Schritt f�r Schritt ins Paradies
Eine kritische Theorieskizze der Praxis
Das Zusammenfallen des �ndern[s] der Umst�nde und der menschlichen T�tigkeit oder Selbstver�nderung kann nur als revolution�re Praxis gefa�t und rationell verstanden werden. [Karl Marx: Thesen �ber Feuerbach]
1. Die Entwicklung einer neuen sozialen Praxis ist ein Prozess
Menschen sind soziale Wesen. Deshalb gibt es auch immer irgendeine Form der Vergesellschaftung des Menschen. Die zentrale Frage ist, ob es eine herrschaftsf�rmige, fremdbestimmte Form ist oder eine emanzipatorische, selbstbestimmte Form. Der �bergang von einer Form zur anderen erfolgt nicht pl�tzlich oder sprunghaft, sondern in einem langfristigen Prozess. Die alten Formen und ihre Widerspr�che (m�nnlich - weiblich, Lohnarbeit - Hausarbeit, Wert - Gebrauchswert, inl�ndisch - ausl�ndisch) werden in diesem Prozess nicht etwa einseitig zugunsten des bislang Unterdr�ckten aufgel�st, sondern zu einer qualitativ neuen Form sozialer Praxis hin aufgehoben. So sollte z.B. mit der Abschaffung des Patriarchats, keine "weibliche" Welt entstehen, sondern eine menschliche.
2. Aneignungsbewegungen als Motor der Ver�nderung
Getragen wird dieser Prozess emanzipatorischer Transformation von den sozialen Aneignungsbewegungen. Schon in der alten Gesellschaft bilden sich die Formen einer neuen sozialen Praxis heraus. Sie wachsen, werden breiter wahrgenommen und �bernehmen Funktionen im alten System, die von diesem nicht mehr geleistet werden (k�nnen). Schlie�lich �bernehmen sie eine wichtige Rolle, werden hegemonial und transformieren somit das alte Gesamtsystem in etwas Neues.
3. Die Vielfalt der Aneignungsbewegung
Fabrik- und Landbesetzungen in S�damerika, freie Software, Gratis�konomie, Umsonstl�den, undoing gender, Autonomie der Migration - die sozialen Aneignungsbewegungen umfassen einen weiten Bereich politischer Aktivit�ten. Ganz grunds�tzlich lassen sich zwei verschiedene Typen innerhalb dieser Bewegungen unterscheiden. Zum einen gibt es Zusammenh�nge, in denen es um die Aneignung von Identit�tsbildungs- und Kommunikationsprozessen im weiteren Sinne geht. Diese k�nnen spontan entstehen oder auch institutionalisiert werden. Diese Zusammenh�nge wollen wir "Emanzipatorische Subjektivierungs-Plattformen" nennen . Zum anderen gibt es Prozesse der kollektiven Aneignung von materiellen und immateriellen (Re-) Produktionssph�ren. Diese wollen wir "Emanzipatorische Keimformen" nennen.
4. Ansatzpunkte f�r Keimformen
F�r den Aufbau von Keimformen scheint f�r uns hier ein der kapitalistischen Entwicklung entgegengesetztes Vorgehen sinnvoll: W�hrend der Kapitalismus sich von den Grundstoffindustrien immer weiter in die menschliche Reproduktion eingegraben hat, so hat seine Aufhebung genau am anderen Ende anzusetzen. Am Anfang einer Aufhebungsbewegung steht also der Versuch, Dienstleistungen nicht-marktvermittelt im Rahmen freier Kooperationen zu organisieren. Die Frage nach kostenlosem Wohnen k�nnte im Rahmen einer neuen Squatting -Praxis angegangen werden. Kostenlose Friseur-Dienstleistungen lie�en sich ebenso relativ leicht au�erhalb kapitalistischer Logik aufbauen wie Umsonstl�den, Umsonstkneipen oder NutzerInnen-Gemeinschaften. So k�nnen Schritt f�r Schritt Felder freier Kooperation entstehen
5. Notwendigkeit und Wirkung von Vernetzung
In dem Ma�e, wie sich diese neuen Keimformen ausbreiten und dann in dezentralen regionalen oder globalen Netzwerken miteinander kommunizieren, werden Erfahrungen f�r ein selbstorganisiertes Miteinander gewonnen und die Organisationsstrukturen trag- und ausbauf�higer. Somit er�ffnen sich M�glichkeiten, weitere Schritte zu gehen und tiefergehende Bereiche aus der kapitalistischen Reproduktion heraus zu l�sen. Am Ende des Aufhebungsprozesses st�nde dann die Integration der Produktion technologischer Ger�te sowie die F�rderung von Naturressourcen (Bergbau, Stahl, High-Tech-Industrie).
