als Gef�hl, Gedanke etc. Ein bestimmter Gedanke, z. B. "G. Roth ist ein anerkannter Neurobiologe", ist also f�r ihn nur das Erlebnis der gleichzeitig messbaren Neuronenaktivit�t. Und weil der Gedanke gleichzeitig als neuronaler Vorgang messbar ist, soll die Neuronenaktivit�t die Wirklichkeit des Geistes sein. Folglich kann, so denkt Roth weiter, weil nun die Neuronenaktivit�t der wirkliche Geist ist, das geistige Erlebnis nur die Einbildung von Geist, also blo� "Geist" - mit Anf�hrungszeichen - sein. Die Beweisf�hrung lebt von einem Fehlschluss: Denn wenn geistige Aktivit�t als Neuronenaktivit�t messbar ist, dann folgt daraus noch lange nicht, dass der Naturvorgang der geistige Prozess ist bzw. den geistigen Prozess hervorbringt; genauso wenig wie ein Spaziergang, der als Folge von Muskelkontraktionen messbar ist, damit schon von diesen Richtung, Tempo und Zweck diktiert bekommt. Roth verwechselt hier als Fan alles Messbaren die Neuronenaktivit�t im Hirn, die die Voraussetzung f�r den geistigen Prozess ist, mit seiner Ursache.

Sein Widerspruch ist nat�rlich dabei nicht verschwunden: Denn der Geist, den man messen will, wird gar nicht als dieser - als Folge von logischen Gedanken (wie dieser Text), als bestimmter Vorstellungsinhalt (wie die Urlaubserinnerung) oder als Gef�hl (z.B. der Abscheu oder der Zuneigung) - erfasst, sondern immer als etwas anderes, als neuronales Geschehen: Was man misst, misst man zugleich nicht! Deswegen muss man den Geistesinhalt, dessen neuronale Aktivit�t man erfassen will, vorher auch immer von der Versuchsperson erfragen. Den Neuronenaktivit�ten ist n�mlich der Inhalt der Geistest�tigkeit nicht anzusehen, ohne eine derartige R�ckversicherung ist ihnen nichts als der biologische Vorgang zu entnehmen. Doch wenn man nur dann wei�, welcher Gedanke oder welches Gef�hl sich als eine bestimmte Neuronenfiguration ereignet, wenn man vorher und getrennt vom Messvorgang die geistige Aktivit�t zur Kenntnis genommen hat, dann ist sie eben weder auf das Nat�rliche zu reduzieren noch ergibt sie sich aus ihm. Kein Neurobiologe wei�, welche geistige Aktivit�t sich als welche Neuronent�tigkeit ereignet, wenn er nicht die geistige Aktivit�t f�r sich zur Kenntnis genommen hat. Und zur Kenntnis nehmen muss er sie als die Wirklichkeit des Geistes, also nicht als dessen subjektive Einbildung, w�sste er doch sonst gar nicht, wof�r der Neuronenkomplex steht. Um seine Theorie zu beweisen, muss Roth also voraussetzen, dass sie nicht stimmt: Er muss dem bewussten Handeln zun�chst Glauben schenken, um dessen neuronales Abbild als die Wirklichkeit des Geistes messen zu k�nnen, von der aus dann anschlie�end die geistige Berufungsinstanz zur Einbildung, zum blo� subjektiven Erlebnis deklariert wird.

1.3. Aber noch in einer weiteren Hinsicht verstrickt sich Roth in einen Widerspruch: Woher hat er eigentlich Kenntnis von Gesetzm��igkeiten bestimmter Naturvorg�nge wie den Neuronen? Seiner Behauptung zufolge, muss er sie von den Neuronen selber haben. Bei ihm fallen Natur und Naturerkenntnis zusammen - einerseits wenigstens. Doch andererseits beruft er sich permanent auf Arbeiten seiner Kollegen, deren Forschungsresultate er z.B. auf logische Konsistenz und Widerspruchsfreiheit �berpr�ft - wie sich das f�r die Sph�re des Theoretischen auch geh�rt - , und die ihm �berhaupt erst das Material liefern, die er anschlie�end zu dieser Ineinssetzung ausdeutet. Immer verstrickt er sich in einunddenselben logischen Zirkel: Er muss den Geist schon unterstellt haben, um ihn dann als Widerschein bzw. Resultat - die ungenaue Begrifflichkeit geh�rt zur Theorie - der Neuronenaktivit�t hervorzuzaubern.

