Aus: "Niemand kann seinem Schicksal entgehen .." Alibri-Verlag 2004
Neue Lebensformen
Die meisten Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil relativ einig. Die gegenw�rtigen gesellschaftlichen Umbr�che gehen ans �Eingemachte� in der �konomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identit�t der Subjekte. In Frage stehen zentrale Pr�missen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche, die Burkart Lutz schon 1984 als den �kurzen Traum immerw�hrender Prosperit�t� bezeichnete.
Welche gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen pr�gen heute die gesellschaftlichen Lebensformen der Menschen? Sie lassen sich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends h�ngen zusammen. In dem Ma�e, wie sich Menschen herausl�sen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein St�ck eigenes Leben gestalten k�nnen, aber auch m�ssen, w�chst die Zahl m�glicher Lebensformen und wachsen die m�glichen Vorstellungen von Normalit�t und Identit�t. Peter Berger spricht vom �explosiven Pluralismus� (14): �Die Moderne bedeutet f�r das Leben des Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung. (�) Aufs Ganze gesehen gilt (�), dass das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur ausw�hlen kann, sondern dass es ausw�hlen muss. Da es immer weniger Selbstverst�ndlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltens- und Denkmuster zur�ckgreifen, sondern muss sich nolens volens f�r die eine oder andere M�glichkeit entscheiden. (�) Sein Leben wird ebenso zu einem Projekt � genauer, zu einer Serie von Projekten � wie seine Weltanschauung und seine Identit�t.� (15)
Unsere Vorstellungen vom �guten Leben�, also unsere zentralen normativen Bezugspunkte f�r unsere Lebensf�hrung, haben sich in den letzten 30 Jahren grundlegend ver�ndert: �Dieser Wertewandel musste sich in Form der Abwertung des Wertekorsetts einer (von der Entwicklung l�ngst ad acta gelegten) religi�s gest�tzten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtsgesellschaft vollziehen: Abgewertet und fast bedeutungslos geworden sind �Tugenden� wie �Gehorsam und Unterordnung�, �Bescheidenheit und Zur�ckhaltung�, �Einf�hlung und Anpassung� und �fester Glauben an Gott.�� (16)
Von diesem Wertewandel sind zentrale Bereiche unseres Lebens betroffen. Wenn Familie zum Thema wird, dann scheinen alle zu wissen, wovon die Rede ist, und doch kann das nicht mehr ein gemeinsam geteilter Bestand sein. Auch die Werte, W�nsche und Bed�rfnisse, die mit Familie verkoppelt sind, haben sich im Zuge des Wertewandels ver�ndert. Familie ist am besten als prozesshaftes Geschehen zur Herstellung von allt�glichem Vertrauen, von Sicherheit, Verl�sslichkeit und Intimit�t zu verstehen. Es ist ein aktiver Herstellungsprozess, der im Ergebnis zu h�chst unterschiedlichen L�sungen f�hren kann, und er ist permanent, d.h. immer wieder erneuer- und ver�nderbar. Familie ist kein Besitz, sondern ein gemeinsames Handlungssystem der beteiligten Personen, das sich st�ndig neu organisieren muss.
Der Wertewandel vollzieht sich nicht als eine kollektive Formierung, sondern er findet in einer chaotischen Vielfalt einfach statt. Er wird teilweise als Chance zur Selbstgestaltung begriffen, kann aber auch Widerst�nde ausl�sen, die sich in einem Festhalten am immer schon Gehabten ausdr�cken k�nnen. Insofern ist der Wertewandel in seiner �Ungleichzeitigkeit� auch Ausdruck der Pluralisierung.
