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VIII. KAPITEL

Weltgang und Verklärung der "kritischen Kritik"
oder "die kritische Kritik" als Rudolph, Fürst von Geroldstein

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Rudolph, Fürst von Geroldstein, büßt in seinem Weltgang ein doppeltes Vergehen, sein persönliches Vergehen und das Vergehen der kritischen Kritik. Er selbst hat im eifrigen Zwiegespräch das Schwert auf seinen Vater gezückt, die kritische Kritik hat im eifrigen Zwiegespräch sich zu sündlichen Affekten gegen die Masse hinreißen lassen. Die kritische Kritik hat nicht ein einziges Geheimnis enthüllt. Rudolph tut dafür Buße und enthüllt alle Geheimnisse.

Rudolph ist, wie Herr Szeliga berichtet, der erste Diener des Staats der Menschheit. (Humanitätsstaat des Schwaben Egidius. Siehe "Konstitutionelle Jahrbücher" von Dr. Karl Weil, 1844, 2. Band.)

Damit die Welt nicht untergehe, müssen nach Herrn Szeligas Behauptung die

"Männer der rücksichtslosen Kritik auftreten ... Rudolph ist ein solcher Mann ... Rudolph faßt den Gedanken reiner Kritik. Und dieser Gedanke ist fruchtbringender für ihn und die Menschheit als alle Erfahrungen, welche diese in ihrer Geschichte gemacht, als alles Wissen, das Rudolph aus dieser Geschichte, geleitet selbst von dem treusten Lehrer, sich hat aneignen können ... Das unparteiische Gericht, mit welchem Rudolph seinen Weltgang verewigt, ist in der Tat nichts anderes als die Enthüllung der Geheimnisse der Gesellschaft."
Er ist "das enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse".

Rudolph hat über unendlich mehr äußere Mittel zu gebieten als die übrigen Männer der kritischen Kritik. Sie vertröstet sich:

"Unerreichbar sind für den weniger von dem Geschick Begünstigten Rudolphs Resultate (!), nicht unerreichbar das schöne Ziel (!)."

Die Kritik überläßt es daher dem von dem Geschick begünstigten Rudolph, ihre eignen Gedanken zu verwirklichen. Sie singt ihm zu:

Hahnemann,
Geh du voran,
Du hast die großen Wasserstiefel an!

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Begleiten wir Rudolph auf seinem kritischen Weltgang, der "fruchtbringender für die Menschheit ist als alle Erfahrungen, welche die Menschheit in ihrer Geschichte gemacht hat, als alles Wissen" etc., der zweimal die Welt vor dem Untergehn rettet.

1. Kritische Verwandlung eines Metzgers in einen Hund oder der Chourineur

Chourineur <Messerheld> - Spitzname, den er als ehemaliger Bagnosträfling erhalten hatte> war von Haus aus ein Metzger. Verschiedene Kollisionen machen den gewaltsamen Naturmenschen zum Mörder. Rudolph findet ihn zufällig, als er eben die Fleur de Marie mißhandelt. Rudolph versetzt dem gewandten Raufbold einige meisterhafte, imponierende Faustschläge auf das Haupt. Rudolph erwirbt dadurch Chourineurs Achtung. Später in der Verbrecherkneipe äußert sich Chourineurs gutherziges Temperament. Rudolph sagt ihm: "Du hast noch Herz und Ehre." Er flößt ihm durch diese Worte Achtung vor sich selbst ein. Chourineur ist gebessert, oder, wie Herr Szeliga sagt, in ein "moralisches Wesen" umgewandelt. Rudolph nimmt ihn unter seine Protektion. Folgen wir dem von Rudolph geleiteten Bildungsgang Chourineurs.

1. Stadium. Der erste Unterricht, den Chourineur erhält, ist ein Unterricht in der Heuchelei, Treulosigkeit, Heimtücke und Verstellung. Rudolph benutzt den moralisierten Chourineur ganz in derselben Weise, wie Vidocq die von ihm moralisierten Verbrecher benutzte, d.h. er macht ihn zum Mouchard <Polizeispion> und Agent provocateur. Er gibt ihm den Rat, sich bei dem maître d'école <Schulmeister> das "Ansehen zu geben", als habe er seine "Prinzipien, nicht zu stehlen", verändert, dem maître d'école eine Diebesexpedition vorzuschlagen und ihn dadurch in eine von Rudolph gestellte Falle zu locken. Chourineur hat das Gefühl, daß man ihn zu einer "Farce" mißbrauchen will. Er protestiert gegen die Anmutung, die Rolle des Mouchard und Agent provocateur zu spielen. Rudolph überzeugt den naturwüchsigen Menschen leicht durch die "reine" Kasuistik der kritischen Kritik, daß ein schlechter Streich kein schlechter Streich ist, wenn er aus "guten, moralischen" Gründen verübt wird. Chourineur lockt als Agent provocateur unter dem Schein der Kameradschaft und des Vertrauens seinen ehemaligen Gefährten ins Verderben. Zum ersten Male in seinem Leben begeht er eine Infamie.

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 2. Stadium. Wir finden den Chourineur wieder als garde-malade <Krankenwärter> Rudolphs, den er aus einer Lebensgefahr errettet hat.

Chourineur ist ein so anständiges moralisches Wesen geworden, daß er den Vorschlag des Negerarztes David, sich auf den Fußboden zu setzen, ablehnt, aus Furcht, den Teppich zu beschmutzen. Ja, er ist zu schüchtern, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Erst setzt er den Stuhl auf den Rücken und dann sich selbst auf die Vorderfüße des Stuhls. Er verfehlt nicht, sich jedesmal zu entschuldigen, sobald er Herrn Rudolph, den er aus Todesgefahr errettet, seinen "Freund" oder Monsieur <Herr> statt Monseigneur <gnädiger Herr> anredet.

Bewundernswürdige Dressur des rücksichtslosen Naturmenschen! Chourineur spricht das innerste Geheimnis seiner kritischen Verwandlung aus, wenn er dem Rudolph gesteht, für ihn dasselbe Attachement zu fühlen, welches ein Bulldogge für seinen Herrn empfindet. "Je me sens pour vous, comme qui dirait l'attachement d'un bouledogue pour son maître." <"Ich fühle für Sie so etwas wie die Anhänglichkeit einer Bulldogge an ihren Herrn."> Der ehemalige Metzger ist in einen Hund verwandelt. Von nun an werden sich alle seine Tugenden in die Tugend des Hundes, in das reine "divauement" <"Aufopferung"> für seinen Herrn auflösen. Seine Selbständigkeit, seine Individualität werden vollständig verschwinden. Wie aber schlechte Maler ihrem Gemälde einen Zettel in den Mund legen müssen, um zu sagen, was es bedeuten soll, so wird Eugen Sue dem "bouledogue" Chourineur einen Zettel in den Mund legen, der fortwährend beteuert: "Die beiden Worte: Du hast Herz und Ehre, haben mich zum Menschen gemacht." Chourineur wird bis zu seinem letzten Atemzug nicht in seiner menschlichen Individualität, sondern in diesem Zettel das Motiv seiner Handlungen finden. Als Probe seiner moralischen Besserung wird er über seine eigne Vortrefflichkeit und über die Schlechtigkeit anderer Individuen vielfach reflektieren, und sooft er mit moralischen Redensarten um sich wirft, wird ihm Rudolph sagen: "Ich höre dich gern so sprechen." Chourineur ist kein gewöhnlicher, sondern ein moralischer Bulldogge geworden.

3. Stadium. Wir haben schon den spießbürgerlichen Anstand, der an die Stelle der rohen, aber kühnen Ungeniertheit Chourineurs getreten ist, bewundert. Wir erfahren nun, daß er, wie es einem "moralischen Wesen" geziemt, auch den Gang und die Haltung des Spießbürgers sich angeeignet hat.

"A le voir marcher - on l'eût pris pour le bourgeois le plus inoffensif du monde." <"Wer ihn so gesehen - hätte ihn für den unschuldigsten Bürger von der Welt halten müssen.">

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Noch trauriger wie diese Form ist der Gehalt, den Rudolph seinem kritisch reformierten Leben gibt. Er schickt ihn nach Afrika, um als "ein lebendiges und heilsames Exempel der Reue der ungläubigen Welt zum Schauspiel zu dienen". Nicht seine eigne menschliche Natur hat er von nun an darzustellen, sondern ein christliches Dogma.

4. Stadium. Die kritisch-moralische Umwandlung hat den Chourineur zu einem stillen, vorsichtigen Mann gemacht, der sein Betragen nach den Regeln der Furcht und Lebensklugheit einrichtet.

"Le chourineur", berichtet Murph, dessen indiskrete Einfalt beständig aus der Schule plaudert, "n'a pas dit un mot de l'exécution du maître d'école, de pour de se trouver compromis."
<"Der Chourineur hat kein Wort von der Bestrafung des Schulmeisters gesagt, aus Furcht, sich zu kompromittieren.">

Chourineur weiß also, daß die Exekution des maître d'école eine rechtswidrige Handlung war. Er plaudert sie nicht aus, aus Furcht, sich zu kompromittieren. Weiser Chourineur!

5. Stadium. Chourineur hat seine moralische Bildung so weit vollendet, daß er sein hündisches Verhältnis zu Rudolph unter einer zivilisierten Form - sich zum Bewußtsein bringt. Er sagt zu Germain, nachdem er ihn aus einer Todesgefahr errettet hat:

"Ich habe einen Protektor, der für mich dasselbe ist, was Gott für die Priester - es ist um sich auf die Knie vor ihm zu werfen."

Und in Gedanken liegt er vor seinem Gott auf den Knien.

"Herr Rudolph", fährt er zu Germain fort, "beschützt Sie. Ich sage Herr, aber ich müßte sagen gnädiger Herr. Doch ich habe die Gewohnheit, ihn Herr Rudolph zu und er erlaubt es mir."

"Herrliches Erwachen und Erblühen!" ruft Szeliga im kritischen Entzücken aus!

6, Stadium. Chourineur beendigt würdig seine Laufbahn des reinen dévouement, des moralischen Bulldoggentums, indem er sich schließlich für seinen gnädigen Herrn totstechen läßt. Im Augenblick, wo das Skelett den Prinzen mit seinem Messer bedroht, hält Chourineur den Arm des Mörders auf. Skelett durchsticht ihn. Der sterbende Chourineur aber sagt zu Rudolph:

"Ich hatte recht zu sagen, daß ein Stück Erde" (ein Bulldogge) "wie ich manchmal großen gnädigen Herrn wie Ihnen nützlich sein könne."

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Dieser hündischen Äußerung, welche den ganzem kritischen Lebenslauf Chourineurs in ein Epigramm zusammenfaßt, fügt der Zettel in seinem Munde hinzu:

"Wir sind quitt, Herr Rudolph. Sie haben mir gesagt, daß ich Herz und Ehre hätte."

Herr Szeliga schreit aus vollen Leibeskräften:

"Welch ein Verdienst erwirbt sich Rudolph damit, den 'Schurimann' (?) der Menschheit (?) zurückgegeben zu haben!"

2. Enthüllung des Geheimnisses der kritischen Religion
oder Fleur de Marie

a) Die spekulative "Marien-Blume"

Noch ein Wort über die spekulative "Marien-Blume" des Herrn Szeliga, ehe wir zu der Fleur de Marie des Eugen Sue übergehen.

Die spekulative "Marien-Blume" ist vor allem eine Berichtigung. Der Leser könnte nämlich aus der Konstruktion des Herrn Szeliga schließen, Eugen Sue habe

"die Darstellung der objektiven Grundlage" (des "Weltzustandes") "von der Entwicklung der handelnden individuellen Kräfte, welche nur aus jenem Hintergrund begriffen werden können, getrennt."

Außer der Aufgabe, diese irrtümliche, durch Herrn Szeligas Darstellung erzeugte Vermutung des Lesers zu berichtigen, hat Marien-Blume auch noch einen metaphysischen Beruf in unserm, nämlich Herrn Szeligas, "Epos".

"Weltzustand und epische Begebenheit würden auch noch nicht zu einem wahrhaft einigen Ganzen künstlerisch verbunden sein, wenn sie nur in einem bunten Gemisch durcheinanderkreuzten, bald hier ein Stück Weltzustand, und wieder dort eine Szene Handlung miteinander abwechselten. Soll wirkliche Einheit entstehen, so müssen beide, die Geheimnisse dieser befangenen Welt und die Klarheit, Offenheit und Sicherheit, mit welcher Rudolph in sie eindringt und sie enthüllt, in einem Individuum zusammenstoßen ... Marien-Blume hat diese Aufgabe."

Herr Szeliga konstruiert Marien-Blume nach der Analogie der Bauerschen Konstruktion der Mutter Gottes.

Auf der einen Seite steht das "Göttliche" (Rudolph), "dem alle Macht und Freiheit" zugeschrieben wird, das allein tätige Prinzip. Auf der andern Seite steht der passive "Weltzustand" und die ihm angehörigen Menschen. Der Weltzustand ist der "Boden des Wirklichen". Soll dieser nun nicht "ganz

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verlassen" oder "der letzte Rest des Naturzustandes nicht aufgehoben" werden, soll die Welt selbst an dem "Prinzip der Entwicklung", das Rudolph ihr über in sich konzentriert, noch einigen Anteil haben, soll "das Menschliche" nicht als schlechthin unfrei und untätig dargestellt werden", so muß Herr Szeliga dem "Widerspruch des religiösen Bewußtseins" anheimfallen. Obgleich er den Weltzustand und seine Tätigkeit als den Dualismus einer toten Masse und der Kritik (Rudolphs) auseinanderreißt, muß er dennoch dem Weltzustand und der Masse wieder einige Attribute der Göttlichkeit zugestehen und in der Marien-Blume die spekulative Einheit beider, Rudolphs und der Welt, konstruieren. (Siehe "Kritik der Synoptiker", Band 1, p. 39.)

Außer den wirklichen Beziehungen, in welchen der Hausbesitzer (die handelnde "individuelle Kraft") zu seinem Hause (der "objektiven Grundlage") steht, bedarf die mystische Spekulation, auch die spekulative Ästhetik, noch einer dritten konkreten, spekulativen Einheit, eines Subjekt-Objekts, welches das Haus und der Hausbesitzer in einer Person ist. Weil die Spekulation die natürlichen Vermittlungen in ihrer breiten Umständlichkeit nicht liebt, so sieht sie nicht ein, daß dasselbe "Stück Weltzustand", das Haus z.B., welches für den einen, z.B. für den Hausbesitzer, eine "objektive Grundlage" ist, für den andern, den Baumeister des Hauses z.B., eine "epische Begebenheit" ist. Die kritische Kritik, welche der "romantischen Kunst" das "Dogma der Einheit" zum Vorwurf macht, setzt, um ein "wahrhaft einiges Ganze", um eine "wirkliche Einheit" zu erhalten, an die Stelle des natürlichen und menschlichen Zusammenhangs zwischen Weltzustand und Weltbegebenheit einen phantastischen Zusammenhang, ein mystisches Subjekt-Objekt, wie Hegel an die Stelle des wirklichen Zusammenhangs von Mensch und Natur ein absolutes Subjekt-Objekt, das die ganze Natur und die ganze Menschheit auf einmal ist, den absoluten Geist, setzt.

In der kritischen Marien-Blume wird "die allgemeine Schuld der Zeit, die Schuld des Geheimnisses", zum "Geheimnis der Schuld", wie die allgemeine Schuld des Geheimnisses im verschuldeten Epicier <Krämer> zum Geheimnis der Schulden wird.

Marien-Blume müßte nach der Mutter-Gottes-Konstruktion eigentlich die Mutter Rudolphs, des Welterlösers, sein. Herr Szeliga erklärt dies ausdrücklich:

"Der logischen Folge nach müßte Rudolph der Sohn der Marien-Blume sein."

Weil er aber nicht ihr Sohn, sondern ihr Vater ist, so findet Herr Szeliga hierin "das neue Geheimnis, daß die Gegenwart aus ihrem Schoße statt der

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Zukunft oft die längst hingeschiedene Vergangenheit gebiert". Ja, er entdeckt das andere, noch größere, der massenhaften Statistik direkt widersprechende Geheimnis, daß "ein Kind, wenn es nicht wiederum Vater oder Mutter wird, sondern jungfräulich und unschuldig in die Gruft niedersteigt ... wesentlich ... Tochter ist.

Herr Szeliga folgt getreu der Hegelschen Spekulation, wenn ihm der "logischen Folge" nach die Tochter für die Mutter ihres Vaters gilt. In Hegels Geschichtsphilosophie, wie in seiner Naturphilosophie, gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur, die christliche Religion das Heidentum, das Resultat den Anfang.

Nachdem Herr Szeliga bewiesen hat, daß Marien-Blume der "logischen Folge" nach Rudolphs Mutter sein müßte, beweist er nun das Gegenteil, daß sie, "um ganz der Idee zu entsprechen, welche sie in unserm Epos verkörpert, niemals Mutter werden darf". Dies beweist wenigstens, daß die Idee unseres Epos und die logische Folge des Herrn Szeliga sich wechselseitig widersprechen.

Die spekulative Marien-Blume ist nichts als die "Verkörperung einer Idee". Und welcher Idee? "Sie hat doch die Aufgabe, gleichsam die letzte Wehmutsträne darzustellen, welche die Vergangenheit vor ihrem gänzlichen Scheiden weint." Sie ist die Darstellung einer allegorischen Träne, und auch dies Wenige, was sie ist, ist sie doch nur "gleichsam"

Wir folgen Herrn Szeliga nicht in seiner weitern Darstellung der Marien-Blume. Wir überlassen ihr selbst das Vergnügen, nach Herrn Szeligas Vorschrift "gegen jedermann den entschiedensten Gegensatz zu bilden", ein geheimnisvoller Gegensatz, so geheimnisvoll wie die Eigenschaften Gottes.