2. Jedoch behauptet Roth, dass dies an seinem Gegenstand l�ge, und verlagert den Widerspruch ins Verh�ltnis von limbischem System und Cortex:

2.1. "Da uns nur Prozesse, die in der Gro�hirnrinde stattfinden, bewusst sind, stammen also wesentliche Anteile unserer Handlungssteuerung aus Teilen unseres Gehirns, die dem Bewusstsein grunds�tzlich unzug�nglich sind. Die Basalganglien selbst h�ngen sehr eng mit dem limbischen System zusammen. Dieses System bewertet (!) - wie wir geh�rt haben - alles, was wir tun (!), danach, ob es g�nstige oder ung�nstige Folgen hatte, Lust oder Schmerz, Befriedigung oder Mi�behagen, Gelingen oder Mi�lingen, und speichert (!) das Resultat dieser Bewertung im Ged�chtnis, das selbst Teil dieses Systems ist. Das Bewertungsged�chtnis, in dem unsere (!) ganze Lebenserfahrung (!) abgelegt ist, steuert (!) unser Verhalten. Es entscheidet (!) unter Ber�cksichtigung der jeweiligen Reize aus der Umwelt und meinem K�rper, was ich im n�chsten Augenblick tue. Dies bedeutet, dass die eigentlichen Antriebe unseres Verhaltens aus den "Tiefen" unserer unbewussten Ged�chtnisinhalte und den damit verbundenen Gef�hlen und Motiven stammen." (S. 306/307)

Das Verh�ltnis von Geist und neuronalem Proze� innerhalb des Gehirns sieht er so: Das limbische System (LS) bewirkt den Geist, insofern es getrennt von Wille und Bewusstsein bewertet und daraufhin den Cortex steuert. Das LS, ein biologisch gefa�ter Ort im Gehirn, wird mit Attributen des Geistes, des Willens, der Moral usw. ausgestattet. Es kennt g�nstig/ung�nstig, Erfolg/Misserfolg etc., also Kategorien, die einen bewusst gesetzten Zweck voraussetzen. (Ob beispielsweise ein erfolgreich durchgef�hrter Bank�berfall g�nstig oder ung�nstig, ein Erfolg oder Misserfolg ist, h�ngt bekanntlich davon ab, man R�uber oder Bankdirektor ist, d.h. davon, ob man mit Geld Gesch�fte machen oder sich Geld mit Gewalt aneignen will.) Zugleich ist es aber das Gegenteil des Bewussten, n�mlich das Unbewusste, dem Bewusstsein nicht Zug�ngliche. Dies wird auch dann nicht logischer, wenn das biologische LS als quasi-geistiges Bewertungsged�chtnis definiert wird. Denn die von Roth gemeinte Bewertung soll getrennt vom bewertenden Subjekt erfolgen, das Erfahrungen bewusst auf eigene Zwecke bezieht.

Dies denkt er sich so zurecht, dass Lust und Unlust, Gelingen und Misslingen quasi als nat�rliche Antriebsenergie wirken, ohne dass die Lust oder Unlust einen Inhalt h�tten. (vgl. S. 311: "...es m�ssen sich spezifische Belohnungsmuster im LS entwickelt haben, welche das Erreichen bestimmter (!) Ziele als sehr lustvoll erscheinen lassen. Dabei ist es v�llig gleichg�ltig (!), welche (!) Ziele das sind...") Erneut steht die Welt auf dem Kopf. Nicht bestimmte Absichten bestimmen das Handeln, dessen Ergebnis anschlie�end auf "Gelingen oder Misslingen" hin beurteilt wird, sondern der Mensch wird zum "Gelingen" - warum dann nicht auch zum "Misslingen"? - getrieben, ohne dass es ihn interessiert, was eigentlich gelingen soll. Sofern er das jedoch gar nicht wei�, ermangelt es ihm auch an Ma�st�ben zur Beurteilung von Erfolg und Misserfolg.