Die empirisch erhobene Milieuvielfalt zeigt anschaulich, was mit dem Schlagwort von der Pluralisierung eigentlich gemeint ist: eine schier un�bersichtliche Vielfalt von Vorstellungen vom guten und richtigen Leben mit der zwangsl�ufigen Folge, dass es die W�chter allgemein verbindlicher Normen f�r die individuelle Lebensgestaltung nicht mehr schaffen, Geh�r zu finden. Es scheint so, als habe eine Botschaft der Aufkl�rung ihr Ziel erreicht: Das �Ideal der Authentizit�t�, das von Herder in klassischer Weise so formuliert wurde: �Jeder Mensch hat ein eigenes Ma߫, also �seine eigene Weise des Menschseins�. (17)
Der globalisierte Kapitalismus entfaltet sich als �Netzwerkgesellschaft�, die sich als Verkn�pfung von technologischen und �konomischen Prozessen erweist. Dies zeigt vor allem Manuel Castells auf. Er hat in einer gro� angelegten Analyse die gesellschaftlichen Transformationen der Weltgesellschaft in den Blick genommen. (18) Er r�ckt die elektronischen Kommunikationsm�glichkeiten ins Zentrum seiner Globalisierungstheorie. Sie h�tten zum Entstehen einer �network society� (so der Titel des ersten Bandes seiner Trilogie) gef�hrt, die weltweit gespannte Kapitalverflechtungen und Produktionsprozesse erm�glichen w�rde und kulturelle Codes und Werte globalisiert. Die Konsequenzen der Netzwerkgesellschaft �breiten sich �ber den gesamten Bereich der menschlichen Aktivit�t aus, und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben�. (19)
Dieser neue Kapitalismus greift unmittelbar in die Lebensgestaltung der Subjekte ein. Auch die biografischen Ordnungsmuster erfahren eine reale Dekonstruktion. Am deutlichsten wird das in Erfahrungen der Arbeitswelt. Einer von drei Besch�ftigten in den USA hat mit seiner gegenw�rtigen T�tigkeit weniger als ein Jahr in der Firma verbracht, in der er derzeit arbeitet. Zwei von drei Besch�ftigten sind in ihren aktuellen Jobs weniger als f�nf Jahre besch�ftigt. Vor 20 Jahren waren in Gro�britannien 80 Prozent der beruflichen T�tigkeiten vom 40-zu-40-Typus (eine 40-Stunden-Woche �ber 40 Berufsjahre hinweg). Heute geh�ren nur noch 30 Prozent zu diesem Typus.
In seinem Buch �Der flexible Mensch� liefert Richard Sennett eine Analyse der gegenw�rtigen Ver�nderungen in der Arbeitswelt. (20) Der �Neue Kapitalismus� �berschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich f�r die Besch�ftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle ist die Erfahrung einer �Drift� getreten: von einer �langfristigen Ordnung� zu einem �neuen Regime kurzfristiger Zeit�. Hier stellt sich die Frage, wie �berhaupt noch Identifikationen, Loyalit�ten und Verpflichtungen auf bestimmte Ziele entstehen sollen.
Sennett hat erhebliche Zweifel, ob der flexible Mensch menschenm�glich ist. Die wachsende Gemeinschaftssehnsucht interpretiert er als regressive Bewegung, eine �Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung� hochzuziehen. �Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die St�rkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde. All die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens beleben und verst�rken diese Sehnsucht: die Ungewissheiten der Flexibilit�t; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberfl�chlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenw�rtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts �aus sich machen zu k�nnen�, das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identit�t zu erlangen. All diese Bedingungen treiben die Menschen dazu, woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen�.
Was uns Sennett mit besorgter Grundhaltung vermittelt, wird von anderen Gegenwartsdeutern lockerer genommen und als Chance f�r die �fitten Subjekte� gesehen. Neue normative Modelle entstehen, an deren Etablierung sich auch Sozialwissenschaftler beteiligen. Ernest Gellner hat diesen �neuen Menschen� als den �modularen Menschen� beschrieben. Er greift damit auf eine Metapher aus der M�belindustrie zur�ck. Der modulare Mensch mit seiner Ikea-Identit�t ist kein stabiler Charakter, sondern stellt ein �Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualit�ten dar�. (21) Es zeichnet sich jener Menschentypus ab, der in einer �Netzwerk-Gesellschaft� funktional ist.
Eines ist klar: Die beschriebenen gesellschaftlichen Ver�nderungen greifen in unser Leben ein, und sie ver�ndern unsere Vorstellungen von Normalit�t und das darauf bezogene psychosoziale Handeln.
