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310. Einleitung in den Nutzen des gewohnten Menschseins

Was nötig ist, das fügt sich. Der Nutzen der Selbstwahrnehmung erschien bisher in einem Zweck der Wahrnehmungsidentität und musste ihm dienen. Doch durch die Verrücktheiten der familiären Gewohnheiten der Selbstwahrnehmung war diese Selbstbezogenheit in ihren erzieherischen Beziehungen vernutzt worden. Mit der Ablösung aus der Familie und der Konfrontation in den allgemeinen zwischenmenschlichen VerhältnisseN war offensichtlich geworden, dass sich diese mehr oder weniger private Identitätsstiftung in ungewohnter Beziehung gegen die gewohnten zwischenmenschlichen Verhältnisse der Psyche richten mussten. Waren diese noch durch den Antrieb (siehe Trieb) ihrer Selbstverwirklichung (Buch 1) und durch die Selbstvergegenwärtigung (Buch 2), insgesamt durch eine Ästhetik bestimmt, durch die sie den Zweifel ihrer Zwischenmenschlichkeit beherrschen konnten, aber schließlich als Lebensangst in den hierfür nötigen Lebensstrukturen erfahren mussten, so sind sie nun bestrebt, ihre von sich selbst entrückten Verhältnisse, ihre verrückten Beziehungen in den Widersprüchen ihrer Selbstwahrnehmung aufzuheben. Ihren zwischenmenschlichen Lebensstrukturen unterworfen waren sie noch ganz auf sich gestellt, selbstverloren, selbstbezwungen und bis zum Wahnsinn ihrer Psyche beherrscht. Ihre Verrückheit hat sich darin ihrer Selbstwahrnehmung entledigt und ist zu sich selbst in einen wesentlichen Widerspruch der persönlichen Selbstverwirklichung geraten: Weil sie sich ihrer selbst nicht mehr gewiss werden kann, findet sie diese jetzt nur noch in dem, was sie außer sich empfindet, was sie nicht wirklich sein kann, was sie also von sich verloren hat (siehe Selbstverlust), so dass sie sich eine Identität ihrer Selbstwahrnehmung über die Prothesen ihrer Kultur aneignen muss, die sie in und durch ihre Selbstgerechtigkeiten selbst herstellen, bewahren und bewähren müssen.

Über die Widersprüche ihrer Selbstwahrnehmung befreit sich die zwischenmenschliche Persönlichkeit nun aus dem Selbstverlust ihrer für sie zu ihrer Wirklichkeit gewordenen Selbstentfremdung dadurch, dass sie ihre Selbstwahrnehmung in einer allgemeinsinnigen Selbstbeziehung überwinden, indem sie sich darin nun auch ganz selbstlos vergesellschaften, sich gesellschaftlich außer sich selbst einfinden, empfinden und sich in ihrer gleichgültig gewordenen Menschlichkeit endlich so fühlen, wie sie sich darin finden können. Sie müssen hierfür allerdings die geschichtlichen Spuren ihrer Individualität, ihre ganz persönliche Verrücktheit verlassen und oft auch verwischen, sich selbst darüber hinwegtäuschen (siehe Selbsttäuschung).

Jedes Individuum besteht dadurch als Individuum , dass es sich von anderen Individuen unterscheidet, dass es einen Sinn durch sich und für sich hat. Wo Menschen sich über einen Gemeinsinn beziehen und verstehen, da werden sie selbstlos, bestimmen sich selbst als Subjekt, das in zwischenmenschlichen Beziehungen weder das eine Individuum, noch das andere ein Mensch von eigener Gewissheit und also in Wahrheit auch wirklich da ist. Menschen können ihr Dazwischensein in einem dritten Subjekt auflösen, einem mythologischen Subjekt, ein Wesen, das nicht wirklich da ist, bzw. das nicht als das da ist, was die Inhalte ihrer Beziehung begründet und bewirkt, ein Wesen, das es gar nicht wirklich gibt, ein Unwesen, das nur durch seine Abwesenheit Wirkung hat und macht, ausdrücklich nur dadurch ist, dass es sich Eindruck verschafft (siehe hierzu auch Scheinwelt).