Wir grübeln ebensowenig über "das wahre Geheimnis" nach, das "von Gott in den Busen des Menschen gesenkt ist" und worauf die spekulative Marien-Blume "doch gleichsam" hindeutet. Wir gehen von Herrn Szeligas Marien-Blume zu Eugen Sues Fleur de Marie und zu den kritischen Wunderkuren über, welche Rudolph an ihr vollbringt.

b) Fleur de Marie

Wir finden Marie mitten unter Verbrechern als Freudenmädchen, als Leibeigne der Wirtin der Verbrecherkneipe. Innerhalb dieser Erniedrigung bewahrt sie einen menschlichen Seelenadel, eine menschliche Unbefangenheit und eine menschliche Schönheit, welche ihrer Umgebung imponieren, sie zur poetischen Blume des Verbrecherkreises erheben und ihr den Namen Fleur de Marie erwerben.

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Es ist notwendig, Fleur de Marie von ihrem ersten Auftreten an genau zu beobachten, um ihre ursprüngliche Gestalt mit ihrer kritischen Umgestaltung vergleichen zu können.

Bei aller Zartheit gibt Fleur de Marie sogleich Beweise von Lebensmut, Energie, Heiterkeit, Elastizität des Charakters, von Eigenschaften, welche allein ihre menschliche Entfaltung innerhalb ihrer entmenschten Lage erklären können.

Gegen den Chourineur, der sie mißhandelt, verteidigt sie sich mit ihrer Schere. Das ist die erste Situation, worin wir sie finden. Sie erscheint nicht ein wehrloses, der überlegenen Brutalität sich widerstandslos preisgebendes Lamm, sondern als ein Mädchen, das seine Rechte geltend zu machen, das einen Kampf zu bestehen weiß.

In der Verbrecherkneipe der Rue aux Fèves erzählt sie dem Chourineur und Rudolph ihre Lebensgeschichte. Während ihrer Erzählung lacht sie über Chourineurs Witz. Sie klagt sich an, aus dem Gefängnis kommend, die hier erworbenen 300 Francs verfahren und verputzt zu haben, statt Arbeit zu suchen, "aber ich hatte niemand zum Ratgeber". Die Erinnerung an die Katastrophe ihres Lebens - die Verschacherung an die Verbrecherwirtin - stimmt sie wehmütig. Seit ihrer Kindheit ist dies das erstemal, daß sie sich aller dieser Begebenheiten erinnert.

"Le fait est, que ça me chagrine de regarder sinsi derriére moi ... ça doit être bien bon d'être honnete." <"Ja, es betrübt mich, wenn ich so meine Vergangenheit zurücksehe ... Es muß doch schön sein, ehrlich zu sein."> 

Auf Chourineurs Spott, sie solle honett werden, ruft sie aus:

"Honnête, mon dieu! et avec quoi donc veux-tu que je sois honnête?" <"Ehrlich, mein Gott, wie soll ich denn ehrlich sein?">

Sie erklärt ausdrücklich, daß sie keine "weinerlich sich Gebärdende" sei:

"Je ne suis pas pleurnicheuse"; <"Ich bin nicht weinerlich">

ihre Lebenssituation ist traurig -

"Ça 'est pas gai." <"Angenehm ist es nicht.">

Endlich spricht sie, im Gegensatz zur christlichen Reue, über die Vergangenheit den zugleich stoischen und epikureischen, den menschlichen Grundsatz einer Freien und Starken aus:

"Enfin ce qui est fait, est fait." <"Doch was geschehen ist, ist geschehen">

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Begleiten wir nun Fleur de Marie auf ihrer ersten Spazierfahrt mit Rudolph.

"Das Bewußtsein deiner fürchterlichen Lage hat dich wohl oft gepeinigt", sagt Rudolph, den es schon prickelt, eine moralische Konversation einzuleiten.

"Ja", antwortet sie, "mehr als einmal sah ich über die Schutzwehren hinüber die Seine an, aber dann betrachtete ich die Blumen, die Sonne, dann sagte ich mir: Der Fluß wird immer da sein, ich bin noch nicht siebzehn Jahr alt, wer weiß? Dans ces moments-là il me semblait que mon sort n'était pas mérité, qu'il y avait en moi quelque chose de bon. Je me disais, on m'a bien tourmenté, mais au moins je n'ai jamais fait de mal à personne. <... In solchen Augenblicken war es mir, als hätte ich mein Schicksal nicht verdient, als läge etwas Gutes in mir. Ich sagte zu mir: Man hat mich sehr mißhandelt, aber ich habe doch niemandem etwas zuleide getan.> "

Fleur de Marie betrachtet die Lage, worin sie sich befindet, nicht als freie Schöpfung, nicht als Ausdruck ihrer selbst, sondern als ein Los, das sie nicht verdient hat. Dies Mißgeschick kann sich ändern. Sie ist noch jung.

Das Gute und das Böse in Mariens Auffassung sind nicht die moralischen Abstraktionen des Guten und des Bösen. Sie ist gut, denn sie hat niemand ein Leid zugefügt, sie war immer menschlich gegen die unmenschliche Umgebung. Sie ist gut, denn Sonne und Blumen offenbaren ihr ihre eigne sonnige und blumige Natur. Sie ist gut, denn sie ist noch jung, hoffend und lebensmutig. Ihre Lage ist nicht gut, weil sie ihr einen unnatürlichen Zwang antut, weil sie nicht die Äußerung ihrer menschlichen Triebe, nicht die Verwirklichung ihrer menschlichen Wünsche, weil sie qualvoll und freudlos ist. An ihrer eigenen Individualität, an ihrem natürlichen Wesen mißt sie ihre Lebenssituation, nicht am Ideal des Guten.

In der Natur, wo die Ketten des bürgerlichen Lebens abfallen, wo sie frei ihre eigene Natur äußern kann, sprudelt Fleur de Marie daher eine Lebenslust aus, einen Reichtum der Empfindung, eine menschliche Freude an der Schönheit der Natur, die beweisen, wie die bürgerliche Situation nur ihre Oberfläche gestreift hat, ein bloßes Mißgeschick ist, und wie sie selbst weder gut noch böse, sondern menschlich ist.

"Monsieur Rodolphe, quel bonheur ... de l'herbe, des champs! Si vous vouliez me permettre de descendre, il fait si beau ... j'aimerais tant à courir dans ces prairies!" <"Herr Rudolf, welches Glück! Gras! Felder! Wenn Sie mir erlauben wollten auszusteigen ... es ist so schön! Ich möchte so gern auf diesen Wiesen gehen!">

Aus dem Wagen gestiegen, pflückt sie dem Rudolph Blumen, "kann kaum sprechen vor Freude" etc. etc.

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Rudolph entdeckt ihr, daß er sie auf den Pachthof der Madame George führen wird. Dort kann sie Taubenschläge, Stallungen etc. sehen; dort gibt es Milch, Butter, Früchte etc. Das sind die wahren Gnadenmittel für dieses Kind. Sie wird sich belustigen, das ist ihr Hauptgedanke. "C'est à n'y nas croire ... comme je veux m'amuser!" <"Das klingt ganz unglaublich! Wie will ich mich freuen!"> Sie erklärt dem Rudolph ihren eigenen Anteil an ihrem Mißgeschick in der unbefangensten Weise. "Tout mon sort est venu de ce que je n'ai pas économisé mon argent." <"Ich bin auch bloß deshalb in meine üble Lage gekommen, weil ich mein Geld nicht gespart hatte."> Sie rät ihm daher, sparsam zu sein und Geld in die Sparkasse zu hinterlegen. Ihre Phantasie ergeht sich in den Luftschlössern, die Rudolph ihr aufbaut. Sie verfällt nur in Trauer, weil sie "die Gegenwart vergessen hatte" und "der Kontrast dieser Gegenwart mit dem Traum einer freudigen und lachenden Existenz ihr die Greul ihrer Lege ins Gedächtnis ruft".

Bis hierher sehen wir Fleur de Marie in ihrer ursprünglichen unkritischen Gestalt. Eugen Sue hat sich über den Horizont seiner engen Weltanschauung erhoben. Er hat den Vorurteilen der Bourgeoisie ins Gesicht geschlagen. Er wird Fleur de Marie dem Helden Rudolph überliefert haben, um seine Verwegenheit zu sühnen, um sich den Beifall aller alten Männer und Weiber, der gesamten Pariser Polizei, der gangbaren Religion und der "kritischen Kritik" zu erwerben.

Madame George, welcher Rudolph die Fleur de Marie überliefert, ist eine unglückliche, hypochondrische und religiöse Frau. Sie empfängt das Kind sogleich mit den salbungsvollen Worten, daß "Gott die segnet, die ihn lieben und fürchten, die unglücklich gewesen sind und die bereuen", Rudolph, der Mann der "reinen Kritik", läßt den unseligen, im Aberglauben ergrauten Pfaffen Laporte herbeirufen. Er ist bestimmt, die kritische Reform der Fleur Marie zu vollbringen.

Marie naht heiter und unbefangen dem alten Pfaffen. Eugen Sue in seiner christlichen Brutalität läßt ihr sogleich von einem "bewundrungswürdigen Instinkt" ins Ohr flüstern, daß "die Scham da endet, wo die Reue und Buße anfangen", nämlich in der alleinseligmachenden Kirche. Er vergißt die heitre Unbefangenheit auf der Spazierfahrt, eine Heiterkeit, welche die Gnadenmittel der Natur und die freundliche Teilnahme Rudolphs erzeugt hatten, und welche nur durch den Gedanken, zu der Verbrecherwirtin zurückkehren zu müssen, getrübt wurde.

Der Pfaffe Leporte wirft sich sogleich in überirdische Positur. Sein erstes Wort ist:

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 "Gottes Barmherzigkeit ist unerschöpflich, mein teures Kind! Er hat sie dir bewiesen, indem er dich in sehr schmerzlichen Prüfungen nicht verlassen hat ... der großmütige Mann, der dich gerettet, hat dieses Schriftwort" - man merke wohl: das Schriftwort, nicht einen menschlichen Zweck! - "verwirklicht: Der Herr ist nahe denen, die ihn anrufen; er wird die Wünsche derer erfüllen, die ihn anrufen; er wird hören ihr Schreien und er wird sie erretten ... der Herr wird sein Werk vollenden!"

Marie versteht noch nicht den bösartigen Sinn des pfäffischen Sermons. Sie antwortet:

"Ich werde beten für die, die sich meiner erbarmt und mich zu Gott zurückgeführt haben."

Ihr erster Gedanke ist nicht Gott, sondern ihr menschlicher Retter, und für ihn, nicht für ihre eigne Absolution will sie beten. Sie traut ihrem Gebete einen Einfluß auf das Heil andrer zu. Ja, sie ist noch so naiv, zu unterstellen, daß sie schon zu Gott zurückgeführt ist. Der Pfaffe muß diesen heterodoxen Wahn zerstören.

"Bald", unterbricht er sie, "bald wirst du die Absolution verdienen, die Absolution von deinen großen Fehlern ... denn um noch einmal mit dem Propheten zu sprechen: Der Herr hält alle die aufrecht, die nahe am Fallen sind."

Man übersehe nicht die unmenschliche Wendung des Priesters. Bald wirst du die Absolution verdienen! Noch sind dir deine Sünden nicht vergeben.

Wie Leporte dem Mädchen zum Empfange das Sündenbewußtsein, so präsentiert ihr Rudolph beim Abschied ein goldnes Kreuz, ein Symbol der christlichen Kreuzigung, die ihr bevorsteht.

Marie wohnt schon einige Zeit auf dem Pachthofe der Madame George. Lauschen wir zunächst einem Zwiegespräch des greisen Pfaffen Leporte mit Madame George. Eine "Heirat" hält er für die Marie unmöglich, "weil kein Mann, trotz seiner Bürgschaft, der Vergangenheit, welche ihre Jugend besudelt hat, die Stirne zu bieten den Mut haben wird". Er setzt hinzu, "sie habe große Fehler zu sühnen, der moralische Sinn hätte sie aufrechterhalten müssen". Er beweist die Möglichkeit, sich aufrechtzuerhalten, wie der gemeinste Bourgeois: "es seien viele wohltätige Leute in Paris". Der heuchlerische Priester weiß sehr wohl, daß diese wohltätigen Leute von Paris zu jeder Stunde auf den belebtesten Straßen gleichgültig an den kleinen Mädchen von sieben bis acht Jahren vorübergehen, welche bis um Mitternacht allumettes <Streichhölzer> und dergleichen feilbieten, wie es einst Marie getan, und deren zukünftiges Los fast ohne Ausnahme das der Marie ist.

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Der Pfaffe hat es auf die Buße Mariens abgesehen; in seinem Innern ist sie verurteilt. Folgen wir der Fleur de Marie auf einem Abendspaziergang mit Leporte, den sie nach Hause begleitet.

"Siehe, mein Kind, beginnt er mit salbungsvoller Schönrednerei, "den unermeßlichen Horizont, dessen Grenzen man nicht mehr wahrnimmt" - es ist nämlich Abend - "es scheint mir, daß die Stille und die Unbegrenztheit uns fast eine Idee der Ewigkeit gebe ... Ich sage dir das, Marie, weil du empfindsam bist für die Schönheit der Schöpfung ... Ich war oft gerührt von der religiösen Bewunderung, welche sie dir einflößen, dir - die so lange des religiösen Gefühls enterbt war."

Es ist dem Pfaffen schon gelungen, die unmittelbar naive Freude der an den Naturschönheiten in eine religiöse Bewunderung umzuwandeln. Die Natur ist schon für sie zur devot gewordnen, christianisierten Natur, zur Schöpfung erniedrigt. Das durchsichtige Luftmeer ist zum dunkeln Symbol einer flauen Ewigkeit entweiht. Sie hat schon gelernt, daß alle menschlichen Äußerungen ihres Wesens "profan", der Religion, der wahren Weihe enterbt, irreligiös, gottlos waren. Der Pfaffe muß sie vor sich selbst beschmutzen, ihre natürlichen und geistigen Kräfte und Gnadenmittel in den Staub ziehen, damit sie empfänglich werde für das übernatürliche Gnadenmittel, das er ihr verspricht - für die Taufe.

Als Marie dem Pfaffen nun ein Geständnis machen will und ihn um Nachsicht bittet, antwortet er:

"Der Herr hat dir bewiesen, daß er barmherzig ist."

Marie darf in der Nachsicht, die sie erfährt, nicht eine natürliche, sich von selbst verstehende Beziehung eines verwandten menschlichen Wesens zu ihr, dem menschlichen Wesen, erblicken. Sie muß darin eine überschwengliche, übernatürliche, übermenschliche Barmherzigkeit und Herablassung, in der menschlichen Nachsicht eine göttliche Barmherzigkeit erblicken. Sie muß alle menschlichen und natürlichen Verhältnisse in Verhältnisse zu Gott transzendieren. Die Weise, wie Fleur de Marie in ihrer Antwort auf das pfäffische Salbadern von Gottes Barmherzigkeit eingeht, beweist, wie weit die religiöse Doktrin sie schon verderbt hat.

Sobald sie in ihre verbesserte Lage getreten sei, sagt sie, habe sie nur ihr neues Glück empfunden.

"Jeden Augenblick dachte ich an Herrn Rudolph. Oft hob ich die Augen gen Himmel, nicht um Gott, sondern um ihn, Herrn Rudolph, dort zu suchen und ihm zu danken. Ja - ich klage mich dessen an, mein Vater, ich dachte mehr an ihn als an Gott; denn er hatte für mich getan, was Gott allein hätte tun können ... Ich war glücklich wie jemand, der für immer einer großen Gefahr entronnen ist."

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Fleur de Marie findet es schon unrecht, eine neue glückliche Lebenssituation einfach als das, was sie wirklich ist, als ein neues Glück empfunden, d.h. sich natürlich und nicht übernatürlich zu ihr verhalten zu haben. Sie klagt sich schon an, in dem Menschen, der sie gerettet hat, das, was er wirklich war, ihren Retter, gesehen und nicht an seine Stelle einen imaginären Retter, Gott, untergeschoben zu haben. Schon ist sie ergriffen von der religiösen Heuchelei, welche dem andern Menschen nimmt, was er um mich verdient hat, um es Gott zu geben, welche überhaupt alles Menschliche am Menschen als ihm fremd und alles Unmenschliche an ihm als sein eigentliches Eigentum betrachtet.

Marie erzählt uns, daß die religiöse Transformation ihrer Gedanken, ihrer Empfindungen, ihres Verhaltens zum Leben durch Madame George und Leporte bewirkt worden sei.

"Als Rudolph mich von der Cité wegführte, hatte ich schon unbestimmt das Bewußtsein meiner Erniedrigung, aber die Erziehung, die Ratschläge, die Beispiele, welche ich von Ihnen und Madame George erhalten habe, haben mir begreiflich gemacht ... daß ich mehr schuldig als unglücklich gewesen bin ... Sie und Madame George haben mir die unendliche Tiefe meiner Verwerfung begreiflich gemacht."

D.h., dem Priester Leporte und der Madame George verdankt sie es, das menschliche und darum erträgliche Bewußtsein der Erniedrigung mit dem christlichen und darum unerträglichen Bewußtsein einer unendlichen Verworfenheit vertauscht zu haben. Der Pfaffe und die Betschwester haben sie belehrt, sich von christlichem Standpunkt aus zu beurteilen. Marie empfindet die Größe des geistigen Unglücks, worin man sie gestürzt hat. Sie sagt:

"Weil das Bewußtsein des Guten und Bösen mir so fürchterh.ch sein sollte, warum überließ man mich nicht meinem unglücklichen Los? ... Hätte man mich nicht der Infamie entrissen, das Elend, die Schläge würden mich sehr bald getötet haben; wenigstens wäre ich gestorben in der Unwissenheit über eine Reinheit, die ich immer vergebens wünschen werde."