Die neuen Identit�ten
Diese Dynamik hat Auswirkungen auf Menschenbilder und ihre orientierende Kraft f�r die Subjekte, aber auch f�r die Psychotherapie und ihre Vorstellungen vom Menschen. Der diagnostizierte Verlust der Glaubw�rdigkeit der gro�en alteurop�ischen �Meta-Erz�hlungen� (22) hat nicht zu einer �tabula rasa� gef�hrt, sondern es gibt eine F�lle von Ersatznarrationen. Identit�t k�nnte man als erz�hlende Antworten auf die Frage �Wer bin ich?� verstehen. In diesen Antworten wird subjektiver Sinn in Bezug auf die eigene Person konstruiert. Doch wir sind nicht nur Autoren unserer Erz�hlungen, sondern wir finden kulturelle Texte immer schon vor, Lebensskripte, in die wir unsere pers�nlichen Erz�hlungen einschreiben. Psychotherapie ist auch ein Markt solcher Identit�tserz�hlungen, die den Subjekten Pl�tze und Optionsr�ume f�r ihre Selbstverortung anbieten.
Man kann f�nf Typen von Identit�tserz�hlungen unterscheiden, die in ihrer jeweiligen Spezifik auf die Krise der Moderne antworten. (23) Erstens: Der �proteische Typus� sieht in der Erosion moderner Lebensgeh�use die gro�e Chance f�r den Einzelnen, sich flexibel und mobil in immer neuen Gestalten verwirklichen k�nnen. Er vertritt einen neoliberalen Freiheitsmythos. Zweitens: Der �fundamentalistische Typus� lehnt all das ab, was f�r den ersten Typus als �Freiheitsgewinn� verbucht wird, und verspricht die unverr�ckbaren Behausungen, in denen man sein gesichertes Identit�tsfundament finden k�nne. Hier wird in Gestalt des Angebots von �unverr�ckbaren Ordnungen� ein Skript geboten, das sich jeder historisch-kulturellen Reflexivit�t entzieht. Drittens: Der �reflexiv-kommunit�re Typus�, f�r den der gegenw�rtig wirksame Individualisierungsschub und Entbettungsprozess Anlass f�r die F�rderung von posttraditionalen Einbindungen darstellt, in denen Menschen sich selbstbestimmt vernetzen und dadurch kollektive Handlungs- und Gestaltungsressourcen schaffen. Viertens: Der �Typus Selbstsorge�, der sich den heimlichen Fesseln der allgegenw�rtigen �Pastoralm�chte� entzieht und in Empowermentprozessen Eigensinn und Selbstbem�chtigung zu entwickeln versucht. F�nftens: Der �Typus �besch�digtes Leben��, der gegen�ber allen vier auf positive Ver�nderungsm�glichkeiten setzenden Typen auf der provokanten Gegenposition beharrt: �Es gibt kein richtiges Leben im falschen.�
Hellinger repr�sentiert f�r mich den Typus des �fundamentalistischen Selbst�, aber zugleich ist er keine Kopie vergangener Zeiten. Er stellt f�r mich den C. G. Jung der Postmoderne dar. Wie dieser formuliert er unhintergehbare Wahrheiten, die durch keine historischen Dynamiken relativiert werden k�nnen. Doch er liefert sie in einer schnell konsumierbaren Nescaf�-Version. Bei Jung ist das alles aufw�ndiger.
Die Gef�hrlichkeit der Unterstellung solcher ewigen �Wahrheiten� hat schon sehr fr�h John Rittmeister kritisiert. (24) Er war Mitglied der Widerstandsgruppe �Rote Kapelle�, stand als einer der wenigen Psychoanalytiker im aktiven Widerstand gegen das NS-Regime und verlor dabei sein Leben. Zun�chst war er Jungs Sch�ler. Doch in seinem Engagement gegen ein menschenfeindliches Regime sah er die gef�hrlichen Mystizismen Jungs immer deutlicher. 1936 spricht er von �dem Hochmut � esoterischer Ideenschau� auf die �eigenm�chtig-pr�existenten, idealen Wesenheiten�. Der Patient der Jungschen Therapie sei, so Rittmeister, �gew�hnlich ganz vollgesaugt und aufgebl�ht mit mythologischen Fantasiegestalten, aber am Ende (wird er) doch ganz klein vor den Allgewalten der kollektiv-unbewussten Sph�re, um schlie�lich vor der Arch�ologie ganzer Jahrtausende auf die Knie zu sinken�.