In den gemeinsinnig verobjektivierten Selbstgefühlen empfinden die Menschen ihre Wahrheit allerdings nur noch durch ihre Selbstlosigkeit, die ihre Wahrnehmung als solche selbst schon gleichgültig werden lässt, sie abtötet und als tote Wahrnehmung mitteilt und vermittelt. So kann es jetzt nicht mehr um ihre Selbstwahrnehmung als solche gehen. Es geht jetzt um die Gesamtheit ihrer zwischenmenschlichen Verhältnisse, um die hintergründige Selbstdarstellung einer Kulturpersönlichkeit, die ihre Selbstbezogenheit im Allgemeinen außer sich verkörpert und sich im Einzelnen und zugleich ganz sselbstlos allgemein darauf durch den Nutzen ihrer Selbstveredelung nun auch für andere bezieht, sich darin allgemein macht und verhält und ihre Selbstwahrnehmung aufbraucht bzw. entleert. Was die Einverleibungen ihrer zwischenmenschlichen Gegenwärtigkeit mit sich bringe, und von jedem einzelnen Menschen verlangen, muss sich jeder Mensch in den Oberflächen und Nischen dieser Kultur in seinem persönlichen Dasein als eine Peersönlichkeit anwesend machen und vergegenwärtigen, der er in Wahrheit für sich und durch sich nicht wirklich als der sein kann, als der er schließlich da sein muss. Die zwischenmenschlichen Verrücktheiten haben in der Rückbeziehung ihrer abstrakt gewordenen Sinne zur Religion, zum Glauben an eine übermenschliche Verbundenheit gefunden. Sie müssen allerdings von da her nun auch die Gestaltungen ihrer Götter nachvollziehen, sich in der Demut ihrer Beschaffenheit als Verneigung vor einer ihnen entfremdeten Schöpfung fühlen. Im religiösen Selbstgefühl vollstrecken sie daher nun in sich selbst - in ihrer blanken Individualität - den Lebenszusammenhang einer weltumspannenden Subjektivität der Allmacht einer ihnen gänzlich fremden Schöpfung.

"Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur [Ehrenpunkt], ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist."(MEW 1, S. 378f)

Die verrückte Welt der Kleinbüger hat somit immerhin für sich selbst bewiesen, dass es ein zwischenmenschliches Subjekt der Verückungen ihrer sinnlichen Gewissheiten gibt, das den Zusammenhang der Zwischenmenschen formuliert und dadurch nun auch eine geistige Macht über sie gewonnen hat, wodurch sie sich als bloße Zwischenmenschen tatsächlich auch gesellschaftlich versammeln konnten. Sie können daran allerdings nur teilhaben indem sie ihre Enttäuschung über ihr Dasein verleugnen, es vorziehen sich über ihren Selbstverlust hinweg zu täuschen. So müssen sie vor allem erstmal sich selbst vergessen, um ihrem fundamentalen Selbstzweifel zu entgehen und den Selbsttäuschungen ihrer Scheinwelt Folge zu leisten. Sie müssen jetzt ihr Leben ganz selbstlos begründen, um ihren Lebengrund außer sich zu erfahren und zu bewältigen.

Doch der ist nun absolut hinterhältig geworden, lebt von der Hoffnung auf einen Sinn, den es nicht wirklich gibt, der aber ihr Leben in den Tatsachen ihres Daseins so übermenschlich bestimmt, dass sich ihre Selbstwahrnehmung mit all ihren Selbstgefühlen in einer Welt der Selbstentfremdung objektiiert und außer sich wiederfindet (siehe objektives Selbstgefühl). Und das macht nun den konkreten Sinn des Kleinbügertums erst wirklich abstrakt. Denn war ihre Selbstwahrnehmung bisher noch in unzähligen Einzelheiten aufgesplittert, so wird sie jetzt zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Tatsache durch die Entdeckung, dass alles Verrückte für ihn dann einen wirklichen Sinn hat, wenn er darin die Unendlichkeit seiner Welt erkennen und bewundern kann, wenn er an die Wunder seiner zwischenmenschlichen Kultur zu glauben versteht.

"Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden, _ es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz. Jeder ist ein Kind Gottes" (Friedrich Nietzsche, WW IV, Der Antichrist, S. 1190)."

Was Friedrich Nietzsche als Selbstgefühl der Gotteskindschaft beschreibt, was für Karl Marx die Schafsnatur des Christenmenschen ist, das entsteht durch die übermächtige Gegenwart verselbständigter Gefühle, die durch ihre Gewöhnung zu einer "Macht der Gewohnheit" geworden sind. Um wahr zu sein verlangt Wahrnehmung nach dem Zusammenhang ihrer Empfindungen mit ihren Gefühlen. Objektiv besteht dieser durch die Erlebnisse und Eindrücke, wie sie durch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse mehr oder weniger notwendig sich ereignen oder zu einem Ereignis gemacht werden.

