Aus Sebatsiona Haffner: "Geschichte eines Deutschen - Die Erinnerungen 1914-1933", DTV 2002
”... Neulich, als irgendein anderer - eigentlich sogar ein netter Kamerad sonst - mit Bezug auf den Reichstagsbrandproze� gesagt hatte (er hatte es ganz gem�tlich und sogar gutm�tig gesagt): �Gott, ich glaube ja nicht, da� sie's gewesen sind. Aber was kommt's darauf gro� an? Zeugen genug sind ja da, die sie belasten. Also immer Kopf ab. Auf ein paar mehr oder weniger kommt's nicht an.�
Darauf kann man nichts sagen. Darauf gibts nichts. Darauf kann man nur ein Beil nehmen und dem, der es sagt, den Sch�del einschlagen. Genau das, ja, genau das. Aber ich und ein Beil nehmen? Und �brigens, der Mann, der es gesagt hat, ist sonst ganz nett. Neulich, als mir nachts schlecht wurde, ist er freiwillig aufgestanden und hat mich zur Latrine gebracht und mir einen Bademantel umgeh�ngt. Ich kann ihm doch nicht den Sch�del einschlagen ... Und wer wei�, ob er es �privat� und �eigentlich� �berhaupt meint? Vielleicht ist ihm nur die Zunge ausgerutscht ... So etwas sagen, wie er es tut, und es schweigend anh�ren, wie ich es tue, ist da schon ein gro�er Unterschied? Es ist fast dasselbe ...
Ich suchte mir wieder eine andere Lage, und der Gedanke verschob sich ein bi�chen: Und es tun? ja, da f�ngt der entscheidende Unterschied an ... W�rde irgendeiner von uns, w�rde ich einen Ausweg finden, wenn man jetzt pl�tzlich Taten von uns verlangte? Wenn jetzt doch noch pl�tzlich der Krieg ausbr�che und wir w�rden, so wie wir hier sind, ins Feld geschickt und sollten schie�en - f�r Hitler... Nun? W�rdest du dein Gewehr wegschmei�en und �berlaufen? Oder auf deinen Nebenmann schie�en? Der dir gestern beim Gewehrputzen geholfen hat? Nun? Nun???
Ich st�hnte und versuchte nun mit Gewalt, nicht mehr weiterzudenken. Ich merkte, ich sa� mit meinem ganzen Ich in der Falle. Ich h�tte nie ins Lager gehen d�rfen. jetzt sa� ich in der Falle der Kameradschaft.
Am Tage hatte man keine Zeit zum Denken und keine Gelegenheit, �ich� zu sein. Am Tage war die Kameradschaft ein Gl�ck. Ganz ohne Zweifel: Es bl�ht eine Art Gl�ck in solchen �Lagern�, eben das Gl�ck der Kameradschaft. Es war ein Gl�ck, morgens miteinander im Gel�nde zu laufen, miteinander splitternackt unter den warmen Brausen im Dusehraum zu stehen, miteinander die Pakete zu teilen, die bald der, bald jener von zu Hause geschickt bekam, miteinander die Verantwortung zu teilen f�r irgend etwas, was der oder jener ausgefressen hatte, einander in tausend Kleinigkeiten zu helfen und beizustehen, einander in allen Angelegenheiten des Tagesbetriebes unbedingt zu vertrauen, knabenhafte Schlachten, Raufereien miteinander zu haben, sich gar nicht voneinander zu unterscheiden, in einem gro�en, sanft und sicher tragenden Strom von Vertrauen und rauher Vertrautheit zu schwimmen ... Wer will leugnen, da� alles das Gl�ck ist? Wer will leugnen, da� im menschlichen Charakter etwas ist, das gerade hiernach verlangt und das im normalen, friedlichen, zivilen Leben selten zu seinem Recht kommt?
