"Was ist", heißt es nun weiter, "das 'Geheimnis' der Liebe?"Wir hatten soeben schon konstruiert, daß "das Geheimnis" das "Wesen" dieser Art von Liebe ist. Wie kommen wir nun dazu, nach dem Geheimnis des Geheimnisses, nach dem Wesen des Wesens zu suchen?
"Nicht", deklamiert der Pfarrer, "nicht die schattigen Gänge in den Gebüschen, das natürliche Halbdunkel der Mondnacht, nicht das künstliche, welches von köstlichen Gardinen und Vorhängen erzeugt wird, nicht der sanfte und betäubende Ton der Harfen und Orgeln, nicht die Macht des Verbotnen ..."
Gardinen und Vorhänge! Ein sanfter und betäubender Ton! Und nun gar die Orgeln! Schlage sich der Herr Pfarrer doch die Kirche aus dem Sinn! Wer wird Orgeln zu einem Liebesrendezvous mitbringen?
"Dies alles" (Gardinen und Vorhänge und Orgeln) "ist nur das Geheimnisvolle."
Und das Geheimnisvolle wäre nicht das "Geheimnis" der geheimnisvollen Liebe? Keineswegs:
"Du Geheimnis darin ist das Erregende, Berauschende, Betäubende, die Gewalt der Sinnlichkeit."
In dem "sanften und betäubenden" Ton besaß der Pfarrer schon das Betäubende. Hätte er nun statt der Gardinen und Orgeln Schildkrötensuppe und Champagner zu seinem Liebesrendezvous mitgebracht, so fehlte auch das Erregende und Berauschende" nicht.
"Die Gewalt der Sinnlichkeit", doziert der heilige Herr, "wollen wir uns zwar nicht eingestehen; sie hat aber nur darum eine so ungeheure Macht über uns, weil wir sie aus uns herausbannen, nicht als unsre eigne Natur anerkennen - unsre eigne Natur, welche wir dann auch zu bewältigen imstande wären, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft, der wahren Liebe, der Kraft des Willens geltend zu machen strebt."
Nach der Weise der spekulativen Theologie rät uns der Pastor, die Sinnlichkeit als unsre eigne Natur anzuerkennen, um imstande zu sein, sie hinterher zu bewältigen, d.h. um ihre Anerkennung zurückzunehmen. Er will sie zwar nur bewältigen, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft - die Willenskraft und die Liebe im Gegensatz zur Sinnlichkeit sind nur die Willenskraft und die Liebe der Vernunft - geltend machen will. Auch der unspekulative Christ erkennt die Sinnlichkeit an, soweit sie sich nicht auf Kosten der wahren Vernunft, nämlich des Glaubens, der wahren Liebe, nämlich der Liebe zu Gott, der wahren Willenskraft, nämlich des Willens in Christo, geltend macht.
Der Pfarrer verrät uns sogleich seine wahre Meinung, wenn er fortfährt:
"Hört also die Liebe auf, das Wesentliche der Ehe, der Sittlichkeit überhaupt zu sein, so wird die Sinnlichkeit das Geheimnis der Liebe, der Sittlichkeit, der gebildeten Gesellschaft - Sinnlichkeit sowohl in ihrer ausschließlichen Bedeutung, wo sie das Zittern der Nerven, der glühende Strom in den Adern ist, als auch in der umfassenderen, als welche sie sich zu einem Schein geistiger Macht steigert, zu Herrschsucht, Ehrgeiz, Ruhmbegier sich erhebt ... Die Gräfin MacGregor repräsentiert" die letztere Bedeutung "der Sinnlichkeit, als des Geheimnisses der gebildeten Gesellschaft."
Der Pfarrer trifft den Nagel auf den Kopf. Um die Sinnlichkeit zu überwältigen, muß er vor allem die Nervenströmungen und den raschen Blutumlauf überwältigen. - Herr Szeliga glaubt im "ausschließlichen" Sinne, daß die größere Körperwärme von dem Glühen des Bluts in den Adern herkömmt, er weiß nicht, daß die warmblütigen Tiere warmblütig heißen, weil ihre Blutwärme, geringe Modifikationen abgerechnet, sich immer auf derselben Höhe erhält. - Sobald die Nerven nicht mehr strömen und das Blut in den Adern nicht mehr glüht, ist der sündige Leib, dieser Sitz der sinnlichen Gelüste, zu einem stillen Mann gemacht, und die Seelen können sich ungehindert von der "allgemeinen Vernunft", der "wahren Liebe" und der "reinen Moral" unterhalten. Der Pastor degradiert die Sinnlichkeit so sehr, daß er grade die Momente der sinnlichen Liebe aufhebt, die sie begeistern - den raschen Blutumlauf, welcher beweist, daß der Mensch nicht mit sinnlosem Phlegma liebt, die Nervenströmungen, welche das Organ, das den Hauptsitz der Sinnlichkeit bildet, mit dem Gehirne verbinden. Er reduziert die wahre sinnliche Liebe auf die mechanische secretio seminis <Samenabsonderung> und lispelt mit einem berüchtigten deutschen Theologen:
"Nicht um sinnlicher Liebe halber, nicht um fleischlicher Gelüste willen, sondern weil der Herr gesagt hat: Seid fruchtbar und mehret euch."
Vergleichen wir nun die spekulative Konstruktion mit dem Roman Engen Sues. Es ist nicht die Sinnlichkeit, welche für das Geheimnis der Liebe ausgegeben wird, es sind Mysterien, Abenteuer, Hindernisse, Ängste, Gefahren und namentlich die Macht des Verbotnen.
"Pourquoi", heißt es, "beaucoup de femmes prennent-elles pourtant des hommes qui ne valent pas leurs maria? Parce que le plus grand charme de l'amour est l'attrait affriandant du fruit défendu ... avancez que, en retranchant de cet amour les craintes, les angoisses, les difficultés, les mystères, les dangers, il ne reste rien ou peu de chose, c'est-à-dire, l'amant ... dans se simplicité première ... en un mot, ce serait toujours plus au moins l'aventure de cet homme à qui l'on disait: 'Pourquoi n'épousez-vous donc pas cette veuve, votre maîtresse?' - 'Hélas, j'y ai bien pensé - répondit-il 'mais alors je ne saurais plus où aller passer mes soirées.'"
<"Warum wählen sich viele Frauen Liebhaber, die ihren Männern bei weitem nicht gleichkommen? Weil der größte Zauber der Liebe der Reiz der verbotenen Frucht ist. Sie werden gestehen müssen, daß, wenn man dieser Liebe die Besorgnisse, die Angst, die Schwierigkeiten, das Geheimnisvolle, die Gefahren nähme, nichts oder doch nur sehr wenig übrigbleiben würde, das heißt - der Liebhaber in seiner ursprünglichen Einfachheit; es würde mit einem Worte immer mehr oder weniger das Abenteuer jenes Mannes sein, zu dem man sagte: 'Warum heiraten Sie aber diese Witwe, Ihre Geliebte, nicht?' - 'Ich habe auch daran, gedacht', antwortete er, 'aber wo sollte ich dann meine Abende zubringen?"'>
Während Herr Szeliga ausdrücklich die Macht des Verbotnen nicht für das Geheimnis der Liebe erklärt, erklärt Eugen Sue sie ebenso ausdrücklich für "den größten Reiz der Liebe" und für den Grund der Liebesabenteuer extra muros <außer Hause>.
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Im Original (MEW 2, Seite 66*ff) lesen ==> Link von extern: http://kulturkritik.net/zit.php?zit=mew_02,066_m*ff
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