Der herzlose Pfaff e antwortet:

"Selbst die edelste Natur, wenn sie auch nur einen Tag in den Schmutz versunken war, woraus man dich gezogen hat, bewahrt davon ein unauslöschliches Brandmal. Das ist die Unabänderlichkeit der göttlichen Justiz."

Fleur de Marie, tief von diesem honigglatten Pfaffenfluch verwundet, ruft aus:

"Ihr seht es also, daß ich verzweifeln muß."

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Der ergraute Sklave der Religion erwidert:

"Du mußt daran verzweifeln, aus deinem Leben diese trostlose Seite auszureißen, aber du mußt hoffen in die unendliche Barmherzigkeit Gottes. Hier unten für dich, armes Kind, Tränen, Reue, Buße, aber eines Tages dort oben, dort oben, Verzeihung, ewige Glückseligkeit!"

Marie ist noch nicht blödsinnig genug, um mit der ewigen Glückseligkeit und der Verzeihung dort oben sich beruhigen zu lassen.

"Mitleid", ruft sie aus, "Mitleid, mein Gott! ich bin noch so jung... malheur à moi <Wehe mir>!"

Und die heuchlerische Sophistik des Priesters erreicht ihre Spitze:

"Im Gegenteil, Glück dir, Marie, Glück dir, welcher der Herr die Gewissensbisse schickt, voll von Bitterkeit, aber wohltätig! Sie beweisen die religiöse Empfänglichkeit deiner Seele ... jedes deiner Leiden wird dort oben gezählt werden. Glaube mir, Gott hat dich einen Augenblick auf dem schlechten Wege gelassen, um dir den Ruhm der Reue vorzubehalten und die ewige Belohnung, welche der Buße geschuldet ist."

Von diesem Augenblick an ist Marie zur Leibeigenen des Sündenbewußtseins geworden. Während sie in der unglücklichsten Lebenssituation sich zu einer liebenswürdigen, menschlichen Individualität zu bilden wußte und innerhalb der äußern Erniedrigung sich ihres menschlichen Wesens, als ihres wahren Wesens, bewußt war, wird ihr nun der Schmutz der jetzigen Gesellschaft, der sie äußerlich berührt hat, zu ihrem innersten Wesen und die stete hypochondrische Selbstquälerei mit diesem Schmutz zur Pflicht, zu der von Gott selbst vorgezeichneten Lebensaufgabe, zum Selbstzweck ihres Daseins. Während sie früher sich rühmte: "Je ne suis pas pleurnicheuse", während sie wußte: "Ce qui est fait, est fait", wird ihr nun die Selbstzerknirschung zum Guten und die Reue zum Ruhm.

Es zeigt sich später, daß Fleur de Marie Rudolphs Tochter ist. Wir finden sie wieder als Prinzessin von Geroldstein. Wir belauschen sie in einem Zwiegespräch mit ihrem Vater:

"En vain je prie Dieu de me délivrer de ces obsessions, de remplir uniquement mon coeur de son pieux amour, da ses saintes espérances, de me prendre enfin toute entière, puisque je veux me donner toute entière à lui ... il n'exauce pas mes voeux - sans doute, que parce que mes préoccupations terrestres me rendent indigne d'entrer en commun avec lui."

<"Vergebens bitte ich Gott, mich von diesen Versuchungen zu befreien, mein Herz nur mit seiner frommen Liebe, seinen heiligen Hoffnungen zu erfüllen. mich ganz anzunehmen, da ich ganz ihm angehören will. Er erhört meine Wünsche nicht, ohne Zweifel, weil meine irdischen Gedanken mich unwürdig machen, mit ihm in Gemeinschaft treten.">

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Nachdem der Mensch seine Verirrungen als unendliche Verbrechen gegen Gott eingesehen hat, kann er sich nur der Erlösung und Gnade versichern, wenn er sich ganz Gott hingibt, ganz der Welt und der Beschäftigung mit der Welt abstirbt. Nachdem Fleur de Marie eingesehn hat, daß die Befreiung aus ihrer unmenschlichen Lebenslage ein göttliches Wunder ist, muß sie selbst zur Heiligen werden, um solchen Mirakels würdig zu sein. Ihre menschliche Lieb muß sich in die religiöse Liebe, das Streben nach Glück in das Streben nach ewiger Glückseligkeit, die weltliche Befriedigung in die heilige Hoffnung, die Gemeinschaft mit den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott verwandeln. Gott soll sie ganz nehmen. Sie spricht selbst das Geheimnis aus, warum er sie nicht ganz nimmt. Sie hat sich ihm noch nicht ganz gegeben, ihr Herz ist noch von irdischen Angelegenheiten befangen und besessen. Es ist dies das letzte Aufflackern ihrer tüchtigen Natur. Sie gibt sich ganz an Gott, indem sie der Welt ganz abstirbt und ins Kloster geht.

Niemand soll ins Kloster gehn,
Als er sei denn wohlversehn
Mit gehörigem Sündenvorrat,
Damit es ihm so früh als spat
Nicht mög' an Vergnügen fehlen,
Sich mit Reue durchzuquälen. (Goethe.)

Im Kloster wird Fleur de Marie durch die Intrigen Rudolphs zur Äbtissin promoviert. Sie weigert sich im Anfang, diese Stelle anzunehmen, im Gefühl ihrer Unwürdigkeit. Die alte Äbtissin redet ihr zu:

"Je vous dirai plus, ma chère fille, avant d'entrer au bercail, votre existence aurait été aussi égarée, qu'elle a été au contraire pure et louable ... que les vertus évangéliques, dont vous avez donné l'exemple depuis votre séjour ici, expieraient et rachèteraient encore aux yeux du Seigneur un passé si coupable qu'il fût."

<"Mehr noch, meine teure Tochter! Wäre auch dein Leben vor deinem Eintritte in den Orden so voll Verirrungen gewesen, als es im Gegenteile rein und löblich war, so hätten doch deine evangelischen Tugenden von denen du uns während deines Aufenthaltes hier das Beispiel gegeben hast, in den Augen des Herrn selbst die schuldvollste Vergangenheit gesühnt und abgebüßt."> 

Wir sehen aus den Worten der Äbtissin, daß die weltlichen Tugenden der Fleur de Marie in evangelische Tugenden sich verwandelt haben, oder vielmehr ihre wirklichen Tugenden dürfen nur mehr evangelisch karikiert auftreten. Marie antwortet auf die Worte der Äbtissin:

"Sainte mère je crois maintenant pouvoir accepter." <"Heilige Mutter - ich glaube jetzt annehmen zu können.">

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Das Klosterleben entspricht Mariens Individualität nicht - sie stirbt.

Das Christentum tröstet sie nur in der Einbildung, oder ihr christlicher Trost ist eben die Vernichtung ihres wirklichen Lebens und Wesens - ihr Tod.

Rudolph hat also die Fleur de Marie erst in eine reuige Sünderin, dann die reuige Sünderin in eine Nonne und endlich die Nonne in eine Leiche verwandelt. Bei ihrem Leichenbegängnis hält außer dem katholischen Priester noch der kritische Priester Szeliga einen Leichensermon.

Ihr "unschuldiges" Dasein nennt er ihr "vergängliches" Dasein und stellt es der "ewigen und unvergeßlichen Schuld" gegenüber. Er rühmt es, daß ihr "letzter Atemzug" die "Bitte um Vergebung und Verzeihung" ist. Wie aber der protestantische Geistliche, nachdem er die Notwendigkeit der Gnade des Herrn, die Teilnahme des Verstorbenen an der allgemeinen Erbsünde und die Stärke seines Sündenbewußtseins dargestellt hat, nun mit einer weltlichen Wendung die Tugenden des Verstorbenen anpreisen muß, so braucht auch Herr Szeliga die Wendung:

"Und doch ist ihr persönlich nichts zu vergeben."

Er wirft endlich auf Mariens Grab die verwelkteste Blume der Kanzelberedsamkeit:

"Innerlich rein wie selten ein Mensch, entschlummerte sie dieser Welt."

Amen!

3. Enthüllung der Geheimnisse des Rechts

a) Der maître d'école oder die neue Straftheorie. Das enthüllte Geheimnis des Zellularsystems. Medizinische Geheimnisse

Der maître d'école ist ein Verbrecher von herkulischer Körperkraft und großer geistiger Energie. Er ist von Haus aus ein gebildeter und unterrichteter Mann. Er, der leidenschaftliche Athlet, gerät in Kollision mit den Gesetzen und Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaft, deren allgemeines Maß die Mittelmäßigkeit, die zarte Moral und der stille Handel ist. Er wird zum Mörder und überläßt sich allen Ausschweifungen eines gewaltigen Temperaments, das nirgends eine angemessene menschliche Tätigkeit findet.

Rudolph hat diesen Verbrecher eingefangen. Er will ihn kritisch reformieren, er will an ihm ein Exempel für die juristische Welt statuieren. Er hadert mit der juristischen Welt nicht über die "Strafe" selbst, sondern über

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die Art und Weise der Strafe. Er entdeckt nach dem bezeichnenden Ausdruck des Negerarztes David eine Straftheorie, die des "größten deutschen Kriminalisten" würdig wäre und die seither sogar das Glück gehabt hat, von einem deutschen Kriminalisten mit deutschem Ernst und deutscher Gründlichkeit verteidigt zu werden. Rudolph ahnt nicht einmal, daß man sich über die Kriminalisten erheben könne, sein Ehrgeiz geht darauf, "der größte Kriminalist", primus inter pares <der Erste unter Gleichen>, zu sein. Er läßt den maître d'école von dem Negerarzt David blenden.

Rudolph wiederholt zuerst alle trivialen Einwürfe gegen die Todesstrafe, sie sei wirkungslos auf den Verbrecher, sie sei wirkungslos auf das Volk, dem sie als ein unterhaltendes Schauspiel erscheine.

Rudolph statuiert ferner einen Unterschied zwischen dem maître d'école, und der Seele des maître d'école. Nicht den Menschen, nicht den wirklichen maître d'école will er retten, sondern seiner Seelen Seelenheil.

"Das Heil einer Seele", doziert er, "ist eine heilige Sache ... Jedes Verbrechen büßt sich und läßt sich zurückerkaufen, hat der Erlöser gesagt, aber nur für den, der ernsthaft die Buße und die Reue will. Der Übergang vom Tribunal zum Schafott ist zu kurz ... Du" (der maître d'école) "hast verbrecherisch deine Kraft mißbraucht, ich werde deine Kraft paralysieren... du wirst vor dem Schwächsten zittern, deine Strafe wird deinem Verbrechen gleichkommen ... aber diese fürchterliche Strafe wird dir wenigstens den grenzenlosen Horizont der Buße lassen ... Ich trenne dich nur von der Außenwelt, um dich, allein mit der Erinnerung deiner Schandtaten, in eine undurchdringliche Nacht zu versenken ... Du wirst gezwungen sein, in dich zu blicken ... deine Intelligenz, die du degradiert hast, wird erwachen und dich zur Buße führen."

Da Rudolph die Seele für heilig, den Leib des Menschen aber für profan hält, da er also nur die Seele als das wahre, weil dem Himmel - nach Herrn Szeligas kritischer Umschreibung der Menschheit - angehörige Wesen betrachtet, so gehört der Leib, die Kraft des maître d'école nicht der Menschheit an, ihre Wesensäußerung ist nicht menschlich zu bilden und der Menschheit zu vindizieren, sie ist nicht als ein selbstmenschliches Wesen zu behandeln. Der maître d'école hat seine Kraft mißbraucht, Rudolph paralysiert, lähmt, vernichtet diese Kraft. Es gibt kein kritischeres Mittel, um die verkehrten Äußerungen einer menschlichen Wesenskraft loszuwerden, als die Vernichtung dieser Wesenskraft. Es ist dies das christliche Mittel, welches das Auge ausreißt, wenn das Auge Ärgernis gibt, die Hand abschlägt, wenn die Hand Ärgernis gibt, mit einem Wort, den Leib tötet, wenn der Leib Ärgernis gibt, denn Auge, Hand, Leib sind eigentlich bloß überflüssige,

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sündige Zutaten des Menschen. Man muß die menschliche Natur totschlagen, um ihre Krankheiten zu heilen. Auch die massenhafte Jurisprudenz, mit der kritischen hierin übereinstimmend, findet in der Lähmung, im Paralysieren der menschlichen Kräfte das Gegengift gegen die störenden Äußerungen dieser Kräfte.

Was Rudolph, den Mann der reinen Kritik, an der profanen Kriminalistik geniert, ist der zu rasche Übergang von dem Tribunal auf das Schafott. Er will hingegen will die Rache am Verbrecher mit der Buße und dem Sündenbewußtsein des Verbrechers, die körperliche Strafe mit der geistlichen Strafe, die sinnliche Marter mit der unsinnlichen Marter der Reue verbinden. Die profane Strafe soll zugleich ein christlich-moralisches Erziehungsmittel sein.

Diese Straftheorie, welche die Jurisprudenz mit der Theologie verbindet, dies "enthüllte Geheimnis des Geheimnisses", ist durchaus keine andere als die Straftheorie der katholischen Kirche, wie schon Bentham in seinem Werk "Theorie der Strafen und Belohnungen" weitläufig auseinandergesetzt hat. Ebenso hat Bentham in der angeführten Schrift die moralische Nichtigkeit der jetzigen Strafen bewiesen. Er nennt die gesetzlichen Züchtigungen "gesetzliche Parodien".

Die Strafe, die Rudolph am maître d'école vollzieht, ist dieselbe Strafe, die Origines an sich selbst vollzog. Er entmannt ihn, er beraubt ihn eines Zeugungsgliedes, des Auges. "Das Auge ist des Leibes Licht." Daß Rudolph geradezu auf die Blendung verfällt, macht seinem religiösen Instinkt alle Ehre. Es ist die Strafe, die in dem ganz christlichen Reich von Byzanz an der Tagesordnung war und in der kräftigen Jugendperiode der christlich-germanischen Reiche von England und Frankreich blühte. Die Trennung des Menschen von der sinnlichen Außenwelt, das Zurückschleudern in sein abstraktes Inneres, um ihn zu bessern - die Blendung - ist eine notwendige Konsequenz der christlichen Doktrin, nach welcher die vollendete Durchführung dieser Trennung, die reine Isolierung des Menschen auf sein spiritualistisches "Ich", das Gute selbst ist. Wenn Rudolph nicht, wie es in Byzanz und im Frankenreiche geschah, den maître d'école in ein wirkliches Kloster steckt, so steckt er ihn wenigstens in ein ideales Kloster, in das Kloster einer undurchdringlichen, von dem Licht der Außenwelt nicht unterbrochenen Nacht, in das Kloster eines tatlosen Gewissens und eines Sündenbewußtseins, das nur mit gespenstischen Erinnerungen bevölkert ist.

Eine gewisse spekulative Scham erlaubt dem Herrn Szeliga nicht, offenherzig auf die Straftheorie seines Helden Rudolph, auf die Verbindung der weltlichen Strafe mit der christlichen Reue und Buße, einzugehen. Er schiebt ihm dagegen, versteht sich auch als der Welt erst zu enthüllendes Geheimnis,

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die Theorie unter, wonach der Verbrecher in der Strafe zum "Richter" über sein "eignes" Verbrechen erhoben werden soll.

Das Geheimnis dieses enthüllten Geheimnisses ist die Hegelsche Straftheorie. Nach Hegel fällt der Verbrecher in der Strafe über sich selbst das Urteil. Gans hat diese Theorie weitläufiger ausgeführt. Sie ist bei Hegel das spekulative Schönpflaster des alten jus talionis <Rechts, Gleiches mit Gleichem zu vergelten>, das Kant als die einzig rechtliche Straftheorie entwickelt hatte. Bei Hegel bleibt die Selbstrichtung des Verbrechers eine bloße "Idee", eine bloß spekulative Interpretation der gangbaren empirischen Kriminalstrafen. Er überläßt daher ihren Modus der jedesmaligen Bildungsstufe des Staats, d.h., er läßt die Strafe bestehen, wie sie besteht. Eben hierin zeigt er sich kritischer als sein kritischer Nachbeter. Eine Straftheorie, welche zugleich im Verbrecher den Menschen anerkennt, kann dies nur in der Abstraktion, in der Einbildung tun, eben weil die Strafe, der Zwang dem menschlichen Verhalten widersprechen. In der Ausführung wäre die Sache zudem unmöglich. An die Stelle des abstrakten Gesetzes würde die rein subjektive Willkür treten, da es jedesmal von den offiziellen, "ehrbaren und anständigen" Männern abhängen müßte, die Strafe nach der Individualität des Verbrechers einzurichten. Schon Plato hat die Einsicht besessen, daß das Gesetz einseitig sein und von der Individualität abstrahieren muß. Unter menschlichen Verhältnissen dagegen wird die Strafe wirklich nichts anderes sein als das Urteil des Fehlenden über sich selbst. Man wird ihn nicht überreden wollen, daß eine äußere, ihm von andern angetane Gewalt eine Gewalt sei, die er sich selbst angetan habe. In den andern Menschen wird er vielmehr die natürlichen Erlöser von der Strafe finden, die er über sich selbst verhängt hat, d.h. das Verhältnis wird sich geradezu umkehren.

