Einführung in eine Kulturkritische Enzyklopädie

"Wozu Kulturkritik?" von Wolfram Pfreundschuh

"Das erste Opfer einer totalitären Herrschaft ist immer die Sprache. Die Sprache wird ihres Inhalts entleert, und mit Ideologie neu aufgefüllt. Das Ziel ist, Menschen zu stigmatisieren, politische Gegner zu identifizieren und mit abwertender Sprache auszugrenzen, um sie zu bekämpfen." (Karina Sainz Borgo, "Nacht in Carracas")

Es ist sinnfällig, dass jede Gesellschaft sich durch die Aneignung und Verarbeitung von natürlichen Ressourcen des Lebens bildet und erhält, ganz gleich, ob diese durch menschliche Arbeitskraft, Bevorratung oder durch politische oder militärische Gewalt sicher gestellt werden. Die bisherigen Gesellschaften überstanden ihre existenziellen Notwendigkeiten – die Wesensnöte ihrer Natur – durch die allgemeinen Verhältnisse ihrer gesellschaftlichen Gewalt. Von da her muss man sagen: der Kapitalismus ist im Wesentlichen kein Produkt einer wirtschaftlichen Arbeit, sondern vor allem das politische Monstrum einer im Allgemeinen vereinzelten Existenz eines für sich selbst abstrakt gewordenen Lebens in der burgherrlichen Gesellschaft – der Existenz einer dem lebendigen Sinn der Menschen durch ihr allmächtiges Dazwischensein entfremdeten Arbeit (siehe bürgerliche Kultur).

Kulturkritik ist die Kritik an einer Kultur des Kapitals, an einer gesellschaftlichen Substanz dessen, was einen widersinnigen Reichtum durch bloßen Geldbesitz darstellt, aber keinen wirklich menschlichen Reichtum vermittelt. Es ist die Kritik eines gesellschaftlichen Unvermögens, an einer in ihrer Wirklichkeit widersinnigen Kultur des Geldes, an einer gesellschaftlichen Substanzlosigkeit des Kapitals, wie dieses sich in den Institutionen einer Kultur, in den Institutionen ihrer zwischenmenschlichen Verhältnisse (z.B. in den Gemeinden, Familien, Schulen und Sitten) darstellt worin sich die Menschen selbst als das Material im Ausmaß ihrer gesellschaftlichen Bezogenheit wahr machen und wahrnehmen (siehe hierzu zwischenmenschliche Beziehung). Kulturkritik ist daher nicht einfach nur kritische Philosophie und auch keine Ideologiekritik, nicht einfach kritische Theorie, sondern vor allem eine Kritik des Unsinns einer Macht der Sinnbildung, die in der unmittelbar gesellschaftlichen Wahrnehmung, in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Menschen in einer vom Geldbesitz bestimmten Kultur der Selbstwahrnehmungen in einem bestimmten Lebensraum herrscht, zu einer Gesellschaftsform einer ästhetischen gesellschaftlichen Macht der allgemeinen Selbstentfremdung der Menschen geworden ist. Kulturkritik ist also vor allem eine Kritik des Unsinns einer Macht der Sinnbildung, die in der unmittelbar gesellschaftlichen Wahrnehmung, in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Menschen einer bestimmten Kultur in einem bestimmten Lebensraum herrscht.

Macht entsteht, wo Ohnmacht herrscht. Natur mag im Mangel das Lebens mächtig erscheinen. Sie kann aber nicht herrschen, weil sie überhaupt die Substanz des Lebens und somit das Material aller Lebensverhältnisse ist. Im Lauf ihrer Geschichte haben sich die Menschen im Streit um ihre Ressourcen im Verhältnis zu ihrer Natur durch die Bildungen ihrer Gesellschaftsformen emanzipiert, ihre Natur selbst durch ihren gesellschaftlich gebildeten Reichtum verwirklicht. Aber durch die Teilung ihrer Arbeit haben sie dessen Sinn in ihren Klassenkämpfen um ihre darin zertrennte Naturmächtigkeit gespalten, und blieben politisch durch die Ohnmacht ihrer Zerteilung an die Verfassung ihrer Klassengegensätze fixiert. So wurden Pflichten formuliert und sanktioniert, um eine übernatürliche gesellschaftliche Macht ihres privaten Vermögens politisch wirksam zu halten, eine gesellschaftliche Mehrarbeit als private Macht gegen die Lebensäußerungen der Menschen zu richten. Es ist ganz gleich ob diese Macht durch Bedürfnisse oder durch Wahrnehmungen der Menschen, ob sie sachlich oder religiös bestimmt auftritt. Das Recht der Menschen kann immer nur wahr sein, wo es richtig ist, wo es sich gegen Unrecht verhalten kann. Und wo es widersinnig ist, hat es keinen Sinn an oder durch sich.

