Siehe

Zum Thema siehe auch  => Religion  => Masse



Aus Elias Canette: Masse und Macht (Fischer Taschenbuch Verlag 1997)

"Zähmung der Massen in den Weltreligionen

Religionen mit universalem Anspruch, die anerkannt worden sind, verändern sehr bald den Akzent ihrer Werbung. Anfangs ist es ihnen darum zu tun, alle zu erreichen und zu gewinnen, die zu erreichen und zu gewinnen sind. Die Masse, die ihnen vorschwebt, ist universal; es kommt auf jede einzelne Seele an und jede Seele soll die ihre werden. Aber der Kampf, den sie zu bestehen haben, führt allmählich zu einer Art von verborgenem Respekt für die Gegner, deren Institutionen bereits vorhanden sind. Sie sehen, wie schwer es ist, sich zu halten. Institutionen, die ihnen Solidarität und Bestand gewähren, erscheinen ihnen immer wichtiger. Durch die ihrer Gegner angeregt, tun sie alles dazu, selber welche einzuführen; und wenn es ihnen gelingt, werden diese mit der Zeit zur Hauptsache. Das Eigengewicht der Institutionen, die dann ein Leben für sich haben, zähmt allmählich die Wucht der ursprünglichen Werbung. Kirchen werden so gebaut, daß sie die Gläubigen aufnehmen, die bereits da sind. Man vergrößert sie mit Zurückhaltung und Bedacht, wenn ein Bedarf danach wirklich vorhanden ist. Es ist eine starke Tendenz da, die vorhandenen Gläubigen in separaten Einheiten zusammenzufassen. Gerade weil es nun viele geworder sind, ist die Neigung zum Zerfall sehr groß und eine Gefahr, det man immer entgegenarbeiten muß.

Ein Gefühl für die Tücken der Masse liegt den historischen Weltreligionen sozusagen im Blut. Ihre eigenen Traditionen, die verbindlichen Charakter haben, belehren sie darüber, wie plötzlich und unerwartet sie gewachsen sind. Ihre Geschichten von Massenbekehrungen erscheinen ihnen wunderbar, und sie sind es. In den Abfallsbewegungen, die die Kirchen fürchten und verfolgen, richtet sich dieselbe Art von Wunder gegen sie, und die Verletzungen, die ihnen so am eigenen Leibe zugefügt werden, sind schmerzlich und unvergeßlich. Beides, das rapide Wachstum in ihrer Frühzeit und die nicht weniger rapiden Abfälle später, erhalten ihr Mißtrauen gegen die Masse immer am Leben. Was sie sich wünschen, ist im Gegensatz zu dieser eine folgsame Herde. Es ist üblich, die Gläubigen als Schafe zu betrachten und für ihren Gehorsam zu loben. Auf die wesentliche Tendenz der Masse, nämlich zu raschem Wachstum, verzichten sie ganz. Sie begnügen sich mit einer zeitweiligen Fiktion von Gleichheit unter den Gläubigen, die aber nie zu streng durchgeführt wird; mit einer bestimmten Dichte, die in gemäßigten Grenzen gehalten wird, und einer starken Richtung. Das Ziel setzen sie gern in eine sehr weite Ferne, ein Jenseits, in das man gar nicht gleich hineinkommen soll, da man noch lebt, und das man sich durch viel Bemühungen und Unterwerfungen verdienen muß. Die Richtung wird allmählich das wichtigste. Je ferner das Ziel, um so mehr hat es Aussicht auf Bestand. An die Stelle jenes anderen, scheinbar unerläßlichen Prinzips des Wachstums wird etwas davon ganz Verschiedenes gesetzt: die Wiederholung.

In bestimmten Räumen, zu bestimmten Zeiten werden die Gläubigen versammelt und durch immer gleiche Verrichtungen in einen gemilderten Massenzustand versetzt, der sie beeindruckt, ohne gefährlich zu werden, und an den sie sich gewöhnen. Das Gefühl ihrer Einheit wird ihnen dosiert verabreicht. Von der Richtigkeit dieser Dosierung hängt der Bestand der Kirche ab.

Wo immer Menschen sich an dieses präzis wiederholte und präzis begrenzte Erlebnis in ihren Kirchen oder Tempeln gewöhnt haben, können sie es nicht mehr entbehren. Sie sind darauf angewiesen wie auf Nahrung und alles, was sonst ihr Dasein ausmacht. Ein plötzliches Verbot ihres Kultes, die Unterdrückung ihrer Religion durch ein staatliches Edikt, kann nicht ohne Folgen bleiben. Die Störung ihres sorgfältig ausba-lancierten Massen-Haushalts muß nach einiger Zeit zum Aus-bruch einer offenen Masse führen. Diese hat dann alle elementa-ren Eigenschaften, die man kennt. Sie greift rapid um sich. Sie führt eine wirkliche statt der fiktiven Gleichheit durch. Sie holt sich neue und jetzt viel intensivere Dichten. Sie gibt, für den Augenblick, jenes ferne und schwer erreichbare Ziel, zu dem sie erzogen war, auf und setzt sich eines hier, in der unmittelbaren Umgebung dieses konkreten Lebens. Alle plötzlich verbotenen Religionen rächen sich durch eine Art von Verweltlichung: In einem Ausbruch von großer und unerwarteter Wildheit ändert sich der Charakter ihres Glaubens vollkommen, ohne daß sie die Natur dieser Änderung selber verstehen. Sie halten es für den alten Glauben und meinen, nur an ihren tiefsten Ü'berzeugungen festzuhalten. Aber in Wirklichkeit sind sie plötzlich ganz andere geworden, mit einem akuten und singulären Gefühl von der offenen Masse, die sie jetzt bilden und aus der sie um keinen Preis herausfallen wollen." (S. 24-26)