Bei Jung wie bei Hellinger wird das �leere Selbst� mit �Wahrheiten�, mit zeitlos g�ltigen Geschichten, angef�llt. Diese brauchen sich nicht in der komplizierten realen Welt zu bew�hren und ermutigen nicht dazu, sich mit ihr auseinanderzusetzen und die je eigene Geschichte zu erz�hlen.
Gek. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: AStA der Uni M�nchen (Hrsg.): �Niemand kann seinem Schicksal entgehen�� Kritik an Weltbild und Methode des Bert Hellinger. Alibri, Neuauflage Juni 2004. 165 S., 11 Euro
Anmerkungen:
(1) Hellinger, Bert: Das Judentum in unserer Seele. Was Juden und Christen vers�hnt. In: Das Virtuelle Hellinger Institut (DVBHI), www.hellinger.com/ deutsch/virtuelles_institut/bert_hellinger/vortraege/judentum_in_unserer_Seele.shtml (1. Nov. 2003).
(2) Ebenda, S. 10.
(3) Vgl. Haug, Wolfgang F.: Kritik der Waren�sthetik. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1971.
(4) Vgl. Steinkamp, Hermann: Die sanfte Macht der Hirten. Matthias-Gr�newald. Mainz 1999.
(5) Vgl. Interview Bert Hellingers mit Psychologie heute, Juni 1995, S. 22-26.
(6) Hellinger, Bert: Das Familien-Stellen in Bewegung. In: DVBHI, www.hellinger.com /deutsch/virtuelles_institut/ grundlagen_voraussetzungen/familien_stellen_in_bewegung.shtml, S. 1 (1. Nov. 2003).
(7) Hellinger, Bert / ten H�vel, Gabriele: Anerkennen, was ist. K�sel. M�nchen 1996, S. 82
(8) Hellinger, Bert: Das Familien-Stellen in Bewegung, S. 1 und 3
(9) Krause, Kordula: Ich stelle meine Familie � in mein Herz. In: Venus. Mai 2002, S. 4. Zit. nach: DVBHI, www.hellinger.com/ deutsch/oeffentlich/ medienecho/ venus_mai 2002.shtml (1. Nov. 2003).
(10) Ebenda, S. 8.
(11) Alle Zitate Hellinger, Bert: Die Kraft der Feinde. In: DVBHI, www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/ kontroversen/kraft_der_feinde. shtml (1. Nov. 2003).
(12) Zit. in: Krause, Ich stelle meine Familie � in mein Herz, S. 8.
(13) Hellinger, Bert: Die Mitte f�hlt sich leicht an. K�sel. M�nchen 1996, S. 136.
(14) Berger, Peter L.: Sehnsucht nach Sinn. Campus Frankfurt 1994, S. 83.
(15) Ebenda, S. 95.
(16) Gensicke, Thomas: Wertewandel und Familie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/1994, S. 36-47.
(17) Vgl. Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt: Suhrkamp 1995, S. 38.
(18) Castells, Manuel: Das Informationszeitalter. 3 B�nde. Leverkusen: Leske+ Budrich 2001.
(19) Castells, Manuel: Informatisierte Stadt und soziale Bewegungen. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Die Zukunft des St�dtischen. Campus. Frankfurt 1991, S. 137-147, hier S. 138.
(20) Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Berlin Verlag. Berlin 1998.
(21) Bauman, Zygmunt: In search of politics. Stanford California Press. Stanford 1999, S. 158.
(22) Lyotard, Jean-Fran�ois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. B�hlau. Wien 1986.
(23) Vgl. Keupp, Heiner: Braucht eine Gesellschaft der Ichlinge Psychotherapie? In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 34 (2002), i.E.
(24) Rittmeister, John F.: Die psychotherapeutische Aufgabe und der neue Humanismus. In: Psychiatrische en Neurologische Bladen Nr. 5 (1936), S. 777-796. Hier zit. nach: Psyche, 22 (1968), S. 934-953.
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