Was nötig ist das fügt sich in die materiellen Verhältnissen des Lebens, weil es diese schon subjektiv nötig hat. Und was objektiv nötig ist, ist die Freiheit sich ohne Not hierfür oder hiergegen zu entscheiden. Die Geschichte erweist sich als das gesellschaftliche Produkt der Entscheidungen zur Bildung des menschlichen Reichtums, als Lebensstandard der Sinnbildungen ihrer Kultur, auch wenn dieser noch keine vernünftige Form hat, in seiner gesellschaftlichen Form verarmt ist.

Gesellschaft ist immer schon die Vergegenstaendlichung einer Freiheit von Entscheidungen über das, was den Menschen zur Sinnbildung ihres Reichtums nötig ist, ohne objektiv notwendig zu sein. Und das bildet auch ohne Not immer wieder das Eigene aus dem Fremden, weil sich lebendige Geschichte zwischen Subjekten und Objekten bewegt, soweit sich das Fremde nicht selbst aus den Objekten bestimmt. Macht an sich ist dabei unnötig.

Doch Macht kann auch durch Täuschung erzeugt werden, wo die Verhältnisse selbst zwischen Subjekt und Objekt vertauscht und also verkehrt, das heißt unwirklich gemacht werden (siehe auch Verkehrung), wo ihre Verwirklichung als ihre Entwirklichung existiert. Da ist das Wissen um ihre Ohnmacht das wesentliche Mittel einer menschlichen Emanzipation, als Kritik der politischen Kultur ihr politisches Werkzeug, um die Entfremdung des Menschen von der Welt, die er erzeugt, zu beweisen. Und es ist schließlich vor allem die Sprache, die dies vermitteln kann und in der Lage ist, Täuschungen zu beschreiben und ihrem Sinn nach aufzuheben. Indem sie das Vertauschte benennt und ein gesellschaftliches Bewusstsein hierüber bildet, indem sie das Mittel der Verständigung und damit des Verstandes sich einer eigenen Gewissheit öffnet und deren objektiv verkehrte Form bedenkt – indem sie den Sinn des Denkens vergesellschaftet.

"Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert. ...
Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihm als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung." (MEB 40, S. 511f.)

Es geht bei der Analyse jener Macht um das, worin die Menschen sich selbst als das Material ihrer Verhältnisse für wahr nehmen, worin sie der politischen Logik ihrer Selbstwahrnehmungen, dem ästhetischen Willen ihrer zwischenmenschlichen Verhältnisse, der gemeinen Macht der Zwischenmenschlichkeit ihrer unmittelbaren Lebensverhältnisse unterworfen sind. Durch dessen Kulte und Sitten im Erleben und Leiden in und an ihren zwischenmenschlichen Beziehungen wird ihre Selbstwahrnehmung der Logik ihrer wechselseitigen Einverleibungen im Nutzen eines allen gemeinen Verhaltens entstellt und im Großen und Ganzen einer abstrakten Gemeinsinnigkeit gleichgeschaltet (siehe hierzu auch Norm). Von daher ist es nötig, den Unsinn einer politischen Kultur durch das Begreifen und Zutrauen in die Wahrheit der eigenen Wahrnehmung zu empfinden, um ihren politischen Verallgemeinerungen zu entkommen bzw. diese aufzuheben.