Doch hierüber wird Wahrnehmung selbst objektiv, bestimmt sich schon vor aller Erfahrung aus einer objektiv notwendigen Identität, die das Verhältnis der Empfindungen und Gefühle in den Menschen durch die Ereignisse regelt, die hierfür nötig geworden sind. Schon die bisherige Ästhetik hatte die Empfindung längst den zwischenmenschlichen Gefühleen unterworfen und zum Inhalt ihrer Verhältnisse gemacht und damit das Bestreben im Einzelnen gesetzt, das sich als ästhetischer Wille im Einzelnen darstellt. Doch was dieser bislang dargestellt hat, wird nun zur herrschenden Ästhetik einer allen Menschen notwendigen Selbstverständlichkeit, durch die nicht mehr im Einzelnen, sondern ganz allgemein alle Empfindungen ausgeschlossen werden, die sich nicht als Gefühl mitteilen. Im Maß der Durchsetzung dieser Selbstverständlichkeit tötet die einzelne Wahrnehmung ihren sinnlichen Gehalt und überantwortet sich als tote Wahrnehmung einer herrschenden Ästhetik, die natürlich nur die Ästhetik des Kulturbürgertums (siehe auch Kleinbürger) sein kann.

Das hieraus entstehende Lebensinteresse kennt allerdings nur den Tod (siehe hierzu auch Todestrieb) und sucht ihn als ihre Lebenbasis zu verallgemeinern, sich als hohere Menschlichkeit gegen die wirkliche zu erheben.Von daher bestärkt sich tote Wahrnehmung aus dem Jenseits der Gefühle und fanatisiert das Bewusstsein gegen das Leben - um selbst zu überleben.

"Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe!" (Friedrich Nietzsche, WW III, Also sprach Zarathustra, S. 340).

Tote Wahrnehmung ist nicht verdrängte Wahrnehmung. Sie hat für das wahrnehmende Subjekt im Jenseits ihrer Wahrheit gravierende Folgen, denn sie verkehrt ihren Sinn ins Gegenteil, macht aus Wirklichkeit ein Ideal, aus lebendem Totes, aus Konkretem Abstaktes, aus Teilen etwas Ganzes. Ihr Daseinszweck ist nämlich nicht ihr Leben, sondern ihr Überleben (siehe hierzu auch Todestrieb). Und das gibt es dann auch nicht wirklich, sondern iim Tunnel und Echoraum der Ewigkeit von Vorstelllungen, die schon immer das Paradies sophistischer Geistesübungen ist. Das hatte auch mal öfter die deutsche Philosophei beflügelt, wo sie auf eine Endlösung ihrer Gegensätze und Unterschiede und Widersprüche spekulierte und zu einem "Meister aus Deutschland" wurde. So konnte auch ein hervorragender Religionskritiker wie Friedrich Nietzsche zum Vorläufer einer faschistischen Staatsbegründung werden. Denn ihm galt der "Wille zur Macht" als die einzig reale Negation des Gottesglaubens, denn damit spekulierte er auf einen wirklichen Übermenschen, den er als Antichrist gegen Gott installierte.

"Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären _ nämlich des Willens zur Macht...; gesetzt, daß man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung _ es ist ein Problem _ fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet _ sie wäre eben Wille zur Macht' und nichts außerdem" (Friedrich Nietzsche, WW IV, S. 601).

Indem die Menschen in solcher Selbstbehauptung äußerst selbstlos werden müssen gewinnen sie nur dadurch an Wert, dass sie sich aus der Allgemeinheit selbstloser Menschen begründen, ihre fortbestehende Isolation als ihre ureigenste politische Existenz zu einer völkischen Natur verallgemeinern. Weil sie längst empfindungslos für andere Menschen geworden sind, kann die Selbstwahrnehmung ihren Selbstwert nicht mehr aus ihren Beziehungen heraus finden, kann sie nur noch in den äußeren Formen der Selbstbezogenheit stattfinden, an dem, was an den Menschen ist, das sich durch Selbstbehauptung herabsetzen lässt. Selbstbehauptung besteht aber nicht nur negativ gegen andere, sondern positiv auch durch ihre Zeitlosigkeit: Sie richtet sich an Gewohnheiten aus, durch die sie zumindest der Form nach überleben kann. Darin findet sie ihren Selbstwert im Kult ihrer Beziehungsform selbst, in der Gewöhnung an ihre objektive Form, an ihre allgemein gültige Vereinzelung und Einzelheit, die darin zugleich verallgemeinerung aufgehoben ist.