Ich jedenfalls will es gewi� nicht leugnen. Und doch wei� ich und behaupte mit aller Sch�rfe, da� gerade dieses Gl�ck, gerade diese Kameradschaft eins der furchtbarsten Mittel der Entmenschung werden kann - und in der Hand der Nazis geworden ist. Es ist das gro�e Lockmittel, der gro�e K�der der Nazis. Sie haben die Deutschen mit diesem Kameradschafts-Alkohol, nach dem irgend etwas in ihnen verlangte, bis zum Delirium trernens �berschwemmt. Sie haben die Deutschen �berall zu Kameraden gemacht und sie vom miderstandslosesten Alter an an dieses Rauschmittel gew�hnt: in der Hitler-Jugend, der SA, der Reichswehr, in tausend Lagern und B�nden - und sie haben ihnen dabei etwas ausgetrieben, was unersetzlich und mit keinem Gl�ck der Kameradschaft zu bezahlen ist.
Kameradschaft geh�rt zum Krieg. Wie Alkohol ist sie eins der gro�en Trost- und Hilfsmittel f�r Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen zu leben haben. Sie macht Unertr�gliches ertr�glich. Sie hilft, Tod, Schmutz und Jammer zu �berstehen. Sie bet�ubt. Sie tr�stet �ber den Verlust aller Zivilisationsg�ter hinweg, den sie voraussetzt. Sie empf�ngt ihre Heiligung durch furchtbare Notwendigkeiten und bittere Opfer. Wo sie von alledem getrennt wird, wo sie nur um des Genusses und der Bet�ubung m41len, um ihrer selbst willen, gesucht und veranstaltet wird, wird sie zum Laster. Da� sie eine Weile gl�cklich macht, �ndert daran nicht das geringste. Sie verdirbt und depraviert den Menschen wie kein Alkohol und kein Opium. Sie macht ihn unf�hig zum eigenen, verantwortlichen, zivilisierten Leben. ja, sie ist recht eigentlich ein Dezivilisationsmittel. Die allgemeine Kameradschafts-Hurerei, zu der die Nazis die Deutschen verf�hrt haben, hat dieses Volk heruntergebracht wie nichts anderes.
Man �bersehe nicht, auf welch furchtbar zentralen Stellen die Kameradschaft als Gift wirkt. (Noch einmal: Gifte k�nnen gl�cklich machen, Leib und Seele k�nnen nach Giften verlangen, und Gifte k�nnen an ihrem Ort heilsam und unentbehrlich sein. Deswegen bleiben sie doch Gifte.)
Die Kameradschaft, um das Zentralste voranzustellen, beseitigt v�llig das Gef�hl der Selbstverantwortung, so im b�rgerlichen Sinne, und, schlimmer, im religi�sen. Der Mensch, der in der Kameradschaft lebt, ist jeder Sorge f�r die Existenz, jeder H�rte des Lebenskampfs �berhoben. Er hat sein Lager in der Kaserne, er hat sein Essen und seine Uniform. Sein Tageslauf ist ihm von Stunde zu Stunde vorgeschrieben. Er braucht sich nicht die kleinste Sorge zu machen. Er steht nicht mehr unter dem harten Gesetz: �jeder f�r sich�, sondern unter dem gener�s-weichen: �Alle f�r einen�. Es ist eine der unangenehmsten L�gen, da� die Gesetze der Kameradschaft h�rter seien als die des individuellen b�rgerlichen Lebens. Sie sind vielmehr von geradezu erschlaffender Weichlichkeit und sie rechtfertigen sich nur f�r Soldaten im wirklichen Kriege, f�r den Mann, der zu sterben hat: Das Pathos des Todes allein erlaubt und ertr�gt diese ungeheuerliche Dispensierung von der Lebensverantwortung. Und man wei�, wie unf�hig selbst tapfere Krieger, die zu lange auf dem weichen Kissen der Kameradschaft gelebt haben, sp�ter oft sind, sich Meder in die H�rte des b�rgerlichen Lebens zu finden.
Viel schlimmer ist, da� Kameradschaft dem Menschen auch die Verantwortung f�r sich selbst und vor Gott und seinem GemAsseri abnimmt, Er tut, was alle tun. Er hat keine Wahl. Er hat keine Zeit. Nachzudenken (- es sei denn, wenn er ungl�cklichenveise allein aufwacht -). Sein Gewissen sind die Kameraden und es erteilt ihm Absolution f�r alles, solange er tut, was alle tun.