Eine Zerstörung der Sprache kann allerdings nicht sprachlich überwunden, nicht etwa ideologiekritisch aufgehoben werden, weil der Grund ihrer Zerstörung ihr äußerlich ist. Durch solche Kritik zerfällt sie lediglich zu einem politischen Nominalismus (siehe auch Strukturalismus), der sich endlos durch nichts bestärkt (siehe schlechte Unendlichkeit), weil er selbst nichtig ist. Sprache ist das älteste Kulturgut der Menschen, das praktische Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Beziehungen. Wo sie aber im Schatten von Tatsachen nurmehr über verbale Interpretationen verfügt, wo sie über verschiedene Aspekte hierüber nur informiert, wo sie sich im Selbstverständnis von Selbstverständlichkeiten zum moralischen Medium von Selbstbezüglichkeiten entwickelt, da wird ihre Vermittlung zum Ereignis einer übermächtigen Einfältigkeit (siehe hierzu tote Wahrnehmung), zur Selbstdarstellung von Vorstellungen, Bildern und Gefühlen der Selbstwahrnehmung. Darin wird Wahrnehmung auf ihren selbstbezüglichen Nutzen, auf eine Kommunikation von bloßen Interpretationen, Meinungen und selbstgerechten Verbindlichkeiten von allseitig verbürgten Lebenspflichtigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft reduziert und dadurch die Grundlagen der gesellschaftlichen Geschichte ihrer Kultur aufgelöst, ihre Wahrnehmung abgetötet (siehe tote Wahrnehmung). Damit wird die Erkenntnis der Inhalte ihrer Wahrnehmung, die wirklichen Potenziale ihrer Sinnbildungen, ihre Wahrheit als Notwendigkeit der Selbstveränderung der Menschen zerstört.

Wahrheit kann man weder nehmen noch geben. Wahrnehmung ist von da her nicht bloßes Auffassen, nicht einfache Kognition als Aufnahme anwesender Gegenstände, die sie vorfindet. Sie besteht zunächst nur aus dem, was die Menschen darin für sich finden, aus der Empfindung ihres gegenständlichen Lebens, auf das und wodurch sie sich in ihrer Gesellschaft aufeinander beziehen, weil und sofern es ihnen und ihren Sinnen entspricht. In ihrer sinnlichen Gewissheit erweist sich, wodurch und worin ihre Lebensäußerungen in ihrer gegenständlichen Welt als Objekte ihres Lebens für sie wesentlich und also gewiss wahr sind, – warum und wodurch sie also ihnen substanziell "wesensverwand" sind. Von daher ist Wahrnehmung die Elementarform ihrer Erkenntnisse, die Form, worin für die Menschen ihr Gegenstand, ihr gegenständliches Sein nicht nur für wahr genomen, sondern auch bei Abwesenheit wirklich wahr ist, weil Wahrnehmung in ihrer Zwischenmenschlichkeit ihrer Lebensverhältnisse nur in ihrer Verkehrung bewahrheitet finden kann. Wo sich die Menschen mit sich in ihren Sachen in dem vereinen, was sie durch ihr gemeines Wesen, durch ihr Gemeinwesen für einander sind und was sie von einander halten. Darin erweist sich auch die Wahrheit ihrer Verhältnisse als ihre Welt und wird im Verlauf ihrer Geschichte zu einer ihnen äußerlichen, zu einer Warnehmungsidentität außer sich. Aus ihrer Selbstentfremdung ergeht die Erkenntnis dessen, was zu besprechen nötig ist.