Rudolph spricht seinen innersten Gedanken - den Zweck der Blendung - aus, wenn er dem maître d'école sagt:

"Chacune de tes paroles sera une prière." <"Jedes deiner Worte wird ein Gebet sein">

Er will ihn beten lehren. Er will den herkulischen Räuber in einen Mönch verwandeln, dessen ganze Arbeit das Beten ist. Wie human ist gegen diese christliche Grausamkeit die gewöhnliche Straftheorie, welche einem Menschen einfach den Kopf abschlägt, wenn sie ihn vernichten will. Es versteht sich endlich von selbst, daß die wirkliche massenhafte Gesetzgebung, sooft es ihr ernstlich um die Besserung der Verbrecher zu tun war, ungleich verständiger und humaner verfuhr als der deutsche Harun al Raschid. Die vier holländischen Agrikulturkolonien, die Verbrecherkolonie Ostwald im Elsaß sind wahrhaft menschliche Versuche gegenüber der Blendung des maître

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d'école. Wie Rudolph die Fleur de Marie entleibt, indem er sie dem Pfaffen und dem Sündenbewußtsein überliefert, wie er den Chourineur entleibt, indem er ihm seine menschliche Selbständigkeit raubt und ihn zum Bulldoggen herabwürdigt, so entleibt er den maître d'école, indem er ihm die Augen aussticht, damit er "beten" lerne.

Dies ist allerdings die Weise, wie alle Wirklichkeit "einfach" aus der "reinen Kritik" hervorgeht, nämlich als Entstellung und sinnlose Abstraktion von der Wirklichkeit.

Herr Szeliga läßt sogleich nach der Blendung des maître d'école ein moralisches Wunder sich ereignen.

"Der furchtbare Schulmeister erkennt" nach seinem Bericht "'plötzlich' die Macht der Ehrlichkeit und Redlichkeit an, er sagt zum Schurimann: Ja, dir kann ich vertrauen, du hast niemals gestohlen."

Unglücklicherweise hat Eugen Sue eine Äußerung des maître d'école über Chourineur aufbewahrt, welche dieselbe Anerkennung enthält und keine Wirkung der Blendung sein kann, weil sie vor derselben stattgefunden hat. Der maître d'école äußert sich nämlich in seinem tête-à-tête <vertraulichen Zwiegespräch> mit Rudolph über Chourineur dahin:

"Du reste il n'est pas capable de vendre un ami. Non: il a du bon ... il a toujours eu des Idées singulières."

<"Übrigens ist er der Mann nicht, der einen Freund verrät. Nein, er ist ein guter Kerl ... er hat immer seltsame Ideen gehabt."> 

Das moralische Wunder des Herrn Szeliga wäre hiermit vernichtet. Wir betrachten nun die wirklichen Ergebnisse von Rudolphs kritischer Kur.

Wir finden den maître d'école zunächst auf einer Expedition mit der Chouette nach dem Gut zu Bouqueval, um der Fleur de Marie einen schlechten Streich zu spielen. Der Gedanke, der ihn beherrscht, ist natürlich der Gedanke der Rache gegen Rudolph, und er weiß sich nur metaphysisch an ihm zu rächen, indem er ihm zum Trotz, "das Böse" denkt und ausheckt.

"Il m'a ôté la vue, il ne m'a pas ôté la pensée du mal."

<"Er hat mir das Augenlicht genommen, aber die Gedanken an das Böse konnte er mir nicht nehmen."> 

Er erzählt der Chouette, warum er sie aufsuchen ließ:

"Ich langweilte mich, ich ganz allein mit diesen honetten Leuten."

Wenn Eugen Sue seine mönchische, seine bestialische Wollust an der Selbsternidrigung des Menschen so weit befriedigt, daß er den maître d'école auf Knien vor der alten Hexe Chouette und dem kleinen Kobold

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Tortillard flehen läßt, ihn nicht zu verlassen, so vergißt der große Moralist, daß er der Chouette die Blume eines teuflischen Selbstgenusses reicht. Wie Rudolph dem Verbrecher die Macht der physischen Gewalt, die er ihm als nichtig darstellen will, eben durch die gewalttätige Blendung bewies, so lehrt Engen Sue den maître d'école die Macht der vollen Sinnlichkeit erst recht anerkennen. Er lehrt ihn einsehen, daß ohne sie der Mensch entmannt ist und zur widerstandslosen Zielscheibe des Kinderspottes wird. Er überzeugt ihn, daß die Welt seine Verbrechen verdient hat, weil er nur die Augen zu verlieren braucht, um von ihr mißhandelt zu werden. Er raubt ihm seine letzte menschliche Illusion, denn der maître d'école glaubt an die Anhänglichkeit der Chouette. Er hatte zu Rudolph geäußert: "Sie würde sich für mich ins Feuer werfen lassen." Dagegen genießt Engen Sue die Satisfaktion, daß der maître d'école in höchster Verzweiflung ausruft:

"Mon dieu! mon dieu! mon dieu!" <"Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!">

Er hat "beten" gelernt! Und Herr Sue findet in diesem "appel involontaire dec la commisération divine, quelque chose dc providentiel" <"unwillkürlichen Anruf der göttlichen Barmherzigkeit etwas Tiefgreifendes">.

Die erste Folge der Rudolphschen Kritik ist dies unwillkürliche Gebet. Ihm folgt auf dem Fuße eine unfreiwillige Buße im Pachthof zu Bouqueval, wo dem maître d'école im Traum die Gespenster der Gemordeten erscheinen.

Wir überschlagen die weitläufige Schilderung dieses Traums, um den kritisch-reformierten maître d'école im Keller des Bras rouge, angeschmiedet an Ketten, von Ratten halb zerfressen, halb verhungert, von den Quälereien der Chouette und des Tortillard halb verrückt, brüllend wie ein Vieh, wiederzufinden. Tortillard hat die Chouette in seine Hände geliefert. Betrachten wir ihn während der Operation, die er mit ihr vornimmt. Er kopiert den Helden Rudolph nicht nur äußerlich, indem er der Chouette die Augen auskratzt, sondern auch moralisch, indem er Rudolphs Heuchelei wiederholt und seine grausame Handlung mit devoten Redensarten ausschmückt. Sobald der maître d'école die Chouette in seiner Gewalt hat, äußert er "une joie effrayante" <"eine fürchterliche Freude">, seine Stimme zittert vor Wut.

"Tu sens bien", sagt er, "que je ne veux pas en finir tout de suite ... torture pour torture ... il faut que je te parle longuement avant de te tuer ... ça va être affreux pour toi. D'abord, vois-tu ... depuis ce rêve, de la ferme de Bouqueval, qui m'a remis sous les yeux tous nos crimes, depuis ce rêve, qui a manqué de me rendre fous ... qui me rendra fou ... il s'est passé en moi un changement étrange ... J'ai eu horreur de ma férocité passée ... d'abord je ne t'ai pas permis de martyriser la gouailleuse, cela

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n'était rien encore ... en m'entraînant ici dans cette cave, en m'y faisant souffrir le froid et la faim ... tu m'as laissé tout à l'épouvante de mes réflexions ... Oh! tu ne sais pas ce que c'est que d'être seul ... l'isolement m'a purifié. Je ne l'aurais pas cru possible ... une preuve que je suis peut-être moins scélérat qu'autrefois ... ce que j'éprouve une joie infinie à te tenir là ... monstre ... non pour me venger, mais ... mais pour venger nos victimes ... oui, j'aurai accompli un devoir quand de ma propre main j'aurai puni ma complice ... j'ai maintenant horreur de mes meurtres passés, et pourtant ... trouves-tu pas cela bizarre? c'est sans crainte, c'est avec sécurité que je vais commettre sur toi un meurtre affreux avec des raffinements affreux ... dis ... dis ... conçois-tu cela?" 

<"Du siehst wohl ein, daß ich damit nicht gleich ein Ende machen will ... Folter gegen Folter ... Ich muß lange mit dir reden, ehe ich dich umbringe ... Das wird schrecklich für dich sein ... Zuerst, siehst du, ... ist seit jenem Traume in Bouqueval, der mir alle unsere Verbrechen wieder vorführte, seit jenem Traume, der mich beinahe wahnsinnig machte und mich noch wahnsinnig machen wird ... ist in mir eine seltsame Veränderung vorgegangen ... Ich habe vor meiner frühern Bosheit geschaudert. Zuerst ließ ich dich die Nachtigall nicht mißhandeln - das war aber noch nichts. Als du mich hier in diesem Keller an die Kette legtest, mich Kälte und Hunger leiden ließest ... übergabst du mich ganz dem Grauen vor meinen Gedanken. Du weißt nicht, was es heißt, allein ... zu sein ... die Absonderung hat mich gereinigt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Ein anderer Beweis, daß ich vielleicht minder schlecht bin als sonst, ist die unsägliche Freude, die ich empfinde, dich, Ungeheuer, hier festzuhalten - nicht um mich zu rächen, sondern um unsere Opfer zu rächen. Ja, ich werde eine Pflicht erfüllen, wenn ich mit eigener Hand meine Mitschuldige strafe ... Ich verabscheue jetzt meine frühern Mordtaten, und doch - findest du das nicht seltsam? - werde ich ohne Furcht, mit völliger Ruhe an dir einen schrecklichen Mord mit ausgesucht schrecklicher Grausamkeit begehen. Sag, sag, begreifst du das?">

Der maître d'école durchläuft in diesen wenigen Worten eine ganze Tonleiter moralischer Kasuistik.

Seine erste Äußerung ist eine offenherzige Äußerung der Rachelust. Er will Tortur für Tortur geben. Er will die Chouette morden, er will ihre Todesangst durch einen langen Sermon verlängern, und - köstliche Sophistik! - diese Rede, womit er sie peinigt, ist ein moralischer Sermon. Er behauptet, der Traum zu Bouqueval habe ihn gebessert. Er offenbart zugleich die eigentlich wahre Wirkung dieses Traums, indem er gesteht, daß er ihn fast verrückt gemacht habe, daß er ihn verrückt machen wird. Als einen Beweis seiner Besserung führt er an, daß er die Peinigung der Fleur de Marie verhindert habe. Bei Eugen Sue müssen die Personen, früher der Chourineur, hier der maître d'école, seine eigene schriftstellerische Absicht, welche ihn bestimmt, sie so und nicht anders handeln zu lassen, als ihre Reflexion, als das bewußte Motiv ihrer Handlung aussprechen. Sie müssen beständig sagen: Hierin hab' ich mich gebessert, darin, darin etc. Da sie zu keinem wirklich

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inhaltsvollen Leben kommen, so müssen sie unbedeutenden Zügen, wie hier der Beschützung der Fleur de Marie, durch ihre Zunge starke Töne verleihen.

Nachdem der maître d'école die wohltätige Wirkung des Traumes zu Bouqueval berichtet hat, muß er erklären, warum Eugen Sue ihn in einen Keller einsperren ließ. Er muß das Verfahren des Romanschreibers vernünftig finden. Er muß der Chouette sagen: Dadurch, daß du mich in einen Keller einsperrtest, mich von Ratten benagen, mich Hunger und Durst leiden ließest, hast du meine Besserung vollendet. Die Einsamkeit hat mich gereinigt.

Das tierische Gebrüll, die rasende Wut, die furchtbare Rachelust, womit der maître d'école die Chouette empfängt, schlagen dieser moralischen Phraseologie ins Gesicht. Sie verraten den Charakter der Reflexionen, die er in seinem Kerker anstellte.

Der maître d'école scheint dies selbst zu empfinden, aber als ein kritischer Moralist wird er die Widersprüche zu vereinigen wissen.

Eben die "grenzenlose Freude", die Chouette in seiner Gewalt zu haben, erklärt er für ein Zeichen seiner Besserung. Seine Rachlust ist nämlich keine natürliche, sondern eine moralische Rachlust. Nicht sich, sondern seine und Chouettes gemeinschaftliche Opfer will er rächen. Wenn er sie mordet, so begeht er keinen Mord, er erfüllt eine Pflicht. Er rächt sich nicht an ihr, er bestraft als ein unparteiischer Richter seine Mitschuldige. Er hat einen Schauder vor seinen vergangenen Mordtaten, und dennoch - er selbst ist über seine Kasuistik verwundert - und dennoch fragt er die Chouette, findest du es nicht bizarr? furchtlos, sorglos will ich dich töten! Aus nicht angegebenen moralischen Gründen weidet er sich zugleich an dem Gemälde des Mords, den er begehen will, als eines meurtre affreux <schrecklichen Mordes>, als eines meurtre avec des raffinements affreux <Mordes mit ausgesucht schrecklicher Grausamkeit>.

Daß der maître d'école die Chouette mordet, entspricht seinem Charakter, namentlich nach der Grausamkeit, womit sie ihn mißhandelt hat. Daß er aber aus moralischen Motiven mordet, daß er seine barbarische Freude an dem meurtre affreux, an den raffinements affreux moralisch interpretiert, daß er die Reue über die vergangenen Mordtaten eben in der Vollbringung einer neuen Mordtat bewährt, daß er aus einem einfachen ein doppelsinniger, ein moralischer Mörder geworden ist - das ist das glorreiche Resultat von Rudolphs kritischer Kur.

Die Chouette sucht sich dem maître d'école zu entziehen. Er bemerkt es und hält sie fest.

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"Tiens-toi donc, la chouette, il faut que je finisse de t'expliquer comment peu à peu j'en suis venu à ma repentir ... cette révélation te sera odieuse ... et elle te prouvera aussi combien je dois être impitoyable dans la vengeance, que je veux exercer sur toi au nom de nos victimes ... Il faut que je me hâte ... la joie de te tenir là me fait boudir le sang ... j'aurai le temps de te rendre les approches de la mort effroyables en te forçant de m'entendre ... Je suis aveugle ... et ma pensée prend une forme, un corps pour me représenter incessamment d'une manière visible, presque palpable ... les traits de mes victimes ... les idées s'imagent presque matériellement dans le cerveau. Quand au repentir se joint une expiation d'une effrayante sévérité ... une expiation qui change notre vie en une longue insomnie remplie d'hallucinations vengeresses ou de réflexions désespérées ... peut-être alors le pardon des hommes succède au remords et à l'expiation."

<"Halt still, Eule, ich muß dir vollends erklären, wie ich zur Reue gekommen bin. Diese Erzählung wird dir widerwärtig sein, sie wird dir beweisen, wie unbarmherzig ich in der Rache sein werde, die ich im Namen unserer Opfer an dir üben will. Aber ich muß mich beeilen - mein Blut hüpft vor Freude, dich hier zu halten ... ich werde doch Zeit haben, dir die Nähe des Todes schrecklich zu machen, wenn ich dich zwinge, mich anzuhören ... Ich bin blind, und meine Gedanken nehmen eine Gestalt, einen Körper an, um mir unablässig sichtbar, fast greifbar, die Züge meiner Opfer vorzustellen ... Die Ideen bilden sich beinahe materiell im Gehirn ab ... Wenn sich mit der Reue eine entsetzlich harte Buße verbindet, eine Buße, welche das Leben in eine lange schlaflose Nacht mit verzweiflungsvollen Gedanken und rächenden Visionen verwandelt - dann folgt vielleicht der Reue und der Buße die Verzeihung der Menschen."> 

Der maître d'école fährt fort in seiner Heuchelei, die sich jeden Augenblick als Heuchelei verrät. Chouette soll hören, wie er nach und nach zur Reue gekommen ist. Diese Enthüllung wird ihr gehässig sein, denn sie wird beweisen, daß es seine Pflicht ist, eine unbarmherzige Rache nicht in seinem eignen Namen, sondern im Namen ihrer gemeinschaftlichen Opfer an ihr zu vollziehen. Plötzlich unterbricht der maître d'école seine didaktische Vorlesung. Er muß, wie er sagt, "eilen" mit seiner Lektion, denn: die Freude, sie zu halten, macht das Blut in seinen Adern springen; moralischer Grund, die Vorlesung abzukürzen! Dann beschwichtigt er wieder sein Blut. Die lange Zeit, während welcher er ihr Moral predigt, ist ja nicht für seine Rache verloren. Sie wird ihr "die Annäherung des Todes fürchterlich machen". Anderer moralischer Grund, seinen Sermon auszuspinnen! Und nun, nach diesen moralischen Gründen, kann er getrost seinen moralischen Text wieder da aufnehmen, wo er ihn hat fallenlassen.

Der maître d'école beschreibt richtig den Zustand, worin die Isolierung von der Außenwelt den Menschen stürzt. Der Mensch, dem die sinnliche Welt zu einer Idee wird, ihm verwandeln sich dagegen bloße Ideen in sinnliche Wesen. Die Gespinste seines Gehirns nehmen körperliche Form an.

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Innerhalb seines Geistes erzeugt sich eine Welt von greifbaren, fühlbaren Gespenstern. Das ist das Geheimnis aller frommen Visionen, das ist zugleich die allgemeine Form der Verrücktheit. Der maître d'école, der die Phrasen Rudolphs über die "Macht der Reue und Buße, verbunden mit schrecklichen Martern" wiederholt, wiederholt sie daher schon als ein halb Verrückter und bewährt so tatsächlich den Zusammenhang des christlichen Sündenbewußtseins mit dem Wahnsinn. Ebenso, wenn der maître d'école die Verwandlung des Lebens in eine Traumnacht, die von Blendwerken erfüllt wird, als das wahre Ergebnis der Reue und Buße betrachtet, so spricht er das wahre Geheimnis der reinen Kritik und der christlichen Besserung aus. Sie besteht eben darin, den Menschen in ein Gespenst und sein Leben in ein Traumleben zu verwandeln.

Eugen Sue empfindet an diesem Punkt, wie sehr die heilsamen Gedanken, die er den blinden Räuber dem Rudolph nachplaudern läßt, durch dessen Verfahren gegen die Chouette blamiert werden. Er legt daher dem maître d'école in den Mund:

"La salutaire influence de ces pensées est telle que ms fureur s'apaise." <"Diese Gedanken haben einen so heilsamen Einfluß, daß meine Wut nachläßt.">

Der maître d'école gesteht also nun, daß sein moralischer Zorn nichts anders als eine profane Wut war.