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Wenn wir - Referendare immerhin, Akademiker mit intellektueller Schulung, angehende Richter und gem�� nicht durch die Bank Schw�chlinge ohne �berzeugungen und ohne Charakter - in J�terbog binnen wenigen Wochen zu einer minderwertigen, gedankenlos-leichtfertigen Masse geworden waren, in der Ausspr�che wie die angef�hrten �ber Paris oder die Reichstagsbrand-Angeklagten allt�glich waren, unwidersprochen blieben und das geistige Niveau bezeichneten, dann waren wie dies durch Kameradschaft geworden. Denn Kameradschaft bedeutet unvermeidlich Fixierung des geistigen Niveaus auf der niedrigsten, dem letzten noch gerade mal zug�nglichen Stufe. Sie ertr�gt keine Diskussion; Diskussion nimmt in der chemischen L�sung Kameradschaft sofort die Farbe der Quengelei und St�nkerei an und ist eine Tods�nde. In der Kameradschaft gedeihen keine Gedanken, sondern nur Massenvorstellungen primitivster Art - und sie wieder unentrinnbar; wer sich ihnen entziehen will, w�rde sich au�erhalb der Kameradschaft stellen. Wie ich die Vorstellungen wiedererkannte, die unsere Lagerkameradschaft nach wenigen Wochen absolut und unentrinn-bar beherrschten! Es waren nicht eigentlich die amtlichen Nazikonzeptionen - und es waren doch die Nazikonzeptionen. Es waren die Vorstellungen, die unter uns Kindern in den Weltkriegsjahren geherrscht hatten, die Vorstellungen des Rennbundes Altpreu�en und der Sportelubs aus der Stresemannzeit. Ein paar Spezifika der Nazi-Weltanschauung hatten noch nicht recht Wurzel geschlagen. �Wir� waren z. B. nicht eigentlich virulent antisemitisch. Aber �wir� waren auch nicht bereit, uns hierauf zu versteifen. Kleinigkeiten; wer w�rde sich dadurch st�ren lassen. �Wir� waren ein Kollektivwesen, und mit der ganzen intellektuellen Feigheit und Verlogenheit des Kollektivwesens ignorierten oder bagatellisierten wir instinktiv alles, was unsere kollektive Selbstzufriedenheit h�tte st�ren k�nnen ... Ein Deutsches Reich im kleinen.
Es war auff�llig, wie die Kameradschaft alle Elemente von Individualit�t und Zivilisation aktiv zersetzte. Das wichtigste Gebiet des individuellen Lebens, das sich nicht ohne weiteres in die Kameradschaft einordnen l��t, ist die Liebe. Nun, die Kameradschaft hat ihre Waffe dagegen: die Zote. jeden Abend im Bett, nach der letzten Ronde, wurden mit einer Art von Rituell, Zoten gerissen. Das geh�rt zum eisernen Programm jeder M�nnerkameradschaft. Und nichts ist abwegiger als die Meinung mancher Autoren, die darin einen Ausweg unbefriedigter Sexualit�t, eine Ersatzbefriedigung und was nicht noch alles sehen wollen. Diese Zoten wirkten nicht etwa anregend und l�stern; sie kamen im Gegenteil darauf hinaus, die Liebe so unappetitlich wie m�glich zu machen, sie in die N�he der Verdauung zu r�cken und eben einen Gegenstand des Gel�chters aus ihr zu machen. Die M�nner, die hier Wirtinnenverse rezitierten und rauhe Worte f�r weibliche K�rperteile benutzten, verleugneten eben damit, da� sie je z�rtlich, verliebt, inst�ndig gewesen waren, daf3 sie sich je sch�n und liebe-nsw�rdig gemacht hatten und f�r dieselben K�rperteile sehr s��e Worte gebraucht hatten ... Sie waren rauh erhaben �ber derartige zivilistische S��igkeiten.