Wo, wenn, weil und solange Sprachlosigkeit herrscht wird darüber denken unmöglich (siehe hierzu Positivismus). Doch auch Sprachlosigkeit lässt sich an ihren Begriffen beweisen, weil sie in sich selbst schon ihren Widersinn darstellen, weil sie sich in sich tautologisch begründen, ihre Aussagen zugleich als Grund für sich behauptet und in ihrer sprachlichen Interpretation ihren wirklichen Sinn abtötet. Solche Begrifflichkeit dreht sich im Kreis unsinniger Worte, die ihre Abstraktion durch ihre unendliche Selbsterweisung verewigen. Wer ihnen auf ihren wirklichen Grund geht, wird die Bemühung einer Beschreibung unsinniger Verhältnisse entdecken, die über die Abwesenheit ihres Wesens, über ihre Nichtigkeit hinwegtäuschen sollen. So hatte schon der Begründer einer kritischen Philosophie (siehe kritische Theorie), Karl Marx, den Begriff des Tauschwerts entzaubert, der als "contradictio in adjecto." (MEW Bd. 23, S. 50) sein grundlegendes Verhältnis, den Warentausch, schon voraussetzt, den Grund aus dem bezieht, was er erst begründen will. Es sind die Preise, die zunächst willkürlich erscheinen, die aber zugleich in ihrer allgemeinen Wertform als Geld beweisen, dass ihr Wert sich nicht durch beliebige Relationen darstellen kann. Sie kündigen lediglich von dem, was sie nicht wirklich sind, weil sie nicht in ihrer relativen Bestimmtheit wahr sein können. Es ist lediglich der politische Wille des Privateigentums, der sich darin verfestigt (siehe hierzu "Krtik der politischen Ökonomie""). So offenbaren auch die Begriffe der Kulturkritik ihren Widersinn, wenn sie sich aus einem bloßen Dasein in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit begründen, worin sich die Menschen nur als das Material ihrer Verhältnisse verwirklichen, sich nur im Dazwischensein ihrer Beziehungen verhalten können.

Sie können ihre zwischenmenschlichen Verhältnissen nur in dem bestimmt wissen, worin sie sich selbst in ihrer Zwischenmenschlichkeit jenseits ihrer wirklichen Verhältnisse als wesentlich menschlich behaupten und fühlen können (siehe hierzu auch "Krtik der politischen Kultur"). Die Welt, in der die Menschen ihre Verhältnisse nur zwischen sich und anderen wahrnehmen können (siehe Dazwischensein), in der sie keine Gegenständlichkeit ihres Lebens finden und empfinden können erscheinen ihnen ihre persönlichen Verhältnisse selbst schon beliebig. Und so wundert es auch nicht, wenn sie am Belieben ihrer Liebe zergehen und für einander auch wirklich gleichgültig werden. Denn darin bleiben sie sich und einander notwendig fremd, können nur einer ihnen fremden Lebenswelt dienen, um ihr Leben zu verdienen. Und solange die Menschen ihr Leben verdienen müssen, können sie nicht als lebende Menschen gesellschaftlich zusammenwirken, keine gemeinschaftliche Wirklichkeit ihres Lebens und keine dem entsprechende Sprache bilden.

Wo Sprache ihre Wahrheit nicht kennt, bleibt sie ohne Wissen und also ohne eine Selbstgewissheit ihrer Ur-Teile. Und Ungewissheit macht Angst, weil sie nichts erklären kann, wo sie sich nicht ihrer selbst vergewissern, sich nicht in ihren Beurteilungen bewahrheiten und durchsetzen kann, sich im Jenseits der Wirklichkeit ihrer gesellschaftlichen Beziehungen und Lebensäußerungen auf irgendeine Selbstgerechtigkeit ihrer Meinung reduzieren muss – und daher nur ihre abstrakte Wahrheit in allen Formationen der Selbstwahrnehmung vermitteln kann.

Darin veräußert sie aber lediglich die Not ihrer Sinne und vertauscht sie in die Notwendigkeiten ihrer Masse zu einer abstrakt allgemeinen Not. Darin wird sie zu einer blanken Lebensangst verfestigt. Und darin kann nur die abstrakte Masse einer allgemeinen Selbsttäuschung mächtig werden, weil sie sich durch ihre bloße Form vermittelt, das Grauen ihrer Vereinzelung zu einer allgemeinen Güte ihrer Masse verkehrt, sich darin vereinseitigt und so das Einfältige prominent macht. Ihre Freiheit wird zur Gefahr in ihrer veräußerlichten Allgemeinheit, wenn sie beliebig geworden ist, sich ihr Widerspruch in Wohlgefälligkeiten auflöst, ihre Gefährdung nicht mehr erkennbar wurde. Durch die Abwesenheit ihres sinnlichen Wesens verdoppelt sich dieses in ihrer bloß abstrakten Form, wird unerkennbar und verkannt, zur Formation nichtiger Interessen, zur Macht einer allgemeinen Abstraktion (siehe Abstraktionskraft). Der moderne Kapitalismus ist im Wesentlichen das System einer von sich selbst absehenden Wertbildung, einer sich schon durch ihre bloße Existenz der Menschen erzeugende und sich selbst verwertenden Not ihres Daseins, die sich durch die Ausbeutung der Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit in ihrer Existenzverwertung erhält, bestärkt und vertieft.