"Le courage ... la force ... le volonté me manquent pour te tuer ... non, ce n'est pas à moi de verser ton sang ... cc serait ... un meurtre", er nennt die Sache bei ihrem Namen ... "meurtre excusable peut-être ... mais ce serait toujours un meurtre."' :

<"Es gebricht mir an Mut, an Kraft und an dem Willen, dich zu strafen ... Nein, es steht mir nicht zu, dein Blut zu vergießen; es wäre das ein Mord, ein zu entschuldigender vielleicht, aber doch immer ein Mord." >

Zu rechter Zeit verwundet die Chouette den maître d'école mit ihrem Stilett. Eugen Sue kann ihn nun ohne weitere moralische Kasuistik die Chouette töten lassen.

"Il poussa un cri de douleur ... les ardeurs féroces de sa vengeance, de ses rages, ses instincts sanguinaires, brusquement réveillés et exaspérés par cette attaque, firent une explosion soudaine, terrible, où s'abîma sa raison déjà fortement ébranlée ... Ah vipère! ... j'ai senti ta dent ... tu seras comme moi sans yeux."

<"Er stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus. Die Glut ... seines Rachedurstes, seiner Wut, seines Blutdurstes, die durch diesen Angriff plötzlich geweckt und zum Äußersten gesteigert wurde, brach gräßlich aus, und sein bereits erschütterter Verstand verließ ihn ganz und gar. - Ah, Schlange, ich habe deinen Zahn gefühlt! ... Du sollst wie ich ohne Augen sein.">

Er kratzt ihr die Augen aus.

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In dem Augenblick, wo die durch Rudolphs Kur nur heuchlerisch, nur sophistisch verbrämte, nur asketisch übermannte Natur des maître d'école hervorbricht, ist die Explosion um so gewaltsamer und fürchterlicher. Eugen Sues Geständnis, wonach die Vernunft des maître d'école, durch alle Ereignisse, die Rudolph vorbereitet hatte, schon stark erschüttert war, ist dankenswert.

"Der letzte Strahl seiner Vernunft erlosch in diesem Schrei des Entsetzens, in diesem Schrei eines Verdammten" (er sieht die Gespenster der Ermordeten)"... der maître d'école tobt und brüllt wie ein rasendes Tier ... Er schleift die Chouette zu Tode."

Herr Szeliga murmelt in seinen Bart:

"Mit dem Schulmeister kann nicht eine so schnelle (!) und glückliche (!) Umwandlung (!) als mit dem Schurimann vorgehen."

Wie Rudolph die Fleur de Marie zur Bewohnerin des Klosters, so macht er den maître d'école zum Bewohner des Irrenhauses, des Bicêtre. Er hat nicht nur seine physische, er hat auch seine geistige Kraft paralysiert. Und mit recht. Denn nicht nur mit der physischen, auch mit der geistigen Kraft hat er gesündigt, und nach der Straftheorie Rudolphs muß man die sündigenden Kräfte vernichten.

Aber noch hat Herr Eugen Sue "die Buße und Reue, verbunden mit einer schrecklichen Rache", nicht vollendet. Der maître d'école kommt wieder zu Verstand, bleibt aber aus Furcht, der Justiz ausgeliefert zu werden, im Bicêtre und spielt den Verrückten. Herr Sue vergißt, daß "jedes seiner Worte ein Gebet sein sollte" und daß es schließlich vielmehr das unartikulierte Heulen und Rasen eines Wahnsinnigen ist, oder stellt etwa ironischerweise Herr Sue diese Lebensäußerung mit dem Beten auf eine Rangstufe?

Die Idee der Strafe, welche Rudolph in der Blendung des maître d'école anwendet, diese Isolierung des Menschen auf seine Seele und von der Außenwelt, die Verbindung der juristischen Strafe mit der theologischen Quälerei, hat ihre entschiedenste Ausführung - im Zellularsystem. Herr Sue feiert daher auch das Zellularsystem.

"Wie vieler Jahrhunderte bedurfte es, um zu erkennen, daß es nur ein Mittel gibt, um den reißend um sich greifenden Aussatz, welcher den sozialen Körper bedroht" (nämlich die Verdorbenheit in den Gefängnissen), "zu tilgen - die Isolierung."

Herr Sue teilt die Ansicht der honetten Leute, welche die Ausbreitung der Verbrechen aus der Einrichtung der Gefängnisse erklären. Um den Verbrecher der schlechten Gesellschaft zu entziehen, überlassen sie ihn seiner eignen Gesellschaft.

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Herr Eugen Sue erklärt:

"Ich würde mich glücklich schätzen, wenn meine schwache Stimme unter all denen gehört werden könnte, welche mit so großem Recht und so großer Beharrlichkeit auf die vollständige, absolute Anwendung des Zellularsystems dringen."

Herrn Sues Wunsch ist nur teilweise in Erfüllung gegangen. In den diesjährigen Verhandlungen der Deputiertenkammer über das Zellularsystem mußten sogar die offiziellen Verteidiger dieses Systems zugestehn, daß es früher oder später die Verrücktheit der Verbrecher zur Folge habe. Alle Gefängnisstrafe über 10 Jahre mußte daher in Deportation verwandelt werden.

Hätten Herr Tocqueville und Herr Beaumont den Roman Eugen Sues gründlich studiert, sie hätten unfehlbar die absolute, vollständige Anwendung des Zellularsystems durchgesetzt.

Wenn Eugen Sue nämlich den Verbrechern bei gesundem Verstande die Gesellschaft entzieht, um sie verrückt zu machen, so gibt er den Verrückten Gesellschaft, um sie zu Verstand zu bringen.

"L'expérience prouve que pour les aliénés l'isolement est aussi funeste qu'il est salutaire pour les détenus criminels."

<"Die Erfahrung beweist, daß bei den Irren die Isolierung so verderblich, wie sie bei Verbrechern heilsam ist.">

Wenn nun Herr Sue und sein kritischer Held Rudolph weder mit der katholischen Straftheorie noch mit dem methodistischen Zellularsystem das Recht um irgendein Geheimnis ärmer gemacht haben, so haben sie dagegen die Medizin mit neuen Geheimnissen bereichert, und am Ende ist es ebenso verdienstvoll, neue Geheimnisse zu entdecken, als alte Geheimnisse zu enthüllen. Die kritische Kritik berichtet mit Herrn Sue übereinstimmend über die Blendung des maître d'école:

"Er glaubt nicht einmal, wenn man ihm sagt, er sei des Lichts seiner Augen beraubt."

Der maître d'école konnte nicht an den Verlust des Augenlichts glauben, weil er wirklich noch sah. Herr Sue beschreibt einen neuen Star, er teilt ein wirkliches Geheimnis für die massenhafte, unkritische Ophthalmologie mit.

Die Pupille ist weiß nach der Operation. Es handelt sich also um einen Linsenstar. Diesen hat man freilich bis jetzt wohl durch Verletzung der Linsenkapsel herbeiführen können, auch ziemlich schmerzlos, wenn auch nicht völlig ohne Schmerz. Da aber die Mediziner nur auf naturgemäßem, nicht auf kritischem Wege dies Resultat erreichen, so blieb nichts übrig, als nach der

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Verletzung die Entzündung mit ihrer plastischen Ausschwitzung abzuwarten, um eine Trübung der Linse zu erhalten.

Ein noch größeres Wunder und Geheimnis trägt sich im 3. Kapitel des 3. Bandes mit dem maître d'école zu.

Der Erblindete sieht wieder:

"La chouette, le maître d'école et Tortillard virent le prêtre et Fleur de Marie."

 <"Die Eule, der Schulmeister und der kleine Lahme sahen die Geistlichen und Marie.">

Wollen wir dieses Sehen des maître d'école nun nicht nach dem Vorgang der "Kritik der Synoptiker" als ein schriftstellerisches Wunder deuten, so wird der maître d'école sich seinen Star wieder haben operieren lassen. Später ist er wieder erblindet. Er hat also sein Auge zu früh gebraucht, durch Lichtreiz ist eine Entzündung herbeigeführt worden, welche mit einer Lähmung der Retina endete und eine unheilbare Amaurose bewirltte. Daß dieser Prozeß hier in einer Sekunde vor sich geht, ist ein neues mystère für die unkritische Opthalmologie.

b) Belohnung und Strafe. Die doppelte Justiz, nebst Tabelle

Held Rudolph enthüllt die neue Theorie, welche die Gesellschaft durch Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen aufrechterhält. Unkritisch betrachtet, ist diese Theorie keine andre als die Theorie der heutigen Gesellschaft. Wie wenig läßt sie es an Belohnungen für die Guten und an Strafen für die Bösen fehlen! Gegen dies enthüllte Geheimnis, wie unkritisch ist nicht der massenhafte Kommunist Owen, der in der Strafe und Belohnung die Heiligung der gesellschaftlichen Rangunterschiede und den vollkommnen Ausdruck einer knechtischen Verworfenheit erblickt.

Als neue Enthüllung könnte es erscheinen, daß Eugen Sue von der Justiz - von einem Pendant zur Kriminaljustiz die Belohnungen ausgehn läßt und, unzufrieden mit einer Gerichtsbarkeit, zwei erfindet. Leider ist auch dies enthüllte Geheimnis die Wiederholung einer alten, von Bentham in seinem oben angeführten Buche weitläufig entwickelten Lehre. Dagegen soll Herrn Eugen Sue die Ehre nicht streitig gemacht werden, auf eine ungleich kritischere Weise wie Bentham seinen Vorschlag motiviert und entwickelt zu haben. Während der massenhafte Engländer ganz auf ebener Erde stehenbleibt, erhebt sich die Suesche Deduktion in die kritische Region des Himmels. Herr Sue entwickelt wie folgt:

"Um die Bösen zu schrecken, materialisiert man die vorweggenommenen Wirkungen des himmlischen Zorns. Warum sollte man nicht die Wirkung der göttlichen

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Belohnung in bezug auf die Guten in ähnlicher Weise materialisieren und auf Erden antizipieren?"

Nach unkritischer Ansicht hat man umgekehrt in der himmlischen Kriminaltheorie nur die irdische idealisiert, wie man in der göttlichen Belohnung nur die menschliche Lohndienerei idealisiert hat. Wenn die Gesellschaft nicht alle Guten belohnt, so ist dies unumgänglich nötig, damit die göttliche Gerechtigkeit doch irgend etwas vor der menschlichen voraus habe.

Herr Sue gibt nun in der Ausmalung seiner kritisch belohnenden Justiz "ein Beispiel jenes weiblichen", von Herrn Edgar an der Flora Tristan mit aller "Ruhe des Erkennens" gerügten "Dogmatismus, der eine Formel haben will und sich dieselbe nach den Kategorien des Bestehenden bildet". Herr Engen Sue entwirft zu jedem Stück der bestehenden Kriminaljustiz, die er bestehen läßt, ein bis ins Detail kopierendes Gegenbild der belohnenden Justiz, die er hinzufügt. Wir wollen, zur leichteren Übersicht des Lesers, seine Schilderung von Bild und Gegenbild in eine Tabelle zusammenbringen.

Herr Sue, von dem Anblick dieses Gemäldes ergriffen, ruft aus:

"Hélas, c'est une utopie, mais supposez qu'une société soit organisée de telle sorte!"

<"Ach, das ist eine Utopie, aber nehmt an, eine Gesellschaft wäre auf diese Art organisiert!">

Das wäre also die kritische Organisation der Gesellschaft. Wir müssen diese Organisation gegen den Vorwurf Eugen Sues, daß sie bisher noch ein Utopien geblieben sei, förmlich in Schutz nehmen. Sue hat den "Tugendpreis", der jährlich in Paris ausgeteilt wird und den er selbst erwähnt, wieder vergessen. Dieser Preis ist sogar doppelt organisiert, der materielle prix Montyon für edle Handlungen der Männer und Frauen, und der prix rosière für die sittsamsten Mädchen. Hier fehlt sogar die von Engen Sue verlangte Rosen-Krone nicht.

Was die espionnage de vertu <Tugendspionage> wie die surveillance de haute charité morale <Aufsicht der hohen moralischen Fürsorge>betrifft, so ist sie von den Jesuiten längst organisiert. Überdem signalisieren und denunzieren das "Journal des Débats", der "Siècle", die "Petites Affiches de Paris" etc. die Tugenden, edlen Handlungen und Verdienste sämtlicher Pariser Stockjobbers täglich zu kostenden Preisen, abgesehen vom Signalisieren und Denunzieren der politischen edlen Handlungen, für welche jede Partei ihr eignes Organ besitzt.

Schon der alte Voß hat bemerkt, daß Homer besser ist als seine Götter. Das "enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse", Rudolph, können wir daher für Engen Sues Ideen verantwortlich machen.

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Tabelle der kritisch vollständigen Justiz

Bestehende Justiz

Kritisch ergänzende Justiz

Namen: Justice Criminelle
<Kriminaljustiz>

Namen: Justice Vertueuse
<Tugendjustiz>

Sigalement: hält in der Hand ein Schwert, um die Bösen um einen Kopf verkürzen.

Signalement: hält in der Hand eine Krone, um die Guten um einen Kopf zu erhöhen.

Zweck: Bestrafung der Bösen, Gefangenschaft, Infamie, Lebensberaubung.
Das Volk erfährt die schreckliche Züchtigung für den Bösen

Zweck: Belohnung des Guten, Freitisch, Ehre, Lebenserhaltung.
Das Volk erfährt den eklatanten Triumph für den Guten.

Mittel, um die Bösen zu entdecken: Polizeiliche Spionage, Mouchards, um den Bösen aufzulauern.

Mittel, um die Guten zu entdecken: Espionage de vertu, Mouchards, um den Tugendhaften aufzulauern.

Entscheidung, ob einer ein Böser sei: Les assises du crime, Assisen für das Verbrechen. Das öffentliche Ministerium signalisiert die Verbrechen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Rache

Entscheidung, ob einer ein Guter sei: Assises de la vertu, Assisen für die Tugend. Das öffentliche Ministerium signalisiert die edlen Handlungen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Erkenntlichkeit.

Zustand des Verbrechers nach dem Urteil: Er steht unter der surveilance de la haute police. Er wird ernährt im Gefängnis. Der Staat macht Ausgaben für ihn.

Zustand des Tugendhaften nach dem Urteil: Er steht unter der surveillance de la haute charité morale. Er wird ernährt in seinem Hause. Der Staat macht Ausgaben für ihn.

Exekution: Der Verbrecher steht auf dem Schafott.

Exekution: Grade gegenüber dem Schafott des Verbrechers erhebt sich ein Piedestal, worauf der grand homme de bien <große Biedermann> steigt, ein Tugendpranger.

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Überdem berichtet Herr Szeliga:

"Außerdem sind der Stellen, mit denen Eugen Sue die Erzählung unterbricht, Episoden einleitet und schließt, sehr viele, und alle sind Kritik."

c) Auflebung der Verwilderung innerhalb der Zivilisation und der Rechtslosigkeit im Staate

Das juristische Präventivmittel zur Aufhebung der Verbrechen und damit der Verwilderung innerhalb der Zivilisation besteht in der "schützenden Tutelle, welche der Staat über die Kinder der Hingerichteten und zu lebenslänglichen Strafen Verurteilten übernimmt". Sue will die Verteilung der Verbrechen liberaler organisieren. Keine Familie soll mehr ein erbliches Privilegium auf das Verbrechen besitzen - die freie Konkurrenz der Verbrechen soll über das Monopol siegen.

"Die Rechtslosigkeit im Staat" hebt Herr Sue durch die Reform des code pénal <Strafgesetzbuch> in seinem Abschnitt über die "abus de confiance" <"Vertrauensbruch"> und namentlich durch die Einsetzung von besoldeten Armenadvokaten auf. In Piemont, Holland etc., wo der Armenadvokat existiert, findet Herr Sue daher die Rechtslosigkeit im Staat aufgehoben. Die französische Gesetzgebung fehlt nur darin, daß sie den Armenadvokaten nicht besoldet, nicht ausschließlich auf das Armenfach anweist, und die gesetzliche Grenze der Armut zu eng ist. Als wenn die Rechtslosigkeit nicht eben erst recht im Prozeß selbst begönne, und als wenn man in Frankreich nicht längst wüßte, daß das Recht nichts gibt, sondern nur das Vorhandene sanktioniert. Die schon trivial gewordene Unterscheidung von droit <Recht>und fait <Tatsache> scheint dem kritischen Romanschreiber ein mystère de Paris geblieben zu sein.

Nimmt man zu der kritischen Enthüllung der rechtlichen Geheimnisse noch die großen Reformen hinzu, die Eugen Sue mit den huissiers <Gerichtsvollziehern> anstellen will, so wird man das Pariser Journal "Satan" begreifen. Es läßt ein Stadtviertel an jenen "grand réformateur à tant la ligne" <"großen, nach Zeilen bezahlten Reformator">schreiben, seinen Straßen fehle noch die Gasbeleuchtung. Herr Sue antwortet, daß er diesem Übel im 6. Band seines "Juif errant" <"Ewigen Juden"> abhelfen werde. Ein anderes Stadtviertel klagt über den mangelhaften Präliminarunterricht. Er verspricht, die Reform des Präliminarunterrichts für dieses Stadtviertel im 10. Bande seines "Juif errant" zu bewerkstelligen.


4. Das enthüllte Geheimnis des "Standpunktes"

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Nicht auf seinem erhabenen (!) Standpunkt bleibt Rudolph stehen ... er scheut die Mühe nicht, die Standpunkte rechts und links, den oben, den in der Tiefe, aus freier Wahl einzunehmen." Szeliga.

Ein Hauptgeheimnis der kritischen Kritik ist der "Standpunkt" und die Beurteilung vom Standpunkte des Standpunktes. Jeder Mensch wie jedes geistige Produkt verwandelt sich ihr in einen Standpunkt.

Es ist nichts leichter, als hinter das Geheimnis des Standpunktes zu kommen, wenn man das allgemeine Geheimnis der kritischen Kritik, alten, spekulativen Kohl neu aufzuwärmen, durchschaut hat.

Zunächst spreche sich die Kritik selbst durch den Mund des Patriarchen, des Herrn Bruno Bauer, über ihre Theorie des "Standpunktes" aus.