2.2. Inwiefern das LS als Ort im Gehirn Kriterien zur Bewertung besitzen kann, scheint zun�chst unerfindlich zu sein. Doch Roth hat eine L�sung, die plausibel erscheint, aber erneut seine Theorie �ber den Haufen wirft. Das LS soll "unser Tun" bewerten und die Bewertungen in einem Ged�chtnis speichern, �ber das dann eben dieses, "unser Tun" gesteuert wird. Wenn das LS jedoch selbst das System ist, welches das Tun bewertet, dann stellt sich die Frage nach den Ursachen und Kriterien des bewerteten Tuns. Wenn von ihm aber auf der anderen Seite behauptet wird, es leiste die Steuerung nur aufgrund abgespeicherter Verhaltensbewertungen, dann muss Roth erneut voraussetzen, was von ihm mittels der Voraussetzung bestritten wird. Die Vorstellung des Speichers lebt n�mlich davon, dass er Bewertungsma�st�be sammeln muss, weil er von sich aus �ber sie nicht verf�gt. Eine merkw�rdige Instanz, die imstande ist zu bewerten, aber zugleich speichern muss, die als Subjekt ihres Bewertens zugleich Objekt ihrer selbst ist!

2.3. Dass ein Mensch mit ansehnlicher "abgespeicherter Lebenserfahrung" diese vollst�ndig �ber den Haufen wirft, weil ihm gerade eingeleuchtet hat, dass seine bisherigen Bewertungsma�st�be nichts taugen, ist sowieso bei Roth nicht vorgesehen - es sei denn, der Speicher wird bei Tod und Wiedergeburt gel�scht:

"Ged�chtnissystem und Bewertungssystem steuern unser Verhalten in Zusammenarbeit mit dem pr�frontalen Cortex als Zentrum bewusster Handlungsplanung. Alle drei Systeme wirken auf die subcortikalen Zentren [...] ein, die dann die eigentliche Entscheidung treffen [...] Da dies seit unserer Geburt passiert [...], sammelt sich im Ged�chtnis ein ungeheurer Vorrat an Erfahrungen an. Neben den wenigen strikt angeborenen Verhaltensweisen bestimmen diese erfahrungsabh�ngigen (!) Ged�chtnisinhalte unser Verhalten. Entsprechend dieser Erfahrung sind wir (?) dann in der Lage, zum Teil sehr unterschiedlich (!) auf dieselben Umweltereignisse zu reagieren. "(S. 310)

Roth mogelt sich hier dar�ber hinweg, dass die Bewertung von Erfahrungen Ma�st�be voraussetzt, anhand derer bewertet wird, indem er bereits gemachte Erfahrungen als Grundlage der Bewertung darstellt. Doch gilt f�r jede gemachte Erfahrung, f�r die erste wie f�r jede folgende Erfahrung, dass sie vom Subjekt sehr bewusst nach seinen Interessen bewertet wird. Das limbische System soll seine Ma�st�be also - Roths Logik zufolge - aus der bewussten Erfahrung und zugleich nicht aus ihr, sondern aus einem gegen�ber der bewussten Erfahrung verselbst�ndigten Erfahrungsschatz beziehen, der dann wie eine Art nat�rliches Entscheidungsorgan das Handeln lenkt. Dass Menschen "unterschiedlich auf dieselben Umweltereignisse regieren", soll - dem Rothschen Modell zufolge - nicht an der von unterschiedlichen Interessen geleiteten, bewussten Beurteilung bestimmter "Umweltereignisse", sondern daran liegen, dass sich im Menschen mit der Zeit Erfahrungen �ber alles m�gliche abgelagert haben. Wie allerdings ablagerte Erfahrungen �ber Essen und Modestr�mungen, �ber Fortbewegung und Trinken, �ber Familie und Goethe, �ber B�rsen und Gartenarbeit einen Beitrag - beispielsweise - zur Beurteilung faschistischer �bergriffe auf Ausl�nder leisten sollen, bleibt offen.