Eine Enzyklopädie ist die Aufsammlung von Gedanken, die einem ganzen Gedankenfluss entnommen sind, worin sie in einer Theorie konsistent zusammengefügt und dargestellt, in einer Theorie zusammenfließen, die letzlich - als Ganzes verstanden - wirkliche Kritik einer entäußerten Wirklichkeit ist. Kulturkritik ist nicht nur kritische Philosophie und auch nicht einfach kritische Theorie, sondern vor allem eine Kritik des Unsinnigen, dem Widersinn in den unmittelbar gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, in denen sie sich selbst zum gesellschaftlichen Material ihrer Verhältnisse machen, indem sie sich selbst als Mittel ihres Lebens vergegenständlichen und veräußern. Durch ihre zwischenmenschlichen Beziehung auf Andere werden sie selbst zum Material tautologischer Lebensverhältnisse und verkehren darin ihre Selbstachtung zu einem Selbstwert ihres Geltungsstrebens (siehe Selbstverwertung). So sind sie in ihrer Zwischenmenschlichkeit außer sich, können sich nur durch ihre Wahrnehmung von sich, in ihrer Selbstwahrnehmung durch ihre Selbstgefühle bewahrheiten. Und darin sind so vor allem der Ästhetik einer politischen Vernunft unterworfen, die sie in ihren zwischenmenschlichen Verhältnissen über ihre Selbstbehauptungen befolgen (siehe hierzu auch Faschismus), um überhaupt noch als gesellschaftlicher Mensch, als Mensch in menschlichen Beziehungen zu existieren.

Und so wird schon ein anderes gesellschaftliches Wesen begründet, das sich dem kulturellen Wesen ihrer praktischen Lebensproduktion enthebt und sich darüber vor allem ein Bild macht, sich durch Bilder ihrer Kultivation sich von deren Wahrnehmung trennt und durch die objektivierte Verbildlichung sich zum Eindruck einer Selbstwahrnehmung wandelt, sich als Bild von Empfindungen zu einer eigenen Wirklichkeit abspaltet. Durch ihre über ihre stoffliche Lebenspraxis hinweg entwickelten Sitten im zwischenmenschlichen Erleben und Leiden der Menschen wird ihre Selbstwahrnehmung für den Nutzen eines allen gemeinen Verhaltens im Großen und Ganzen zu einem abstrakten Gemeinsinn entstellt und gleichgeschaltet. Von daher ist es nötig, den Unsinn einer politischen Kultur durch das Begreifen und Zutrauen in die Wahrheit der Wahrnehmung ihrer eigenen Welt zu heben und aufzuheben.

Die Enzyklopädie einer kulturkritischen Begrifflichkeit schien mir nötig, nachdem ich in den 1980er Jahren festgestellt hatte, dass die Sprache der Kulturkritik fast vollständig zerstört und unkommunizierbar geworden war. Wenn Sprache Sinn formulieren, praktisches Bewusstsein sein soll, so können Worte nicht bloße Interpretation bleiben. Sie müssen aus ihrem praktischen Sein heraus an ihren Sinnbezug erinnert und hierin erläutert werden. Die Sprache verhilft schon durch ihre ganze Entwicklung und Tiefsinnigkeit selbst über die Zeit modischer Effekte, Reize und Ereignisse, denn sie kommuniziert ein umfassenderes Wissen, als es der bloße Augenblick erfordert, und bewährt sich nur, wo sie wirkliches Sein auspricht und formuliert. Auch Philosophie lässt sich als Sprachtheorie begreifen, die ihren Hintersinn als ihre Weisheit, aber auch als ihre Koketterie offenlegt. Von da her treffen sich viele "Disziplinen" des Denkens, die es entweder zu einem Verstand bringen oder zu einer Disziplinierung seiner Freiheiten. Aber in der Reflexion durch Sprache können sie sich als seiendes Wissen im bewussten Sein zusammenfinden. So werden auch Gepflogenheiten eitler Gedanken auf ein Bewusstsein rückführbar, wo es sich selbst entfremdet hat, und aus seiner Selbstentfremdung nach Gewissheit sucht, die es nur in seiner Wirklichkeit finden kann, wenn das Erkenntnisinteresse darauf gerichtet ist.