Selbstbehauptung in ihrer höchsten Form der Selbstlosigkeit beruht auf der Selbsttäuschung eines allgemeinen und gewöhnlichen Selbstwerts, der nur dadurch erhöht ist und überhöht wird, dass er durch eine verallgemeinerte Heilserwartung einen Unwert des wirklichen Lebens behauptet und in einer an und für sich heilen Welt produziert. Sie hat daher immer das Problem ihrer eigenen Substanzlosigkeit, die sich als unendlicher Bedarf nach Substanz jedweder Art, nach einem abstrakt menschlichen Sinn darstellt. Für sich bleibt daher die Selbstwahrnehmung ganz im Mangel ihrer Empfindungen: Man kann nichts mehr finden und empfinden, was nicht dem allgemeinen Kulturkonsum Folge leistet, was man nicht in diese Verhältnisse der Kultur unmittelbar eingibt. Selbstwahrnehmung muss nun unmittelbar produziert werden. Was die Menschen für sich und was sie füreinander waren und daher ausschließlich miteinander zu tun hatten, ist jetzt getrennt von ihrer sinnlichen Wahrheit. Diese ist zum bloßen Mittel der Selbstwahrnehmung geworden, zur Vermittlung scheinhafter Weltbezogenheit durch die Selbstwahrnehmung. Und die besteht nun allein in der Form, worin das Leben der Menschen in der bürgerlichen Kultur tatsächlich sinnlich ist: In ihrer reinen Körpergestalt, in der Sinnhaftigkeit gegebener Einzelheiten, die durch das Prinzip übermenschlicher Notwendigkeiten verbunden ist. Zwischenmenschlich ist Selbstbehauptung daher auch so allgemein, wie die Gewohnheiten der Menschen als gewöhnliches Dasein denunziert und das allgemein Ungewöhnliche geadelt wird. Sie ist jetzt selbst die Grundlage ihrer Verhältnisse als Sinnesgestalt ihres Tuns und Lassens, die sich in einer besonders ungewöhnlichen Allgemeinheit errichtet. Die Menschen haben sich darin also vollständig als die Sinnesgestalt wahr, die sie nicht wirklich sein können und in der sie sich so wahrnehmen, wie sie es zu ihrem persönlichen Überleben als Sinnesmenschen nötig haben, also in dem, was sie durch sich und von anderen Menschen wahr haben ohne wirklich selbst sinnlich zu sein.

Um in sochen Verhältnissen überhaupt Sinn für sich zu finden, durch den sie Empfindungen irgendwelcher Art haben können, müssen sich die Menschen auf einer Ebene finden, auf der ihre Begegnung selbst schon ein Umstand ihres Erlebens ist, der durch das Gewöhnliche ihrer Verhältnisse, also durch die Ereignisse ihrer Gewöhnung an sie als erneuertes Brauchtum gewonnen wird. Was sie für sich fühlen, ist nurmehr eine Objektivität ihrer Gefühle, ein Kosmos ihrer Gefühle, in dem sie sich einlassen müssen, um Wahrnehmung für sich zu haben, weil sich ihr Leben darin überhaupt nur als Erleben der hierdurch bestimmten Ereignisse existiert. Um nicht an der Selbstaufhebung ihrer Gefühle zugrunde zu gehen, müssen sie sich selbst in ihrer Begegnung äußerlich werden, müssen sie ihre Sinne als körperliche Eigenschaften ihrer Persönlichkeit äußern, als einen Sinn, der wie ein Ding für sich genommen werden kann. Was dann als Leben ihrer Gefühle erscheint, ist nun selbst reine Empfindung, wird als das wahrgenommen, als was man sich wirklich wahr hat. Hierdurch bekommt die Selbstwahrnehmung wieder einen Sinn, der zugleich von allem sinnlichen Zusammenhang ausgeschlossen ist, worin aber die Sinne auf sich zurückkommen.