Das bewusste, gewollte Handeln ist also jenseits des Handelns, d.h. jenseits der f�rs Handeln gewussten Gr�nde durch das LS gesteuert. Was der Sache nach als Hirn und Verstand , als Denken als Inhalt und als Denken als (chemischer) biologischer Vorgang zu unterscheiden und f�r sich Gegenstand von Erkenntnist�tigkeit ist - im Hirn werden Naturgesetzlichkeiten aufgesp�rt, die Verstandesleistungen werden auf Vernunft und Logik hin �berpr�ft - , ist nun als Unterordnung des uneigentlichen (erlebenden, einbildenden) Hirns unter das eigentliche (nicht-erkennbare) Hirn verwandelt. Das Bewusste, der freie Wille, existiert im unbeeinflu�baren LS. Der Geist ist die Illusion des Handlungsantriebs, denn er ist nur die "individuell erlebte" Empfindung der Determiniertheit durchs Gehirn.

3. Ein St�ck Natur stiftet, bewirkt Bewusstseinsinhalte. So wird die Theorie zum wissenschaftlich-methodischen St�tzpfeiler einer Vorstellung, die jedem Rassismus eigent�mlich ist: dass Wille und Bewusstsein ihre Inhalte durch die Natur vorgeschrieben bekommen. Sicherlich will die Theorie von Roth nicht behaupten, dass z.B. Frauen an den Herd geh�ren und Arbeitslose faul sind. Sie ist jedoch - jenseits aller moralisch hochstehenden Absichten des Verfassers - f�r Gedankengut dieser Art eine passende wisssenschaftstheoretische Untermauerung. Denn dass der Wille Naturprodukt ist, dieser Idee wird durch die Theorie Roths Vorschub geleistet - wie dies im Rassismus vom "flei�igen Deutschen", vom "faulen Neger", von "der technisch unbegabten Frau" oder vom "parasit�ren Juden" unterstellt ist, denen nicht der Wille abgesprochen, sondern bei denen ein "eigentlicher Wille", sprich: das, was man mit ihnen anstellen wollte und angestellt hat, als Entsprechung zu ihrem nat�rlichen Wille "entdeckt" worden ist, der dann r�cksichtslos gegen ihren ge�u�erten "uneigentlichen" Willen exekutiert werden konnte. Immer zum Besten der Opfer, versteht sich!

Eine Differenz zur Logik des Rassismus ist jedoch zu beachten. Keine rassistische Legitimation von politisch beschlossenen und gewaltsam durchgesetzten Sortierungsma�nahmen - Inl�nder und Ausl�nder, M�nner und Frauen, Begabte und Unbegabte, Wei�e und Schwarze, Arier und Juden usw. - f�llt auf den Gehalt des Rassismus herein. Sie benutzt ihn nur soweit und setzt ihn in Kraft, wie er politisch oder �konomisch brauchbar ist, und zieht ihn aus dem Verkehr, ersetzt ihn durch einen anderen, wenn er nicht mehr zur politischen Konjunktur passt (vgl. z.B. die offiziellen Urteile �ber Ausl�nder 1960 und 1995 usw.). Roths Theorie behauptet die Existenz des nat�rlichen Willens dagegen zun�chst ganz getrennt von jeder rassistischen Anwendung als naturwissenschaftliche Tatsache. Sie ist bei ihm gar nicht das blo�e Versatzst�ck der ideologischen Durchsetzung von h�chst unfreundlichen politischen Sortierungsanliegen. Roth h�lt vielmehr f�r sich an dem Befund fest und behauptet seine Anwendungsrelevanz. Das hat Konsequenzen.