"Die Wissenschaft ... hat es nie mit diesem einzelnen Individuum oder diesem bestimmten Standpunkt zu tun ... Sie wird es allerdings nicht daran fehlen lassen und die Schranke eines Standpunktes, wenn es sich der Mühe verlohnt und diese Schranke wirklich allgemeine menschliche Bedeutung hat, aufheben; aber sie faßt dieselbe als reine Kategorie und Bestimmtheit des Selbstbewußtseins und spricht demnach nur für diejenigen, welche die Kühnheit haben, sich in die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins zu erheben, d.h. in jener Schranke nicht mit aller Gewalt stehenbleiben wollen." ("Anekdota", T. II, p. 127.)

Das Geheimnis dieser Bauerschen Kühnheit ist die Hegelsche "Phänomenologie". Weil Hegel hier das Selbstbewußtsein an die Stelle des Menschen setzt, so erscheint die verschiedenartigste menschliche Wirklichkeit nur als eine bestimmte Form, als eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. Eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist aber eine "reine Kategorie", ein bloßer "Gedanke", den ich daher auch im "reinen" Denken aufheben und durch reines Denken überwinden kann. In Hegels "Phänomenologie" werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewußtseins stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein "Gedankending", in eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im "Äther des reinen Gedankens" auflösen kann. Die "Phänomenologie" endet daher konsequent damit, an die Stelle aller menschlichen Wirklichkeit das "absolute Wissen" zu setzen - Wissen, weil dies die einzige Daseinsweise des Selbstbewußtseins ist und weil das Selbstbewußtsein für die

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einzige Daseinsweise des Menschen gilt - absolutes Wissen, eben weil das Selbstbewußtsein nur sich selbst weiß und von keiner gegenständlichen Welt mehr geniert wird ... Hegel macht den Menschen zum Menschen des Selbstbewußtseins, statt das Selbstbewußtsein zum Selbstbewußtsein des Menschen, des wirklichen, daher auch in einer wirklichen, gegenständlichen Welt lebenden und von ihr bedingten Menschen zu machen. Er stellt die Welt auf den Kopf und kann daher auch im Kopf alle Schranken auflösen, wodurch sie natürlich für die schlechte Sinnlichkeit, für den wirklichen Menschen bestehen bleiben. Überdem gilt ihm notwendigerweise alles das als Schranke, was die Beschränktheit des allgemeinen Selbstbewußtseins verrät, alle Sinnlichkeit, Wirklichkeit, Individualität der Menschen wie ihrer Welt. Die ganze "Phänomenologie" will beweisen, daß das Selbstbewußtsein die einzige und alle Realität ist.

Herr Bauer hat in neuerer Zeit das absolute Wissen in Kritik umgetauft und die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins in den profaner klingenden Standpunkt. In den "Anekdotis" stehen noch beide Namen zusammen, und der Standpunkt wird noch durch die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins kommentiert.

Weil die "religiöse Welt als religiöse Welt" nur als die Welt des Selbstbewußtseins existiert, so kann der kritische Kritiker - Theologe ex professo <von Amts wegen> - gar nicht auf den Gedanken geraten, daß es eine Welt gibt, worin Bewußtsein und Sein unterschieden sind, eine Welt, die nach wie vor stehenbleibt, wenn ich bloß ihr Gedankendasein, ihr Dasein als Kategorie, als Standpunkt aufhebe, d.h., wenn ich mein eignes subjektives Bewußtsein modifiziere, ohne die gegenständliche Wirklichkeit auf wirklich gegenständliche Weise zu verändern, d.h., ohne meine eigne gegenständliche Wirklichkeit zu verändern, meine eigne und die der andern Menschen. Die spekulative mystische Identität von Sein und Denken wiederholt sich daher in der Kritik als die gleich mystische Identität von Praxis und Theorie. Daher ihr Ärger gegen die Praxis, die noch etwas anders als Theorie, und gegen die Theorie, die noch etwas anders als die Auflösung einer bestimmten Kategorie in die "schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins" sein will. Ihre eigne Theorie beschränkt sich darauf, alles Bestimmte für einen Gegensatz gegen die schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, daher für nichtig zu erklären, so z.B. den Staat, das Privateigentum usw. Es muß umgekehrt gezeigt werden, wie Staat, Privateigentum usw. die Menschen in Abstraktionen verwandeln oder Produkte des abstrakten Menschen sind, statt die Wirklichkeit der individuellen, konkreten Menschen zu sein.

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Es versteht sich endlich von selbst, daß, wenn Hegels "Phänomenologie" ihrer spekulativen Erbsünde zum Trotz an vielen Punkten die Elemente einer wirklichen Charakteristik der menschlichen Verhältnisse gibt, Herr Bruno und Konsorten dagegen nur die inhaltslose Karikatur liefern, eine Karikatur, die sich damit begnügt, irgendeine Bestimmtheit aus einem geistigen Produkt oder auch aus realen Verhältnissen und Bewegungen herauszunehmen, diese Bestimmtheit in eine Gedankenbestimmtheit, in eine Kategorie zu verwandeln und diese Kategorie für den Standpunkt des Produkts, des Verhältnisses und der Bewegung auszugeben, um nun mit altkluger Weisheit vom Standpunkt der Abstraktion, der allgemeinen Kategorie, des allgemeinen Selbstbewußtseins auf diese Bestimmtheit triumphierend herabsehen zu können.

Wie für Rudolph alle Menschen auf dem Standpunkt des Guten oder Böen stehen und nach diesen beiden fixen Vorstellungen beurteilt werden, so für Herrn Bauer und Konsorten auf dem Standpunkte der Kritik oder der Masse. Beide aber verwandeln die wirklichen Menschen in abstrakte Standpunkte.


5. Enthüllung des Geheimnisses von der Utilisierung der menschlichen Triebe oder Clémence d'Harville

Rudolph hat bisher nur die Guten in seiner Weise zu belohnen und die Bösen in seiner Weise zu bestrafen gewußt. Wir werden ihn nun an einem Beispiel die Leidenschaften nützlich machen und dem "schönen Naturell der Clémence von Harville eine angemessene Entwicklung geben sehen".

"Rudolph", sagt Herr Szeliga, "weist sie auf die unterhaltende Seite der Wohltätigkeit hin. Ein Gedanke, der von einer Menschenkenntnis, wie sie nur aus dem durch die Prüfung hindurchgegangenen Innern Rudolphs hervorgehen kann, zeugt,"

Die Ausdrücke, deren sich Rudolph in der Unterhaltung mit Clémence bedient: "faire attrayant", "utiliser le goût naturel", "régler l'intrigue", "utiliser les penchants à la dissimulation et à la ruse", "changer en qualités généreuses des instincts impérieux, inexorables" <"anziehend machen", "den natürlichen Geschmack ausnutzen", "die Intrige regeln", "die Neigung zur Verstellung und zur List ausnutzen", "die herrischen, unerbittlichen Instinkte in edle Eigenschaften umwandeln"> etc. - diese Ausdrücke ebensosehr wie die Triebe selbst, welche hier der weiblichen Natur vorzugsweise zugeschrieben werden, verraten die geheime Quelle von Rudolphs Weisheit - Fourier. Es ist ihm eine populäre Darstellung der fourieristischen Lehre in die Hand gefallen.

Die Anwendung ist wieder ebensosehr Rudolphs kritisches Eigentum wie die obige Ausführung der Theorie Benthams.

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Nicht in der Wohltätigkeit als solcher soll die junge Marquise eine Befriedigung ihres menschlichen Wesens, einen menschlichen Inhalt und Zweck der Tätigkeit und darum eine Unterhaltung finden. Die Wohltätigkeit bietet vielmehr nur den äußern Anlaß, nur den Vorwand, nur die Materie zu einer Art von Unterhaltung, die ebensogut jede andre Materie zu ihrem Inhalt machen könnte. Das Elend wird mit Bewußtsein ausgebeutet, um dem Wohltäter "das Pikante des Romans, Befriedigung der Neugierde, Abenteuer, Verkleidungen, Genuß der eignen Vortrefflichkeit, Nervenerschütterungen" und dergleichen zu verschaffen.

Rudolph hat damit unbewußt das längst enthüllte Geheimnis ausgesprochen, daß das menschliche Elend selbst, daß die unendliche Verworfenheit, welche das Almosen empfangen muß, der Aristokratie des Geldes und der Bildung zum Spiel, zur Befriedigung ihrer Selbstliebe, zum Kitzel ihres Übermuts, zum Amüsement dienen muß.

Die vielen Wohltätigkeitsvereine in Deutschland, die vielen wohltätigen Gesellschaften in Frankreich, die zahlreichen wohltätigen Donquichotterien in England, die Konzerte, Bälle, Schauspiele, Essen für Arme, selbst die öffentlichen Subskriptionen für Verunglückte haben keinen andern Sinn. In dieser Weise wäre also auch die Wohltätigkeit längst als Unterhaltung organisiert.

Die plötzliche, unmotivierte Umwandlung der Marquise bei dem bloßen Wort "amüsant" läßt uns an der Nachhaltigkeit ihrer Kur zweifeln, oder vielmehr diese Umwandlung ist nur zum Schein plötzlich und unmotiviert, nur zum Schein durch die Schilderung der charité als eines Amüsements bewirkt. Die Marquise liebt Rudolph, und Rudolph will sich mit ihr verkleiden, intrigieren, auf Wohltätigkeitsabenteuer ausziehen. Später, bei einem wohltätigen Besuch der Marquise in dem Gefängnisse Saint-Lazare, kömmt der Fleur de Marie gegenüber ihre Eifersucht zum Vorschein, und aus Wohltätigkeit gegen ihre Eifersucht verschweigt sie dem Rudolph die Detention der Marie. Im besten Falle aber ist es dem Rudolph gelungen, eine unglückliche Frau mit unglücklichen Wesen eine alberne Komödie spielen zu lehren. Das Geheimnis der von ihm ausgeheckten Philanthropie verriet jener Dandin von Paris, der seine Dame nach dem Tanze mit folgenden Worten zum Souper aufforderte:

"Ah Madame! ce n'est pas assez d'avoir dansé au bénéfice des ces pauvres Polonais ... soyons philanthropes jusqu'au bout ... allons souper maintenant au profit des pauvres!" 

"Ah, gnädige Frau, es ist nicht genug, zum Wohle dieser armen Polen getanzt zu haben ... seien wir Menschenfreunde bis zum letzten ... lassen Sie uns jetzt zum Nutzen der Armen zu Abend essen!"


6. Enthüllung des Geheimnisses der Emanzipation der Weiber oder Louise Morel

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Bei Gelegenheit der Verhaftung der Louise Morel stellt Rudolph Reflexionen an, die sich dahin resümieren:

"Der Herr verdirbt oft die Magd, sei es durch Schrecken, Überraschung oder durch sonstige Benutzung der Gelegenheiten, welche die Natur des Dienstverhältnisses herbeiführt. Er stürzt sie in Unglück, Schmach, Verbrechen. Das Gesetz bleibt diesem Gegenstand fremd ... Der Verbrecher, der das Mädchen zum Kindermord faktisch gezwungen wird, wird nicht gestraft."

Rudolphs Reflexionen erstrecken sich nicht einmal so weit, das Dienstverhältnis selbst seiner allerdurchlauchtigsten Kritik zu unterwerfen. Als ein kleiner Herrscher ist er ein großer Gönner von Dienstverhältnissen. Noch weniger geht Rudolph dazu fort, die allgemeine Stellung des Weibes in der heutigen Gesellschaft als unmenschlich zu begreifen. Ganz seiner bisherigen Theorie getreu, vermißt er nichts als ein Gesetz, welches den Verführer straft und die Reue und Buße mit schrecklichen Züchtigungen verbindet.

Rudolph hätte sich nur in der existierenden Gesetzgebung anderer Länder umzusehen. Die englische Gesetzgebung erfüllt alle seine Wünsche. Sie geht in ihrem Zartgefühl, das Blackstone rühmlich hervorhebt, so weit, auch den, der ein Freudenmädchen verführt, der Felonie für schuldig zu erklären.

Herr Szeliga bläst Tusch:

"Dies! - denkt! - Rudolph! - und nun haltet diese Gedanken gegen eure Phantasien von der Emanzipation des Weibes. Die Tat dieser Emanzipation ist aus ihnen fast mit Händen zu greifen, während ihr von Hause aus viel zu praktisch seid und daher mit euren bloßen Versuchen so vielfach verunglückt."

Jedenfalls verdankt man Herrn Szeliga die Enthüllung des Geheimnisses, daß eine Tat fast mit Händen aus Gedanken gegriffen werden kann. Was seine drollige Vergleichung Rudolphs mit den Männern betrifft, welche die Emanzipation des Weibes gelehrt haben, so vergleiche man Rudolphs Gedanken etwa mit folgenden Phantasien Fouriers:

"Ehebruch, Verführung macht den Verführern Ehre, ist guter Ton ... Aber, armes Mädchen! der Kindermord, welch ein Verbrechen! Wenn sie auf Ehre hält, muß sie die Spuren der Unehre auslöschen, und wenn sie den Vorurteilen der Welt ihr Kind aufopfert, so ist sie noch mehr geschändet und verfällt den Vorurteilen des Gesetzes ... Das ist der fehlerhafte Kreislauf, welchen aller zivilisierte Mechanismus beschreibt."

"Die junge Tochter, ist sie nicht eine Ware, zum Verkauf ausgeboten für den ersten besten, der das exklusive Eigentum dieses Mädchens erhandeln will? ... De même qu'en

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grammaire deux négations valent une affirmation, l'on peut dire qu'en négoce conjugal deux prostitutions valent une vertu." <Wie in der Grammatik zwei Verneinungen gleich einer Bejahung sind, so, kann man sagen, sind im Ehehandel zwei Prostitutionen gleich einer Tugend."

"Die Veränderung einer geschichtlichen Epoche läßt sich immer aus dem Verhältnis des Fortschritts der Frauen zur Freiheit bestimmen, weil hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint. Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation."

"Die Erniedrigung des weiblichen Geschlechts ist ein wesentlicher Charakterzug der Zivilisation wie der Barbarei, nur mit dem Unterschied, daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt ... Keinen trifft die Strafe, das Weib in der Sklaverei zu erhalten, tiefer als den Mann selbst." (Fourier.)

Dem Gedanken Rudolphs gegenüber ist es überflüssig, auf Fouriers meisterhafte Charakteristik der Ehe wie auf die Schriften der materialistischen Fraktion des französischen Kommunismus hinzuweisen.

Der traurigste Abhub der sozialistischen Literatur, wie er bei dem Romanschreiber zu finden ist, enthüllt der kritischen Kritik immer noch unbekannte "Geheimnisse".


7. Enthüllung der nationalökonomischen Geheimnisse

a) Theoretische Enthüllung der nationalökonomischen Geheimnisse

Erste Enthüllung: Der Reichtum führt häufig zur Verschwendung, die Verschwendung zum Ruin.

Zweite Enthüllung: Die eben beschriebnen Folgen des Reichtums entspringen aus einem Mangel an Unterweisung für die reiche Jugend.

Dritte Enthüllung: Die Erbschaft und das Privateigentum sind und müssen unverletzlich und geheiligt sein.

Vierte Enthüllung: Der Reiche schuldet moralisch den Arbeitern Rechenschaft von der Anwendung seines Vermögens. Ein großes Vermögen ist ein erbliches Depositum - ein Feudallehen -, klugen, festen, geschickten, großmütigen Händen anvertraut, die zugleich beauftragt sind, es fruchtbar zu machen und es so zu verwenden, daß alles, was das Glück hat, sich in dem Bereich der glänzenden und heilsamen Ausstrahlung des großen Vermögens zu befinden, befruchtet, belebt, verbessert wird.

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Fünfte Enthüllung: Der Staat hat der unerfahrnen reichen Jugend die Rudimente der individuellen Ökonomie zu geben. Er muß das Vermögen moralisieren.

Sechste Enthüllung: Endlich muß der Staat auf die ungeheure Frage von der Organisation der Arbeit eingehen. Er muß das heilsame Beispiel von der Assoziation der Kapitalien und der Arbeit geben, und zwar von einer Assoziation, welche honett, intelligent, billig ist, welche das Wohlsein des Arbeiters sichert, ohne dem Vermögen des Reichen zu schaden, welche zwischen diesen zwei Klassen Bande der Zuneigung, der Erkenntlichkeit etabliert und dadurch für immer die Ruhe des Staats sichert.

Da der Staat einstweilen noch nicht auf diese Theorie eingeht, so gibt Rudolph selbst einige praktische Exempel. Sie werden das Geheimnis enthüllen, daß Herrn Sue, Herrn Rudolph und der kritischen Kritik die allerbekantesten ökonomischen Verhältnisse "Mysterien" geblieben sind.

b) "Die Armenbank"

Rudolph errichtet eine Armenbank. Die Statuten dieser kritischen Armenbank sind folgende:

Sie soll honette Arbeiter, welche Familie haben, während der arbeitslosen Zeit unterstützen. Sie soll die Almosen und die Pfandhäuser ersetzen. Sie verfügt über eine jährliche Revenue von 12 000 Francs und verteilt Hülfsanleihen von 20 bis 40 Francs ohne Interessen. Sie erstreckt ihre Wirksamkeit zunächst auf das siebte Arrondissement von Paris, wo die meisten Arbeiter wohnen. Die Arbeiter oder Arbeiterinnen, welche auf Unterstützung Anspruch machen, müssen Träger eines Zertifikats sein, welches von ihrem Patron ausgestellt ist, ihr gutes Betragen verbürgt und die Ursache wie das Datum der Unterbrechung ihrer Arbeit angibt. Diese Anleihen sind monatlich zurückzuzahlen, zum sechsten oder zum zwölften Teil je nach der Wahl des Leihers, von dem Tag an, wo er wieder Beschäftigung gefunden hat. Als Garantie der Anleihe gilt die Verpflichtung auf Ehrenwort. Zwei andre Arbeiter müssen überdem Bürgschaft leisten für die parole jurée <das gegebene Wort> des Leihers. Da der kritische Zweck der Armenbank darin besteht, einen der schwersten Unfälle des Arbeiterlebens, die Unterbrechung der Arbeit, zu heilen, würden die Hülfsleistungen durchaus nur den arbeitslosen Handwerkern zukommen. Herr Germain, der dies Institut verwaltet, bezieht ein jährliches Gehalt von 10 000 Francs.