6. Freie Kooperation als Basis des Zusammenlebens
Innerhalb dieser Felder kooperieren die Menschen auf freier und gleicher Ebene miteinander. Wichtig dabei scheint uns derzeit, dass an den zu treffenden Entscheidungen alle beteiligt werden, dass alle Regeln und Entscheidungen stets hinterfragbar sind und alle Beteiligten auf vergleichbare Art und Weise auf die anstehenden Entscheidungen Einfluss nehmen k�nnen.
7. Grenzen und M�glichkeiten technischer Errungenschaften
Die vorhandenen technologischen M�glichkeiten sind dabei weder per se zu verdammen noch grunds�tzlich heilig zu sprechen. Vielmehr gilt es, von Fall zu Fall zu pr�fen, in wie weit sie sich mit einer selbstorganisierten, dezentralen und herrschaftsfreien sozialen Praxis vertragen. Bei vielen Produkten wie etwa aus den Bereichen der Solarenergie oder der Computertechnologie scheinen die Potentiale f�r eine neue soziale Praxis grunds�tzlich gegeben. Sie sind kleinr�umig einsetzbar und k�nnen mit vergleichsweise geringen technischen Kenntnissen bedient werden.
8. Ressourcenbeschaffung - ein Problem!
Ein wichtiger Punkt ist die Frage der Ressourcenbeschaffung. Dinge, die nicht-kapitalistisch genutzt werden sollen, m�ssen zuvor aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess herausgezogen werden. Hierzu bedarf es noch gemeinsamer �berlegungen und deren praktischer Erprobung.
9. Sozialen Druck vermeiden!
Ebenfalls bedarf es zur Erfolg versprechenden Realisierung dieser �berlegungen eine lebensweltlichen Wirksamkeit der Aneignungsbewegungen. Von Einzelnen zu verlangen, sie sollten Dienstleistungen kostenlos anbieten, solange diese nicht auf solidarische Strukturen zur�ckgreifen k�nnen, f�hrt zu deren weiteren Verarmung, da es dem berechtigten Interesse auf Gelderwerb zum Zwecke der eigenen (kapitalistischen) Reproduktion entgegensteht.
10. Das Leben als Lern- und Kampfprozess
Durch die neue soziale Praxis dieser Transformationsbewegung bek�me das, was wir unter einem sch�neren leben verstehen, endlich ein Gesicht und w�rde f�r die Menschen greifbarer. Es w�re ganz praktisch m�glich, in einem gemeinsamen Lern- und Kampfprozess Menschen von den Ideen herrschaftsfreien Zusammenlebens zu �berzeugen und es gleichzeitig mit ihnen zu praktizieren.
Zusammenfassung
Aneignungsbewegungen unterschiedlichster Couleur machen sich auf, die hiesige, herrschaftsf�rmige Gesellschaft emanzipatorisch zu ver�ndern. Daran sind sowohl die Subjektivierungs-Plattformen als auch die Keimformen beteiligt. Alle diese Strukturen sind kollektiv, weil es sich um Versuche handelt, gemeinsam etwas zu Verbessern. Sie sind reflexiv, weil sie sich und ihre Praxis reflektieren und in einem gemeinsamen Lernprozess stetig ver�ndern. Sie haben eine Au�enwirkung, weil sie versuchen, auch Menschen au�erhalb der Bewegungen von ihren Ideen zu �berzeugen. Sie vernetzen sich, da sie ihre Ziele mit anderen gemeinsam besser umsetzen k�nnen. Sie sind nicht nur als Negation auf das Alte gerichtet, sondern bauen positiv am Neuen. Und sie organisieren sich selbst nach den Regeln der freien Kooperation. F�r die Keimformen gilt dar�ber hinaus, dass sie versuchen, die (Re-) Produktion aus dem Kapitalismus herauszul�sen und dabei sowohl die Wertf�rmigkeit als auch die Trennung der Unterschiedlichen Sph�ren. (Hausarbeit - Lohnarbeit) aufzuheben.
Mai 2004 AG Keimformen zum BUKO 27 bei Sch�ner Leben G�ttingen