4. Wovon Roth letztendlich ausgeht, ist damit deutlich geworden. Wer dem Geist und dem Willen jenseits seiner "erlebten" subjektiven �u�erungen auf die Spur kommen m�chte, der misstraut sehr prinzipiell all dem, was Menschen als Begr�ndungen f�r ihre Taten, als Inhalt ihres Interesses, als Motiv ihres Willens von sich geben. Auch der Hinweis von Roth, der Stand der Forschung lasse "eine Art von 'Gedankenlesen'"(S.275) noch nicht zu, verweist auf das Ideal, das hier am Werke ist. Warum f�llt einem Wissenschaftler das Gedankenlesen als ein wissenschaftliches Fernziel �berhaupt ein? Offensichtlich reicht es ihm nicht, die Menschen zu befragen, wenn er ihre Gedanken erfahren will. Er betrachtet jeden ge�u�erten Gedanken mit einer fundamentalen Skepsis. Die bezieht sich nicht auf den Inhalt der Gedanken. Denen steht er von seinem Standpunkt aus gleichg�ltig gegen�ber. Sie lebt von dem Zweifel, ob der "erlebte" Geist der wahre Geist ist, ob nicht die Wahrnehmung vielleicht eine T�uschung und das Urteil ein Irrtum ist. Dieser Standpunkt schlie�t denn auch die Kritik an allen Positionen ein, die sich solchen Selbstzweifel nicht zu Herzen nehmen, sondern einfach auf ihren Gedanken als den ihren, wenn nicht sogar darauf beharren, dass sie auch noch stimmen. Dabei ist Roth selbst bei allen Relativierungen, die er rhetorisch vornimmt, so sehr von seiner Theorie �berzeugt, dass er sie gleich in die zum Skeptizismus geh�rende Moral �bersetzt, die uns Menschen "im Verst�ndnis unseres Platzes in der Natur bescheidener werden lassen" soll. (Vorwort zu: P.M. Churchland, Die Seelenmaschine, 1997, S.3) Diese Moral ist �u�erst zeitgem�� und nicht nur auf das Denken beschr�nkt. Im Verst�ndnis unserer Platzes in der Standortkonkurrenz lautet sie bekanntlich 'Sparen' und 'G�rtel enger schnallen'!

5. Was die Anwendung dieser Theorie betrifft, die Frage, welcher Umgang mit dem Menschen daraus folgt, so erg�be sich daraus eigentlich die Folgerung, dass der Wille des Menschen durch Einwirkung auf seine Natur (= sein Gehirn) zu beeinflussen w�re. Abwegig ist dieser Verdacht keineswegs:

"Das Ich ist ein Gebilde, das entsteht, w�hrend sich das Gehirn und seine Erfahrungswelt entwickeln...Dies hat sehr weitreichende Konsequenzen f�r die Frage, welcher Instanz in uns (!) man "Schuld" zurechnen soll...Es m��te sehr sorgf�ltig diskutiert werden, ob und inwieweit es sowohl bei der Strafe als S�hne wie bei der Strafe als Erziehung zum Besseren einen gro�en Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dies �berhaupt m�glich ist), oder das Gehirn und seinen Organismus als autonomes System." (S. 330/331)

Roth ahnt, dass er gem�� seiner eigenen Theorie 'Schuld' in Anf�hrungszeichen setzen muss. Da er an der Bestrafung festhalten will, fragt er sich, wer eigentlich Adressat der Strafe sein soll; wird das Ich eingesperrt, dann trifft es ja strenggenommen den Falschen. (Vgl. auch:"Die m�gliche Erkenntnis, dass kriminelles Verhalten erfahrungsunabh�ngig, genetisch-hirnorganisch bedingt ist, ..." Vorwort zu: P.M. Churchland, Die Seelenmaschine, 1997, S.3) M�sste man nicht eigentlich das Gehirn bestrafen - doch wie "bestraft" man ein St�ck Natur? Durch physische Einwirkung, also mit Elektroden, Skalpellen oder �hnlichem? Strafe wird damit zum medizinischen Sachverhalt, und mit dem Befund �ber Schuld und Unschuld das Urteil �ber die Natur gef�llt. Es beruhigt keineswegs, dass Roth diese Frage "sorgf�ltig diskutieren" will (S.331). Der Skandal liegt bereits in der Frage: Denn sie l�sst gar nicht erst zu, dass dem Menschen f�r ein staatlich unerw�nschtes Verhalten seine Gr�nde zugebilligt werden. Vielmehr hat man "genetisch-hirnorganische" Deformationen auszumachen und gegebenenfalls operativ zu korrigieren. (Wie beim "S�ureattent�ter"!?, vgl. WK 21.1.98) Und was hei�t das schlie�lich f�r jene Menschen, die sich nicht "nur" eines Diebstahls schuldig gemacht haben, sondern von denen behauptet wird, dass sie als Personen Schuld verk�rpern ( heute "Terroristen", bis vor kurzem "Kommunisten", fr�her "Juden"...)? Au�erdem h�lt Roth offenbar eine Frage auch nicht mehr f�r offen: Dass es n�mlich eine "Instanz in uns" gibt, die quasi eins ist mit jenen staatlichen Regeln und Normen, die als Gesetze �berhaupt erst �ber Schuld und Unschuld befinden. Da Roth nur noch das Problem hat, welche Instanz zu bestrafen ist, kann er offensichtlich mit dem Gedanken von der Nat�rlichkeit der Normen g�ltiger Staatsgewalt gut schlafen.