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Werfen wir nun einen massenhaften Blick auf die Praxis der kritischen Nationalökonomie. Die jährliche Revenue beträgt 12 000 Francs. Die Unterstützungen belaufen sich für jede Person auf 20 bis 40, also im Durchschnitt auf 30 Francs. Die Anzahl der offiziell als "elend" anerkannten Arbeiter des siebenten Arrondissements beläuft sich wenigstens auf 4 000. Es können also jährlich 400, d.h. der zehnte Teil der allerhülfsbedürftigsten Arbeiter des siebenten Arrondissements unterstützt werden. In Paris ist es wenig, wenn wir die Durchschnittszahl der arbeitslosen Zeit auf vier Monate (viel zu gering taxiert), also auf 16 Wochen reduzieren. 30 Francs, auf 16 Wochen verteilt, sind auf die Woche etwas weniger als 37 Sous und 3 Centimes, macht auf den Tag noch nicht 27 Cts. Die tägliche Ausgabe für einen einzelnen Gefangnen beträgt in Frankreich durchschnittlich etwas mehr als 47 Cts., wovon die 2 Speisung allein etwas über 30 Cts. wegnimmt. Der Arbeiter, den Herr Rudolph unterstützt, besitzt aber Familie. Schätzen wir die Familie im Durchschnitt außer Mann und Frau auf nur zwei Kinder, so bleiben 27 Cts. unter vier Personen zu verteilen. Hiervon geht die Wohnung - das Minimum auf den Tag 15 Cts. - ab, bleiben 12 Cts. Das Brot, welches ein einzelner Gefangener im Durchschnitt verzehrt, kostet ungefähr 14 Cts. Der Arbeiter samt Familie wird also, abgesehn von allen andern Bedürfnissen, mit der Unterstützung der kritischen Armenbank noch nicht den vierten Teil des nötigen Brots kaufen können und einem gewissen Hungertod anheimfallen, wenn er nicht zu den Mitteln, denen diese Armenbank vorbeugen will, zu dem Pfandhaus, dem Bettel, dem Diebstahl und der Prostitution seine Zuflucht nimmt.

Um so glänzender bedenkt der Mann der rücksichtslosen Kritik dagegen den Verwalter der Armenbank. Die verwaltete Revenue beträgt 12 000, das Gehalt des Verwalters 10 000 Frcs. Die Verwaltung kostet also 45 Prozent, beinahe das Dreifache der massenhaften Armenverwaltung in Paris, welche ungefähr 17 Prozent kostet.

Nehmen wir aber einen Augenblick an, die Unterstützung, welche die Armenbank gewährt, sei eine wirkliche und nicht bloß illusorische Unterstützung, so beruht die Einrichtung des enthüllten Geheimnisses aller Geheimnisse auf dem Wahn, daß es nur einer andern Distribution des Salärs bedürfe, damit der Arbeiter das ganze Jahr hindurch leben könne.

Im prosaischen Sinne zu sprechen, beträgt das Einkommen von 7 500 000 französischen Arbeitern auf den Kopf nur 91 Frcs., das Einkommen von andern 7 500 000 französischen Arbeitern auf den Kopf nur 120 Frcs., also schon von 15 000 000 Arbeitern weniger, als absolut zum Leben nötig ist.

Der Gedanke der kritischen Armenbank reduziert sich darauf - wenn er anders vernünftig gefaßt wird -, daß dem Arbeiter während der Zeit, wo er

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Beschäftigung hat, soviel vom Salär abgezogen wird, als er braucht, um in der arbeitslosen Zeit zu leben. Ob ich ihm eine bestimmte Summa Geldes in der arbeitslosen Zeit vorstrecke und er mir diese Summe in der Arbeitszeit zurückgibt, oder ob er mir in der Arbeitszeit eine bestimmte Summe abgibt und ich sie ihm in der arbeitslosen Zeit zurückgebe, ist ein und dasselbe. Er gibt mir immer das in seiner Arbeitszeit, was er von mir in seiner arbeitslosen Zeit erhält.

Die "reine" Armenbank unterschiede sich also von den massenhaften Sparkassen nur durch zwei sehr originelle, sehr kritische Eigenschaften, einmal, daß die Bank ihr Geld à fonds perdu <auf Nimmerwiedersehen> ausleiht, in der törichten Voraussetzung, daß der Arbeiter zurückzahlen könne, wenn er wolle, und daß er immer zurückzahlen wolle, wenn er könne; dann aber dadurch, daß die Bank keine Zinsen für die vom Arbeiter hinterlegten Summen zahlt. Weil die hinterlegte Summe in der Form des Vorschusses erscheint, tut die Bank schon ein Großes, wenn sie selbst keine Zinsen vom Arbeiter nimmt.

Die kritische Armenbank unterscheidet sich also dadurch von den massenhaften Sparkassen, daß der Arbeiter seine Zinsen und die Bank ihr Kapital verliert.

c) Musterwirtschaft zu Bouqueval

Rudolph stiftet eine Musterwirtschaft zu Bouqueval. Der Ort ist um so glücklicher gewählt, als er noch feudaler Erinnerungen sich erfreut - nämlich eines château seigneurial <herrschaftlichen Schlosses>.

Jeder der sechs männlichen Arbeiter, welche diese Pächterei beschäftigt, hält 150 écus oder 450 Frcs., jede der weiblichen Arbeiterinnen 60 écus oder 80 Frcs. jährlichen Arbeitslohn. Sie haben außerdem freies Essen und freie Wohnung. Das gewöhnliche alltägliche Essen der Leute von Bouqueval besteht aus einer "formidablen" Platte Schinken, aus einer nicht minder furchtbaren Platte Hammelfleisch und endlich aus einem nicht minder massenhaften Stück Kalbfleisch, wozu als Nebengerichte zwei Wintersalate, zwei große Käse, Erdäpfel, Zider etc. hinzukommt. Jeder der sechs männlichen Arbeiter arbeitet zweimal mehr als der gewöhnliche französische Ackerbautaglöhner.

Da die ganze Summe des jährlich von Frankreich produzierten Einkommens bei gleicher Teilung im Durchschnitt nur 93 Frcs. betrüge, da die unmittelbar mit Landbau beschäftigte Einwohnerzahl Frankreichs 2/3 der Gesamtbevölkerung beträgt, so kann man schließen, welche Revolution nicht nur in der Verteilung, sondern auch in der Produktion des Nationalreichtums

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die allgemeine Nachahmung der Musterwirtschaft des deutschen Kalifen hervorbringen würde.

Demnach hat Rudolph diese ungeheure Vergrößerung der Produktion nur dadurch erreicht, daß er jeden Arbeiter zweimal soviel wie bisher arbeiten und sechsmal soviel verzehren läßt,

Da der französische Bauer sehr fleißig ist, so müssen Arbeiter, die zweimal soviel arbeiten, übermenschliche Athleten sein, worauf auch die "formidablen" Fleisch-Schüsseln hindeuten sollen. Wir können also annehmen, daß jeder dieser sechs Arbeiter täglich wenigstens ein Pfund Fleisch verzehrt.

Wenn alles in Frankreich produzierte Fleisch gleich verteilt würde, so käme auf den Kopf täglich noch nicht 1/4 Pfund Fleisch. Man sieht also, welche Revolution auch in dieser Hinsicht das Beispiel Rudolphs hervorrufen würde. Die Landbaubevölkerung würde allein mehr Fleisch verzehren, als in Frankreich produziert wird, so daß Frankreich durch diese kritische Reform aller Viehzucht überhoben würde.

Der fünfte Teil des Bruttoertrags, welchen Rudolph, nach dem Berichte des Verwalters von Bouqueval, des Vaters Chatelain, außer dem hohen Salär und der luxuriösen Beköstigung den Arbeitern zukommen läßt, ist nichts anderes als seine Grundrente. Man nimmt nämlich nach einer Durchschnittsberechnung an, daß im allgemeinen, nach Abzug aller Produktionskosten und des Gewinns für das Betriebskapital, ein Fünfteil des Bruttoertrags für den französischen Grundeigentümer übrigbleibt oder daß seine Rentenquote sich auf den fünften Teil des Bruttoertrags beläuft. Obgleich nun Rudolph den Gewinn seines Betriebskapitals unstreitig unverhältnismäßig verringert, in dem er die Ausgabe für die Arbeiter unverhältnismäßig steigert - nach Chaptal ("De l'industrie française", I, 239) ist der Durchschnittspreis der jährlichen Einnahmen der französischen Lohnbauern 120 Frcs. -, obgleich er seine ganze Grundrente den Arbeitern schenkt, berichtet dennoch Vater Chatelain, daß Monseigneur bei dieser Methode sein Einkommen steigere und dergestalt die andern unkritischen Grundeigentümer zu einer ähnlichen Wirtschaft anfeure.

Die Musterwirtschaft von Bouqueval ist ein bloßer phantastischer Schein; ihr verborgener Fonds ist nicht der natürliche Grund und Boden von Bouqueval, sondern der märchenhafte Fortunatussäckel Rudolphs!

Die kritische Kritik lärmt:

"Man sieht es dem ganzen Plan auf den ersten Blick an, daß er kein Utopien ist."

Nur die kritische Kritik kann es einem Fortunatussäckel auf den ersten Blick ansehen, daß er kein Utopien ist. Der kritische erste Blick ist - der "böse Blick"!


8. Rudolph, "das enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse"

Das Wundermittel, womit Rudolph alle seine Erlösungen und Wunderkuren bewirkt, sind nicht seine schönen Worte, sondern sein bares Geld. So sind die Moralisten, sagt Fourier. Man muß ein Millionär sein, um es ihren Helden nachmachen zu können.

Die Moral ist die "Impuissance mise en action" <"in Aktion gesetzte Machtlosigkeit">. So oft sie ein Laster bekämpft, unterliegt sie. Und Rudolph erhebt sich nicht mal auf den Standpunkt der selbständigen Moral, welche wenigstens auf dem Bewußtsein der Menschenwürde beruht. Seine Moral beruht dagegen auf dem Bewußtsein der menschlichen Schwäche. Er ist die theologische Moral. Wir haben die Heldentaten, die er mit seinen fixen, christlichen Ideen, an denen er die Welt mißt, mit der "charité", dem "dévouement", der "abnégation", dem "repentir", den "bons" und den "méchants", der "récompense" und der "punition", den "châtiments terribles", dem "isolement", dem "salut de l'âme" <"Wohltätigkeit", "Aufopferung", "Entsagung", "Reue", "Guten", "Bösen", "Belohnung", "Bestrafung", "schrecklichen Züchtigungen", "Isolierung", "Seelenheil"> etc. vollbringt, bis ins Detail verfolgt und als Eulenspiegeleien nachgewiesen. Wir haben es nur noch mit dem persönlichen Charakter Rudolphs, dem "enthüllten Geheimnis aller Geheimnisse" oder dem enthüllten Geheimnis der "reinen Kritik" zu tun.

Der Gegensatz des "Guten" und des "Bösen" tritt dem kritischen Herkules schon als Jüngling in zwei Personifikationen gegenüber; Murph und Polidori beide Lehrer Rudolphs. Der erste erzieht ihn zum Guten und ist "der Gute". Der zweite erzieht ihn zum Bösen und ist "der Böse". Damit diese Auffassung durchaus nichts an Trivialität ähnlichen Auffassungen in andern moralischen Romanen nachgehe, darf "der Gute", Murph, nicht "savant" <"gelehrt"> nicht "besonders geistig bevorzugt" sein. Dagegen ist er ehrlich, einfach, einsilbig, weiß mit den Silben schändlich, niederträchtig gegen das Böse sich groß und hat einen horreur vor dem Niedrigen. Er setzt, um mit Hegel zu reden, ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d.h. in eine Eine Note.

Polidori dagegen ist ein Wunder an Klugheit, Kenntnissen und Bildung, dabei von der "gefährlichsten Immoralität", und namentlich besitzt er, was Eugen Sue als ein Glied der jungen frommen Bourgeoisie Frankreichs nicht essen durfte: "le plus effrayant scepticisme" <"den fürchterlichsten Skeptizismus">. Eugen Sues und seines

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 Helden Geistesenergie und Bildung mag man aus dem panischen Schrecken vor dem Skeptizismus beurteilen.

"Murph", sagt Herr Szeliga, "ist zugleich die verewigte Schuld des dreizehnten Januar und die ewige Tilgung dieser Schuld durch unvergleichliche Liebe und Aufopferung für die Person Rudolphs."

Wie Rudolph der deus ex machina < wörtlich: Gott aus der Maschine (im antiken Theater eine durch Maschinerie auf die Szene gebrachte Göttererscheinung, die in die dramatische Verwicklung eingriff und sie löste): im übertragenen Sinne: das unerwartete Auftreten einer Person, die die Situation rettet> und der Mittler der Welt, so ist Murph wieder der persönliche deus ex machina und der Mittler Rudolphs.

"Rudolph und das Heil der Menschheit, Rudolph und die Verwirklichung der Wesensvollkommenheiten des Menschen ist für Murph eine untrennbare Einheit, eine Einheit, der er sich nicht mit der dummen hündischen Ergebenheit des Sklaven hingibt, sondern wissend und selbständig."

Murph ist also ein aufgeklärter, wissender und selbständiger Sklave. Er personifiziert, wie jeder Fürstendiener, seinen Herrn mit dem Heil der Menschheit. Graun schmeichelt dem Murph mit der Anrede "intrepide garde du corps" <"unerschrockener Leibwächter">. Rudolph selbst nennt ihn den modele d'un valet <Muster eines Bedienten>, und er ist wirklich ein musterhafter Bedienter. Er war sehr pünktlich darin, wie Engen Sue berichtet, den Rudolph im tête-à-tête mit Monseigneur anzureden. Bei andern nennt er ihn des Inkognito wegen mit den Lippen Monsieur, aber mit dem Herzen Monseigneur.

"Murph hebt mit den Schleier von den Geheimnissen, aber nur um Rudolphs willen. Er hilft an der Arbeit, die Macht der Geheimnisse zu zerstören."

Die Dichtigkeit des Schleiers, der dem Murph die einfachsten Weltzustände verhüllt, mag man aus seiner Unterhaltung mit dem Gesandten Graun beurteilen Aus der gesetzlichen Befugnis der Selbstverteidigung im Notfall schließt er darauf, daß Rudolph den gefesselten und "wehrlosen" maître d'école als Femerichter habe blenden dürfen. Seine Schilderei, wie Rudolph vor den Assisen seine "edeln" Handlungen erzählen, schönrednerische Phrasen auskramen und sein großes Herz strömen lassen werde, ist eines Gymnasiasten würdig, der soeben Schillers "Räuber" gelesen hat. Das einzige Geheimnis, welches Murph der Welt zu lösen gibt, ist die Frage, ob er mit Kohlenstaub oder mit schwarzer Farbe sein Gesicht eingerußt hat, als er den charbonnier <Kohlenträger> spielte.

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"Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden." (Matth[äus] 13, 49.) "Trübsal und Angst übereile Seelen der Menschen, die da Böses tun; Preis aber und Ehre und Frieden all denen, die Gutes tun." (Paul[us] Röm[er] 2, 9 - 10.)

Rudolph macht sich selbst zu einem solchen Engel. Er zieht in die Welt aus, die Bösen von den Gerechten zu scheiden, die Bösen zu bestrafen, die Guten zu belohnen. Die Vorstellung des Bösen und Guten hat sich seinem schwachen Gehirn so sehr eingeprägt, daß er an den leibhaften Satan glaubt und den Teufel lebendig einfangen will, wie weiland Prof. Sack zu Bonn. Andrerseits versucht er dagegen, den Gegensatz des Teufels, Gott, im kleinen zu kopieren. Er liebt es "de jouer un peu le rôle de la providence" <"ein wenig die Rolle der Vorsehung zu spielen">. Wie in der Wirklichkeit alle Unterschiede immer mehr in den Unterschied von arm und reich zusammenschmelzen, so lösen sich in der Idee alle aristokratischen Unterschiede in den Gegensatz des Guten und des Bösen auf. Diese Unterscheidung ist die letzte Form, welche der Aristokrat seinen Vorurteilen erteilt. Rudolph selbst gilt sich als ein Guter, und die Bösen sind dazu da, ihm den Selbstgenuß seiner eignen Vortrefflichkeit zu gewähren. Betrachten wir "den Guten" etwas näher.