Indem die Menschen darin ihre Gefühle empfinden, wird die Wahrnehmung sich selbst zum Gegenstand und erscheint in diesem verkehrt; sie wird dekadent. In dieser dekadenten Wahrnehmungen erkennt sich ein Mensch doppelt: Als gemeine Sache der Eigenschaften seines Körpers und als Subjekt pervertierter Sinne. In der Wahrnehmung ihrer Verkehrung kommen sich die Menschen auch auf verkehrte Weise näher. Ihre Kultur selbst wird in den Zweck einer Perversion gestellt. Sie wird zum Träger einer verkehrten Selbsterkenntnis. In der verkehrten Form erkennen die Menschen zwar nach wie vor ihre Gefühle, aber lediglich in der Form, in der sie sich hierbei fühlen. Indem sie sich zu anderen und über andere zu sich verhalten, verhalten sie sich vor allem in einer fortwährenden Versachlichung ihrer Wahrnehmung. Sie wird hierdurch zu einer beschränkten Wahrnehmung, zu einer Wahrnehmung, in welcher sich die Sinne gegeneinander isolieren und sich in ihrer Trennung entfalten, für sich also unbeschränkt werden. Sie breiten sich in chaotischen Wechselwirkung wie selbständige Wesen aus und bedrohen sich zugleich durch ihr jeweiliges Selbstbehauptungsinteresse.

In dieser Versachlichung erfährt die Wahrnehmung daher jetzt erst ihre innere Notwendigkeit und Vernunft, ihre notwendige Selbstbeschränkung, um aus sich herauszutreten und zu einem wirklich in sich gekehrten Gefühl zu werden, zu einem Gefühl objektiver Notwendigkeiten, worin sie ihr körperliches Leben wähnen, weil sie sich darin körperlich erleben und wofür sie sich vor allem selbst beherrschen müssen: Die Sittlichkeit einer Gesinnung, in der dem Menschen Hören und Sehen vergeht.

Aber solche Sittlichkeit besteht aus einer sehr geringen Wahrheit, lediglich aus einer Sitte, die der pervertierten Selbstbehauptung, wie sie dem aussgeschlossenen Sinn noch möglich war, nun eine kulturelle Selbstbehauptung entgegen hält, die Behauptung einer kulturellen Sinnlichkeit, die sich schließlich gegen die pervertieren Sonne der Kultur zu einem Sinn entwickelt, der sich selbst vernünftig zu gestalten sucht. Dieser Sinn kann daher übernatürlich ist, ein Sinn ist, der so natürlich erscheint, wie er über die Natur verfügen muss, in welcher sich die Sinne verstellen.

Alles, was die Hochkultur an Gewohnheiten und Brüchen darstellt, ist der gigantische Versuch einer übersinnlichen Selbstbeherrschung, welche die Gewohnheiten aus den Gegebenheiten der Lebensumstände als voneinandr isolierte Phänomene des zwischenmenschlichen Erlebens zu den tragenden Mächten der Kultur werden lassen. Was Brauchtum und Sitte hierin entwickelt haben, worin also Menschen ihre Sinne in allgemeiner Form bewahren konnten, das wird nun zur Macht des gegebenen Lebens gegen alles, was in der Kultur selbst als sinnlos erscheint.

Es geht in der Abhandlung der Sittlichkeit darum, wie diese sich aus den Gewohnheiten bildet und zu einer abstrakten Selbstverständlichkeit wird und was sie schließlich zu einer gesellschaftlichen Substanzwerden lässt, aus der sie ihre Macht über Menschen bezieht. Es ist die erste Form einer Allgemeinheit, worin Hochkultur mächtig wird. Und dies wird auch die Grundform von dem sein, worin sich die Menschen ihrer eigenen Kulturform beugen.

Es geht nun darum, die Formverwandlung einer Kulturbestimmung zur wesentlichen Natur eines Verhältnisses des Überlebens erst mal nachzuvollziehen. Wir werden darin den Prozess der Selbstentleibung nachzuzeichnen haben, wie er im Kampf um die eigene Wirklichkeit sich gestaltet, um schließlich herauszuarbeiten, was hierbei zu einer überragenden Sinnesmacht werden kann.

Zunächst erscheint es noch absurd, dass die Flexibiltät einer Sitte zur Macht kommen kann, kennen wir doch Sitte zunächst nur als kategorisches Prinzip, als gewöhnliche Moral oder praktische Vernunft. Doch in der Kulturverhältnissen selbst ist alles anders, man lehrt dem Mores, der nicht Hören will. Aber wo alle hörig sind, da wird es die Macht einer prominenten Kultur werden, welche die Menschen in ihrem ganzen Lebenszusammenhang zusammenschließt.

 

Weiter mit Buch III: 311 Die selbstlose Wahrnehmung
(Die subjektive Vernunft des Überlebens)