In p�dagogischer Hinsicht wird er schon konkreter: "So h�lt es der Bremer Wissenschaftler f�r ziemlich aussichtslos, wenn Eltern oder Lehrer bei der Erziehung an die Einsicht (!) von Kindern appellieren. Wichtiger sei es, zu motivieren - und Motivation bedeute nichts anderes, als das Kind in emotionalen Aufruhr (!) zu versetzen." (aus: "Ist der freie Wille eine Illusion ?", Weser Kurier, 25. 1. 97.)

Erziehung hei�t demnach, auf das limbische System einzuwirken, indem man es starken positiven oder negativen Reizen aussetzt. Einem ge�bten P�dagogen fiele in Sachen "emotionaler Aufruhr" sicher so einiges ein, ist er doch in der Maxime, "wer nicht h�ren will, muss f�hlen!", nun h�chst wissenschaftlich ins Recht gesetzt. Mit der Einsicht des Kindes l�sst sich also nicht viel anfangen, man muss sein Gehirn beeinflussen, also Einsicht als Naturvorgang erzeugen, ohne dass das Kind etwas einsieht. Der Wille zum Lernen ergibt sich demzufolge nicht aus dem Interesse am Lernstoff, sondern aus der Disposition der kindlichen Natur. Folglich gilt - dieser Umkehrschluss liegt in der Logik der Sache - der vom Kind ge�u�erte Wille auch nichts, ist er doch nur der empfundene, gar nicht wirkliche und folglich nicht ernst zu nehmende Wille. Und wenn ein Kind in Wort und Tat zu verstehen gibt, dass es "etwas nicht einsieht", dann w�re die Vermittlung von Einsicht wieder nur der R�ckfall in die "verkopfte Erziehung".

Am Ma�stab der Praktikabilit�t sollte man diesen Erziehungsbegriff gar nicht erst messen. Dennoch kann man den Erziehungsratschlag aber auch nicht unn�tz nennen: Immerhin l�sst er sich zur Legitimation von Erziehung als Dressur einsetzen. Die geht beim Menschen zwar nicht, da nun einmal jede p�dagogische Aufforderung zwangsl�ufig den Willen des Kindes anspricht, von diesem beurteilt und vollstreckt oder verweigert wird. Aber dennoch gibt es eine praktische Wahrheit von Dressur. Der wird damit - implizit? - das Wort geredet. Die liegt allein in der dauerhaften Pr�senz der Drohung, den Willen des Kindes zu brechen; was - nebenbei bemerkt - auch immer einen h�bschen "emotionalen Aufruhr" verursacht. Woher die Erwachsenen nun eigentlich die Einsicht besitzen, die dem Kind fehlt, wo sie doch auch nur von ihrem limbischen System gesteuert werden, bleibt weiterhin schleierhaft.

 

 

 

Fussnoten:

1 Der nachfolgende Text stellt die �berarbeitung eines Vortrags dar, den ich auf Einladung des ASTA der Bremer Uni im Jahre 2000 gehalten habe. Grundlage meiner Kritik ist in erster Linie die Publikation von G.Roth "Das Gehirn und seine Wirklichkeit" (FaM 1997). Auf diese Arbeit beziehen sich die Seitenzahlen im Text. Die neuere Arbeit von G.Roth, F�hlen, Denken,Handeln (FaM 2001) ist nicht eingegangen.

 

2 Vgl. z.B. Impulse 2/2000, S.8

 

3 Vgl. dazu auch Teil 4

 

4 Dies Spielchen lie�e sich und m�sste eigentlich unendlich weitergetrieben werden, da jeder noch so methodischen Aussage �ber die Relativierung der Geistest�tigkeit die n�chste zu folgen h�tte - w�rde G. Roth seine Logik auf sich anwenden..