Herr Rudolph übt eine Wohltätigkeit und eine Verschwendung aus, wie etwa der Kalif von Bagdad in Tausend und eine Nacht. Er kann diese Lebensweise unmöglich führen, ohne sein kleines deutsches Ländchen wie ein Vampir bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Nach Herrn Sues eignem Bericht würde er unter die mediatisierten deutschen Fürsten gehören, hätte ihn nicht die Protektion eines französischen Marquis vor der unfreiwilligen Abdankung gerettet. Die Größe seines Landes ist nach dieser Angabe zu taxieren. Wie kritisch Rudolph seine eignen Verhältnisse beurteilt, mag man ferner daraus ersehen, daß er, der kleine deutsche Serenissimus, in Paris ein halbes Inkognito bewahren zu müssen glaubt, um kein Aufsehen zu erregen. Er führt eigens einen Kanzler aus dem kritischen Grunde mit sich, damit er ihm "le côté théatral et puéril du pouvoir souverain" <"die theatralische und kindische Seite der souveränen Mach"> darstelle; als habe ein kleiner Serenissimus außer sich und seinem Spiegel noch einen dritten Repräsentanten der theatralischen und kindischen Seite der souveränen Macht nötig. Rudolph hat seine Leute in dieselbe kritische Selbstverkennung zu versetzen gewußt. So merken der Bediente Murph und der Gesandte Graun nicht, wie der Pariser homme d'affaires <"Haushofmeister">, Monsieur Badinot, sie persifliert, wenn er sich den Schein gibt, als halte er ihre Privataufträge für Staatsangelegenheiten, wenn er sarkastisch plaudert über die

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 "rapports occultes qui peuvent exister entre les intérêts le plus divers et les destinés des empires" <"geheimnisvolle Verbindung, die zwischen den verschiedensten Interessen und den Geschicken der Staaten bestehen könne">. "Ja", berichtet der Gesandte Rudolphs, "er hat die Unverschämtheit, mir manchmal zu sagen: 'Wieviel dem Volk unbekannte Komplikationen in der Regierung eines Staates! Wer würde sagen, daß die Noten, die ich Ihnen, Herr Baron, mitteile, zweifelsohne ihren Teil von Einfluß auf den Gang der europäischen Angelegenheiten haben?'"

Der Gesandte und Murph finden nicht darin die Unverschämtheit, daß man ihnen einen Einfluß auf die europäischen Angelegenheiten zumutet, sondern daß Badinot seinen niedrigen Beruf dergestalt idealisiert.

Rufen wir uns zunächst eine Szene aus Rudolphs häuslichem Leben ins Gedächtnis. Rudolph erzählt dem Murph, "er sei in den Augenblicken seines Stolzes und seiner Glückseligkeit". Gleich darauf gerät er außer sich, weil Murph ihm auf eine Frage nicht antworten will. "Je vous ordonne de parler." <"Ich befehle Ihnen zu sprechen"> Murph will sich nicht befehlen lassen, Rudolph sagt ihm: "Je n'aime pas les rétiences." <"Ich liebe das Verschweigen nicht"> Er vergißt sich bis zu der Gemeinheit, dem Murph anzudeuten, daß er ihm alle seine Dienste bezahle. Der Knabe ist nicht eher zu beruhigen, bis Murph ihn an den dreizehnten Januar erinnert. Nachträglich macht sich die Knechtsnatur Murphs, die sich einen Augenblick vergessen hatte, geltend. Er reißt sich die "Haare" aus, die er glücklicherweise nicht besitzt, er verzweifelt darüber, den hohen Herrn, der ihn "das Muster von einem Bedienten", der ihn "seinen guten, seinen alten, seinen getreuen Murph" nennt, etwas rauh angelassen zu haben.

Nach diesen Proben des Schlechten in ihm wiederholt Rudolph seine fixen Ideen über das "Gute" und das "Schlechte" und berichtet über die Fortschritte, die er im Guten macht. Er nennt Almosen und Mitleid die keuschen und frommen Trösterinnen seiner verwundeten Seele. Sie an verworfene, unwürdige Wesen prostituieren, das wäre entsetzlich, unfromm, ein Sakrilegium. Versteht sich, Mitleid und Almosen sind Trösterinnen seiner Seele. Sie entweihen wäre daher ein Sakrilegium. Es wäre "Zweifel einflößen an Gott, und der, welcher gibt, muß an ihn glauben machen". Einem Verworfenen ein Almosen geben - der Gedanke ist nicht auszudenken!

Jede seiner Seelenbewegungen ist für Rudolph von unendlicher Wichtigkeit. Er taxiert und beobachtet sie daher beständig. So tröstet sich der Tor hier gegen Murph, daß Fleur de Marie ihn gerührt habe. "Ich war bewegt bis zu Tränen, und man klagt mich an, blasiert, hart, unbeugsam zu sein!" Nachdem er dergestalt seine eigne Güte bewiesen hat, exaltiert er sich über das

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"Schlechte", über die Schlechtigkeit der unbekannten Mutter der Marie, und mit aller möglichen Feierlichkeit wendet er sich zu Murph: "Tu le sais - certaines vengeances me sont bien chères, certaines souffrances bien précieuses." <"Du weißt es - manche Rache ist für mich sehr süß, mancher Schmerz gibt mir Wonne."> Dabei schneidet er so diabolische Fratzen, daß der getreuliche Bediente erschrocken ausruft: "Hélas, Monseigneur" <"Ach, gnädiger Herr"> Dieser große Herr ähnelt den Gliedern des Jungen Englands, die auch die Welt reformieren wollen, edle Handlungen begehen und ähnlichen hysterischen Zufällen unterworfen sind.

Den Aufschluß zu den Abenteuern und Situationen, denen sich Rudolph aussetzt, finden wir zunächst in seinem abenteuerlichen Naturell. Er liebt "das Pikante des Romans, Zerstreuung, Abenteuer, Verkleidung", seine "Neugierde" ist "unersättlich", er empfindet das "Bedürfnis lebhafter, stechender Gemütsaufregung", er ist "begierig nach gewaltsamen Nervenerschütterungen".

Dieses sein Naturell wird unterstützt durch die Sucht, die Vorsehung zu spielen und die Welt nach seinen fixen Einbildungen einzurichten.

Sein Verhältnis zu dritten Personen ist entweder durch eine abstrakte fixe Idee vermittelt oder durch ganz persönliche, zufällige Motive.

So befreit er den Negerarzt David und seine Geliebte nicht aus der unmittelbar menschlichen Teilnahme, welche diese Personen einflößen, nicht um sie selbst zu befreien, sondern um dem Sklaveneigentümer Willis gegenüber die Vorsehung zu spielen und seinen Unglauben an Gott zu züchtigen. So erscheint ihm der maître d'école als ein gefundnes Fressen, um seine längst ausgeheckte Straftheorie anzuwenden. Die Unterhaltung Murphs mit dem Gesandten Graun läßt uns von der andern Seite tiefe Blicke in die rein persönlichen Motive tun, welche Rudolphs edle Handlungen bestimmen.

Das Interesse des Monseigneur an Fleur de Marie rührt, wie Murph sagt, "à part" <"abgerechnet"> das Mitleid, welches die Arme einflößt, daher, weil die Tochter, deren Verlust er so bitter empfindet, gegenwärtig dasselbe Alter haben würde. Der Anteil Rudolphs an der Marquise von Harville hat, "à part" seine menschenfreundlichen Marotten, den persönlichen Grund, daß ohne den alten Marquis von Harville und dessen Freundschaft mit dem Kaiser Alexander Rudolphs Vater aus der Reihe der deutschen Souveräne eliminiert worden wäre.

Seine Wohltätigkeit gegen Madame George und sein Interesse für Germain, ihren Sohn, hat denselben Grund. Madame George gehört der Familie Harville an.

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"C'est non moins à ses malheurs et à ses vertus qu'à cette parenté que la pauvre Madame George a dû les incessantes bontés de son Altesse."

<"Deshalb empfing die arme Madame George nicht bloß wegen ihres Unglücks und ihrer Tugend, sondern auch wegen dieser Verwandtschaft so viele Wohltaten von Seiner Hoheit.">

Der Apologet Murph versucht die Doppelsinnigkeit von Rudolphs Motiven durch Wendungen wie "surtout, à part, non moins que" <"besonders, abgerechnet, nicht weniger als"> zu vertuschen.

Rudolphs ganzer Charakter faßt sich endlich zusammen in der "reinen" Heuchelei, womit er die Ausbrüche seiner schlechten Leidenschaften als Ausbrüche gegen die Leidenschaften der Schlechten vor sich selbst und andern darzustellen weiß, in ähnlicher Weise, wie die kritische Kritik ihre eignen Dummheiten als Dummheiten der Masse, ihre gehässigen Rankünen gegen die Entwickelung der Welt außer ihr als Rankünen der Welt außer ihr gegen die Entwickelung, endlich ihren Egoismus, der allen Geist in sich verschluckt zu haben meint, als egoistischen Widerspruch der Masse gegen den Geist darstellt.

Wir werden die "reine" Heuchelei Rudolphs in seinem Verhalten zum maître d'école, zur Gräfin Sarah Mac Gregor und zum Notar Jacques Ferrand beweisen.

Rudolph hat den maître d'école zu einem Einbruch in seine Wohnung überredet, um ihn in die Falle zu locken und seiner habhaft zu werden. Er hat hierbei ein rein persönliches, kein allgemein menschliches Interesse. Der maître d'école ist nämlich im Besitz des Portefeuilles der Gräfin Mac Gregor, und Rudolph hat ein großes Interesse, sich dieses Portefeuilles zu bemächtigen. Bei Gelegenheit des tête-à-tête mit dem maître d'école heißt es ausdrücklich:

"Rodolphe se trouvait dans une anxiété cruelle; s'il laissait échapper cette occasion de s'emparer du maître d'école, il ne la retrouverait sans doute jamais; ce brigand emporterai les secrets que Rodolphe avait tant d'intérêt à savoir." 

<"Rudolph befand sich in der äußersten Verlegenheit. Wenn er sich diese Gelegenheit entgehen ließ, sich des Schulmeisters zu bemächtigen, so bot sich vielleicht nie wieder eine andre dar. Der Räuber ... würde dann die Geheimnisse mit sich genommen haben, an denen Rudolph so viel lag.">

Rudolph bemächtigt sich also im maître d'école des Portefeuilles der Gräfin Mac Gregor; er bemächtigt sich des maître d'école aus persönlichem Interesse; er blendet ihn aus persönlicher Leidenschaft.

Als Chourineur dem Rudolph den Kampf des maître d'école mit Murph erzählt und sein Sträuben damit motiviert, daß er wußte, was ihm bevorstehe, antwortet Rudolph: "Er wußte es nicht", und er sagt dies "d'un air

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sombre, les traits contractés par cette expression presque féroce, dont nous avons parlé" <"mit finsterer Miene, die Züge verzerrt durch den harten, fast wilden Ausdruck, von dem wir bereits gesprochen haben">. Der Gedanke der Rache fährt ihm durch den Kopf, er antizipiert den wilden Genuß, den ihm die barbarische Bestrafung des maître d'école bereiten wird.

So ruft auch Rudolph beim Eintreten des Negerarztes David, den er zum Werkzeug seiner Rache bestimmt hat:

"'Vengeance! ... Vengeance!' s'écria Rodolphe avec une fureur froide et concentrée."

<"'Rache! Rache!' rief Rudolph mit kaltblütiger, heftiger Wut.">

Eine kalte und konzentrierte Wut arbeitete in ihm. Dann murmelt er seinen Plan dem Arzt leise ins Ohr, und als dieser zurückbebt, weiß er sogleich der persönlichen Rache ein "reines" theoretisches Motiv unterzuschieben. Es handle sich, sagt er, nur um die "Anwendung einer Idee", die ihm schon oft durch sein erhabenes Gehirn gefahren sei, und er vergißt nicht, salbungsvoll hinzuzusetzen: "Er wird noch den unbegrenzten Horizont der Reue vor sich haben." Er ahmt die spanische Inquisition nach, welche, nach der Verweisung der zum Feuer Verurteilten an die weltliche Justiz, eine heuchlerische Bitte um Barmherzigkeit für den reuigen Sünder hinzufügte.

Es versteht sich, daß der gnädige Herr, als das Verhör und die Exekution des maître d'école vor sich gehen sollen, in einem höchst komfortablen Kabinett, in einem langen, höchst schwarzen Schlafrock und in einer höchst interessanten Blässe dasitzt, und, um den Gerichtshof getreu zu kopieren, einen langen Tisch mit Überführungsstücken vor sich stehen hat. Er muß auch den Ausdruck der Wildheit und Rache, womit er dem Chourineur und dem Arzt den Plan der Blendung mitteilte, verlieren und in der hochkomischen, feierlichen Haltung eines Weltrichters aus eigner Erfindung, "ruhig, traurig, gefaßt" sich präsentieren.

Um gar keinen Zweifel über das "reine" Motiv der Blendung übrigzulassen, gesteht der alberne Murph dem Gesandten Graun:

"Die grausame Bestrafung des maître d'école bezweckte vorzugsweise, mich an dem Meuchelmörder zu rächen."

In einem tête-à-tête mit Murph äußert sich Rudolph dahin:

"Ma haine des méchants ... est devenue plus vivace, mon aversion pour Sarah augmente en raison sans doute du chagrin que me cause la mort de ma fille." 

<"Mein Haß gegen die Schlechten ... ist starker geworden, und meine Abneigung gegen Sarah mehrt sich ohne Zweifel in dem Verhältnisse wie der Gram über den Tod meiner Tochter.">

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Rudolph unterrichtet uns von der größern Lebhaftigkeit, welche sein Haß gegen die Bösen gewonnen hat. Versteht sich, sein Haß ist ein kritischer, reiner, moralischer Haß, der Haß gegen die Bösen, weil sie böse sind. Er betrachtet diesen Haß daher als einen Fortschritt, den er selbst im Guten macht.

Zugleich aber verrät er, daß dieses Wachstum des moralischen Hasses nichts anders ist als eine heuchlerische Sanktion, womit er die Zunahme seiner persönlichen Abneigung gegen Sarah beschönigt. Die unbestimmte moralische Einbildung - die Zunahme des Hasses gegen die Bösen ist nur die Schale der bestimmten unmoralischen Tatsache, der Zunahme der Abneigung gegen Sarah. Diese Abneigung hat einen sehr natürlichen, sehr individuellen Grund, einen persönlichen Kummer. Dieser Kummer ist das Maß seiner Abneigung. Sans doute! <Ohne Zweifel!>

Eine noch widerlichere Heuchelei zeigt sich in Rudolphs Zusammenkunft mit der sterbenden Gräfin Mac Gregor.

Nach der Enthüllung des Geheimnisses, daß Fleur de Marie die Tochter Rudolphs und der Gräfin ist, nähert sich ihr Rudolph, "l'air menaçant, impitoyable" <"mit drohender, unbarmherziger Miene">. Sie bittet ihn um Gnade. "Pas de grâce", antwortet er, "malédiction sur vous ... vous ... mon mauvais génie et celui de ma race". <"Keine Gnade ... Fluch über Sie, denn Sie waren mein und meiner Familie böser Geist."> Also die "race" will er rächen. Er berichtet der Gräfin nun weiter, wie er, zur Buße für den Mordanfall auf seinen Vater, den Weltgang, worin er die Guten belohnt und die Bösen bestraft, sich auferlegt habe. Rudolph peinigt die Gräfin, er überläßt sich seiner Gereiztheit, er vollzieht aber in seinen eigenen Augen nur die Aufgabe, die er sich nach dem dreizehnten Januar gestellt hat, de "poursuivre le mal" <"das Böse zu verfolgen">.

Als er fortgeht, ruft Sarah:

"'Pitié je meurs!' 'Mourez donc, maudite!' dit Rodolphe effrayant de fureur.'"

 <"'Erbarmen! Ich sterbe!' 'So sterben Sie beladen mit meinem Fluche!'">

In den letzten Worten "effrayant de fureur" sind die reinen, kritischen und moralischen Motive seiner Handlungsweise verraten. Ebendiese Wut hat ihn das Schwert gegen seinen, wie Herr Szeliga ihn nennt, Hochseligen Vater zücken lassen. Statt dieses Böse in sich selbst zu bekämpfen, bekämpft er es als reiner Kritiker an andern.

Schließlich hebt Rudolph selbst seine katholische Straftheorie auf. Er wollte die Todesstrafe abschaffen, die Strafe in Buße verwandeln, aber nur,

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solange der Mörder fremde Leute ermordet und die Glieder der Rudolphinischen Familie ungeschoren läßt. Rudolph adoptiert die Todesstrafe, sobald der Mord einen der Seinigen trifft, er bedarf einer doppelten Gesetzgebung, eine für seine eigne Person und eine für die profanen Personen.

Durch Sarah erfährt er, daß Jacques Ferrand den Tod der Fleur de Marie herbeigeführt habe. Er sagt zu sich selbst:

"Nein! es ist nicht genug! ... welche Glut der Rache! ... welcher Durst nach Blut! ... welche ruhige und reflektierte Wut! ... Solange ich nicht wußte, daß eines der Opfer dieses Ungeheuers mein Kind war, sagte ich mir: der Tod dieses Menschen würde unfruchtbar sein ... das Leben ohne Geld, das Leben ohne Sättigung seiner frenetischen Sinnlichkeit wird eine lange und doppelte Tortur sein ... Aber es ist meine Tochter..... Ich werde diesen Menschen töten!"

Und er stürzt fort, um ihn zu töten, findet ihn aber in einem Zustand, der die Mordtat überflüssig macht.

Der "gute" Rudolph! Mit der Fieberglut der Rachlust, mit dem Durst nach Blut, mit der ruhigen und reflektierten Wut, mit der Heuchelei, welche jede schlechte Regung kasuistisch beschönigt, besitzt er gerade alle die Leidenschaften des Bösen, um derentwillen er andern die Augen aussticht. Nur Glückszufälle, Geld und Rang retten den "Guten" vor dem Bagno.

"Die Macht der Kritik" macht zum Ersatz für seine sonstige Nichtigkeit diesen Don Quijote zum "bon locataire", "bon voisin", "bon ami", "bon père", "bon bourgeois", "bon citoyen", "bon prince", <"guten Mieter", "guten Nachbarn", "guten Freund", "guten Vater", "guten Bürger", guten Staatsbürger", "guten Fürsten"> und wie diese Tonleiter, die Herr Szeliga absingt, weiter heißt. Das ist mehr als alle Resultate, welche "die Menschheit in ihrer ganzen Geschichte" gewonnen hat. Das reicht hin, damit Rudolph "die Welt" zweimal vor dem "Untergehen" rette!


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