Sprache ist praktisches Bewusstsein. Sprachlosigkeit entsteht, wo Wissen fehlt, wo es ungewiss ist oder wo damit über Verhältnisse hinweg getäuscht wird, in denen alles, was auch so schon abstrakt genug ist, selbst schon vertauscht erscheint und durch Sprache nur idealisisert wird. Abstraktes Bewusstsein ist Ideologie, die abstrakte Wirklichkeit gedanklich verdoppelt und abschließt, durch Gedankenabstraktionen gegen Kritik verschließt und als ein identitäres Denken den Menschen den Blick auf das verwehrt, was ihre Verhältnisse wirklich für sie sind, auch wenn sie sich in der Vermittlung ihrer Realabstraktionen gegen sie verkehrt hat. Durch Idealisierungen soll ihr Denken ihrem Sein enthoben, mystifiziert und durch bloß Glücksversprechen mit Mythologien verfüllt werden, die Auswege als Glaubensbotschaften und Heilserwartungen schüren, in denen sie nicht nur praktisch, sondern auch geistig aufgelöst sind, zu einer heilen Welt zergehen, deren Unheil sie schließlich nur noch "wie aus heiterem Himmel" überfallen wird. Ideologie zerstört den Begriff von einer Sache oder einem Verhältnis und damit auch Sprache überhaupt, indem sie dessen Wirklichkeit durch ihre Verallgemeinerungen nichtig macht.

Wer an Sprache arbeitet, arbeitet auch mit ihr und wird in der Aufbereitung übernommener Begriffe nicht davon absehen können, wie er sie versteht. Worte implizieren Wissen und dieses kann offensichtlich gar nicht ohne Begrifflichkeit, ohne Theorie vermittelt werden. Das praktische Bewusstsein gibt es nicht für sich als "einfache Wahrheit"! Wer an ihm arbeitet wird unmittelbar selbst zum Theoretiker alleine schon dadurch, dass er es befragt, sich Gedanken um seine Wahrheit und seine Täuschungen macht und diese hieraus zum Gegenstand seiner Erkenntnis werden, ihn kritisch werden lassen. Somit geriet natürlich vieles in meiner Auffassung der Begriffe zu einer Darstelllung meiner eigenen theoretischen Arbeiten, zu einer eigenständigen Enzyklopädie. Das Kulturkritische Lexikon hat in diesem Fortschreiten nach den ersten Ausarbeitungen schnell einen Umfang erreicht, der nicht mehr einzudämmen war. Jede Hinterfragung eines Begriffs erläuterte zugleich einen anderen, von dem er sich abwandte. Es war, also ob die Worte im vereinzelten Dasein einer Sprache, die keine Begriffe zu kennen scheint, sich sehr bald zu den Gedanken einfinden, die sie längst enthalten - und dass sie sich hierdurch wie von selbst zu etwas Ganzem zusammenführen als Module eines Denkens, das sich aus dem Verschüttetenden als etwas ganz Neues herausarbeitet, ihre Gesellschaftlichkeit wieder-ent-deckt, die sich ihrer willkürlichen Verwendung schon wie von selbst entgegenstellt. So zeigt sich, dass Sprache nicht bloße Mitteilung oder Information, sondern selbst schon politisch, ein Medium der Politik ist. So enthalten Worte schon bestimmte Auffassungen, Fassungen von Gedanken aus vielen Jahrhunderten und haben hierdurch eine lange praktische Bewährung hinter sich. Die Ideologien der Zeit aber sind modisch und vergänglich. Das merkt man der Sprache an und kann es aufeinander beziehen und durch ihren Sinn deuten, weil ihre Bedeutungen auf das hinweisen, wovon die Sprache selbst oft nur eine politische Form ihrer Bedingtheit darstellt so dass sie auch das Material gesellschaftlicher Kenntnisse und Erkenntnisse bereitstellt, die den alten Traum von der guten Gesellschaft, ihre konkrete Utopie formulieren und mit einem aufgeweckten, einem hierdurch reformierten gesellschaftlichen Bewusstsein revolutionieren und die Erneuerung ihrer gesellschaftlichen Form politisch vorantreiben kann:

"Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr eigenes Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eigenen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn.... als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden. Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf." (Marx-Engels-Werke Bd.1, S. 346)

Die Sprache offenbahrt wie von selbst ihre Dialektik, sobald man sie politisch auf ihren Gehalt bezieht und reflektiert (siehe hierzu auch Politik). Ohne Bewusstsein verwendet bietet sie aber auch die Möglichkeit, mit Worten bestimmte Zusammenhänge zu verschleiern. Zugleich zeigt sich in der Zerstörtheit der Sprache, dass an ihr selbst auch gearbeitet werden muss, dass es vielleicht gar keine andere Art der Wissenserarbeitung und -vermittlung gibt, als das Durchdenken der sprachlich vorhandenen Begriffe (und die Aufstellung ihrer logischen Folge) im Zusammensein mit den Fakten des gegenwärtigen Lebens (z.B. auch Statistik). Das Lexikon ist in dieser Reflexion selbst zu einer Sprachanalyse, zu einem Kompendium von Wissensbereichen und zu einer eigenen Form von Kritik und Theorie geworden, die sich hier nun auch in ihrer Vermittlung selbst verstehen lassen will - und zwar im doppelten Sinn als Mitteilung und unmittelbare Anwendung: Zum einen als Information aus den Archiven (vergl. Zitate, Quellen, Erläuterungen, Statistik usw.) und zum anderen im Begreifen der Begriffe in ihrem gedanklichen Zusammenhang als Theorie, die sich dem informellen Gehalt zuwendet und sich selbst darin anschaulich macht, also konkret wird. Es ist dies vielleicht eine neue Art der Theorieentwicklung und -vermittlung, die allerdings nicht ohne ausdrücklich theoretische Zusammenstellung bleiben darf (siehe hierzu die Dialektische Systematik).

Neu ist somit auch die Technik der Vermittlung: Die einfache (horizontale) Verweisung der Begriffe und also unmittelbare Darstellung wird in ihrer schier unendlichen Verflochtenheit begreifbar, welche ihre wesntlichen Grundlagen wie von selbst entflechtet. die als Bewusstsein zu den gegenwärtigen Lebensverhältnissen in sie eingeht - online und transparent für alle, die mit etwas Geduld dem Vollzug folgen wollen. Es beweist sich zugleich durch diese "neue Technik" auch alte Wahrheit, dass sie nämlich nur das Ganze selbst sein könne (Hegel): Was in der Begriffsverlinkung im Lexikon sprachlich nicht funktioniert, das ist auch noch nicht zu Ende gedacht. Wohl denn. Auf zu einer neuen, einer technisch gestützten Beweisführung!

Es wird noch viel hieran zu arbeiten sein. Der große Zuspruch zu dieser Arbeit aber hat mich sehr gefreut und bestätigt mich schon jetzt darin, sie fortzusetzen. Ich bitte um Nachsicht bei der Lektüre: Meist ist der Text nur die erste, oft flüchtig in den Morgenstunden vor Beginn der Arbeit geschriebene Fassung, die manchmal nur Grundzüge des Gemeinten enthält und noch öfter überarbeitet werden muss. Aber das Lexikon lebt und wird von Tag zu Tag reifer. Ich hoffe, dass so auch ein Beitrag zur Rekonstruktion des theoretischen und praktischen Wissens der linken Bewegunngen geboten werden kann.

Wolfram Pfreundschuh (September 2003, März 2018)

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