 

5 Streng genommen m�sste man nat�rlich alle Leser und Diskutanten seiner Theorie ebenfalls in diese Ausnahme einbeziehen. Warum sonst sollte Roth wohl sonst seine Thesen einem Publikum erl�utern, um Zustimmung werben und �ber sie streiten wollen.

 

6 Zwar hat er in dieser Fassung das Paradoxon falsch formuliert, denn es geht nicht um die Frage der "Allgemeing�ltigkeit" von Erkenntnis - die, nebenbei bemerkt, ohnehin eine absurde Frage ist, da es immer nur um die Frage der G�ltigkeit/Stimmigkeit bestimmter Erkenntnis gehen, nicht aber um die Frage der Allgemeing�ltigkeit von Erkenntnis �berhaupt -, sondern um die Frage der Erkennbarkeit eines Zusammenhangs, dessen theoretische Unzug�nglichkeit behauptet wird.

 

7 Zur Frage von Plausibilit�t und Konsistenz s. a.das Interview mit B.P�rksen in: ders., Abschied vom Absolurten, Heidelberg 2001, S.139ff

 

8 Auf der Grundlage der Annahme, dass Ausl�nder Parasiten eines jeden Staatswesens sind, ist f�r deren Verwalter der Schluss logisch konsistent, sie aus ihrem Staatswesen zu entfernen. Plausibel ist daran nichts und richtig ist kein Wort.

 

9 �brigens st�rt es ihn nicht im Geringsten, dass er sich damit erneut im vollst�ndigsten Gegensatz zum Gehalt seiner Theorie befindet. Praktische Konsequenzen unterstellen n�mlich nicht nur die geistige Verf�gung �ber den theoretischen Zusammenhang, sondern auch die freie Zuordnung von Mitteln zu praktischen Zwecken.

 

10 Aber Achtung bei Umkehrung: Hellwachsein produziert nicht schlaue Gedanken - es ist dieser Zustand eben nur die Voraussetzung und nicht die Garantie bzw. der Grund f�r schlaue Gedanken.

 

11 Hinweise, wie da vorzugehen ist, und wichtige Resultate sind bei Hegel nachzulesen (Enzyklop�die III).

 

12 Dass es in den Geisteswissenschaften leider allzu �blich ist, unterschiedliche Bestimmungen beliebig auszutauschen, aus Grundlagen Gr�nde zu machen, in unbestimmten Zusammenh�ngen unter der Hand bestimmte, z.B. urs�chliche zu entdecken, geometrische Gr��en als logische zu behaupten usw. stimmt. Der geschulte Philosoph G.Roth sollte sich so etwas eigentlich nicht durchgehen lassen. In dem Interview mit B.P�rksen findet sich dieselbe "Ungenauigkeit". Da hei�t es in verbl�ffender Offenheit einmal: Es "wei� gegenw�rtig noch niemand, wie sich aus den Prozessen im Gehirn das Geistige bildet." (S.163) Dann wiederum ist er sich sicher, "dass alles, was ich wahrnehme, von einem Gehirn konstruiert wird" (S.144). Um kurz danach zu beteuern: "Die enge Korrespondenz zwischen Hirnprozessen und dem Ph�nomen des Geistes entspricht aber keineswegs der These, Geist und Bewu�tsein seien nichts anderes als feuernde Nervenzellen. Das w�rde ich niemals sagen. Eine enge Korrelation zwischen dem Neuronalen und dem Mentalen bedeutet keine Identit�t, auch wenn die neuronale Aktivit�t unzweifelhaft eine notwendige Bedingung f�r Geistes- und Bewusstseinszust�nde darstellt." (S.159) Schlu�endlich hei�t es dann wieder: Ich "zeige, dass Geistiges aufs Engste mit physiologischen Prozessen zusammenh�ngt."(S.164, Sperr.FH) Was denn nun? Enge Korrelation oder enge Korrespondenz, Nichtidentit�t, notwendige Bedingung oder aufs Engste - oder: Wir haben noch keine Ahnung. Aber so geht es eben zu, wenn "niemand gegenw�rtig (etwas) wei�", aber dennoch an der konstruktivistischen Weltsicht unbedingt festgehalten werden soll.