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Dies f�hrt bereits hin�ber zu gewissen blutig-finsteren Urbr�uchen der Kameradschaft, die nicht fehlen durften. Wer sich gegen die Kameradschaft vers�ndigte, wer insbesondere den Jeinen Pinkel� markierte, �angab� und mehr Individualit�t herauslie�, als die Kameradschaft gestattete, verfiel der Feme und n�chtlichen K�i-perstrafen. Unter die Pumpe geschleift zu werden war das Ma� f�r kleine S�nden. Als aber einer �berf�hrt wurde, sich bei der Verteilung der Butterrationen - die �brigens damals noch durchaus ausreichend waren - selbst bevorzugt zu haben, erging ein furchtbares Femegericht gegen ihn. D�ster wurde die anzuwendende Prozedur in seiner Abwesenheit durchberaten; eine schw�le Hinrichtungsspannung herrschte abends in den Betten, als die Ronde vorbei war. Selbst die rituellerweise vorgetragenen Wirtinnenverse wurden nicht recht belacht. �Meier�, ert�nte dann pl�tzlich furchtbar grollend die Stimme des selbsternannten Femerichters, �wir haben mit dir zu reden!� Aber ehe viel aus dem Reden geworden war, war der Ungl�ckliche bereits aus dem Bett gezerrt und �ber einen Tisch gespannt. �Jeder versetzt Meier einen Schlap, donnerte die Stimme des Femerichters, �keiner schlie�t sich aus�, und von drau�en h�rte ich die Schl�ge klatschen. Ich habe mich n�mlich doch ausgeschlossen. Ich hatte scherzhaft behauptet, ich k�nne kein Blut sehen, und man hatte mir gn�dig gestattet, Schmiere zu stehen. Der Gepr�gelte f�gte sich in sein Los. Eine Anzeige h�tte ihm nach gewissen finsteren Kameradschaftsgesetzen, die wir alle wie eine Wolke, d�ster und au�erhalb unseres Willens, �ber uns lasten f�hlten, wirldich in Lebensgefahr gebracht. Irgendwie wuchs �brigens Gras dar�ber, und der Gez�chtigte bewegte sich nach ein paar Tagen wieder verh�ltnism��ig harmlos in unserer Mitte, ohne in seiner Ehre und W�rde gesch�digt zu sein. Auch die Gesetze der Ehre und W�rde waren der chemischen �tzl�sung �Kameradschaft� durchaus nicht gewachsen ...
Man sieht, sie ist etwas recht D�monisches, recht abgr�ndig Gef�hrliches, die vielgepriesene, harmlose, sch�ne M�nnerkameradschaft. Die Nazis wu�ten schon, was sie taten, indem sie sie als normale Lebensform �ber ein ganzes Volk verh�ngten ' . Und die Deutschen, mit ihrer g,eringen Begabung zum individuellen Leben und zum individuellen Gl�ck waren so schrecklich bereit, sie anzunehmen, so willig und gierig, die zarten, hochwachsenden, aromatischen Fr�chte der gef�hrlichen Freiheit gegen die bequem zur Hand h�ngende, �ppige, saftig-quellende Rauschfrucht einer allgemeinen, wahllosen, gemein machenden Kameradschaft zu tauschen ...
Man sagt, die Deutschen seien geknechtet. Das ist nur halb richtig. Sie sind zugleich etwas anderes - schlimmeres - wof�r es noch kein Wort gibt. Sie sind verkameradet. Ein schrecklich gef�hrlicher Zustand. Man ist unter einem Zauber dabei. Man lebt in einer Traum- und Rauschwelt. Man ist so gl�cklich darin und dabei so furchtbar entwertet. So zufrieden mit sich, und dabei so grenzenlos h��lich. So stolz, und so �beraus gemein und untermenschlich. Man glaubt auf Gipfeln zu wandeln und man kriecht im Sumpf. Solange der Bann anh�lt, gibt es fast kein Mittel dagegen." (S.277ff)