 

13 Dass Hirnforscher diesen Zusammenhang durchaus auch anders betrachten, lie� sich einem Bericht �ber die Tagung der International Society of Developmental Neuroscience vom August 2000 in der Faz (9.8.00) entnehmen. V�llig selbstverst�ndlich hei�t es dort: "Als Plastizit�t bezeichnen Neurobiologen jene erstaunliche Wandlungsf�higkeit des Gehirns, die unter anderem das Lernen erm�glicht (!). Als physiologische Grundlage (!) gilt ein als Langzeitpotenzierung bezeichnetes Ph�nomen...."

 

14 Es soll nicht bestritten werden, dass die diesbez�gliche Forschung dereinst so weit sein wird, dass sie einer bestimmten Neuronenaktivit�t einen bestimmten geistigen Prozess zuordnen kann, ohne ihn vorher zu erfragen. Doch folgt auch daraus nicht, dass ersterer der Grund f�r letzteren ist - zumal der Forschungsgang, der vielleicht dereinst das genannte Ergebnis bringt, immer von einer vorab gekl�rten Zuordnung von geistigem Tun zu neuronaler Aktivit�t ausgehen muss.

 

15 �brigens k�nnte man an der Stelle auch einmal ungekehrt fragen, wof�r es denn wohl spricht, wenn das �berzeugen funktioniert!

 

16 Auch dies ist bereits ein verr�terischer, rein dem Behaviorismus entlehnter Begriff! Welches Verhalten soll denn und vor allem wie ver�ndert werden? Der P�dagoge idealisiert sich hier als Sozialtechniker.

 

17 Vgl. dazu das Adriano-Urteil. (in: F.Huisken, Brandstifter als Feuerwehr: Die Rechtsextremismus-Kampagne, HH 2001, S.49ff)

 

18 So der ehemalige Kanzler H.Schmidt in einem Vortrag anl�sslich einer Feierstunde an der Hamburger Universit�t. (vgl. HAB, 9.11.95)

 

19 Aus der Mitschrift eines Streitgespr�chs �ber das Thema: "Vermiest Schule das Lernen? vom 18.11.02 in der Bremer B�rgerschaft

 

20 Einige von ihnen wenden ihren Schulfrust sogar gegen sich selbst, andere ihn gegen die Lehrer oder Mitsch�ler,

 

21 Wie allerdings fehlendes Wissen f�r dieses, seit 50 Jahren funktionierende Schulsystem verantwortlich sein kann, ist ein weiteres R�tsel, das uns G.Roth aufgibt..

 

22 G.Roth, Einleitung zu: P.M.Churchland, Die Seelenmaschine, 1977

 

23 Mit der sonst �blichen Floskel, dass so etwas selbstredend nur mit dem Einverst�ndnis des "Patienten" durchgef�hrt w�rde, t�te sich Roth nat�rlich schwer - wo unsere Willensfreiheit doch nur eingebildet ist.

 

24 Vgl. zur Rassismus-Affinit�t auch These 3 im nachfolgenden Thesenpapier.

 

25 Dass bei der Pr�sentation der N�tzlichkeit dieser Forschung immer Krankheiten wie z.B. Schizophrenie und Alzheimer in einem Atemzug der L�sung gesellschaftlicher Probleme genannt werden, k�nnte schlussendlich noch einmal stutzig machen. Denn deutlicher l��t sich die Verwechslung von physiologischer Dysfunktion des Hirns und sozialen, politischen oder p�dagogischen Problemen, die mittels Eingriff ins oder Zugriff aufs physiologisch funktionierende Gehirn angegangen werden sollen, kaum vorf�hren. F�r den Hirnforscher f�llt eben beides unter Dysfunktion der Hirnt�tigkeit - der Alzheimer-Patient, der lernunwillige Sch�ler oder der Kommunist.

 

26 Die nachfolgenden Thesen sind das Produkt von Lehrveranstaltungen �ber Konstruktivismus und "Geist und Gehirn". Die Thesen lagen auch einer Debatte zugrunde, die mit G.Roth gef�hrt wurde. Der vorstehende ausf�hrliche Vortragstext von mir ist sp�ter entstanden. Inhaltliche �berschneidungen sind deswegen kein Zufall.