Antiautoritäre Erziehung

Aus kulturkritik

"Die Besten meiner Generation sah ich zugrunde gehen." ("Lenz" von Georg Büchner,1839)

"Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahn zerstört , hungrig hysterisch nackt . . ." ("Howl" - "Das Geheul" von Alen Ginsberg, 1955),

"Die Tradition der toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden." (Karl Marx, MEW 8, 115).

In den 50ger Jahren wurde für den "Wiederaufbau" Deutschlands genau das bestens genutzt, was dessen Niedergang erbracht hatte – das deutsche Wesen: Fleiß, Selbstdisziplin und der Glaube an die Güte des politischen Staates, die rechte Gesinnung und die Verachtung der Andersdenkenden, der Kommunisten, Zigeuner, Juden, der Andersartigen schlechthin. Es war das Rettungsboot der entmachteten Generation des Faschismus, die den "verlorenen Krieg" beklagten und noch immer an dessen höheren Sinn glauben wollten. 68% der von der Entnazifizierung erfassten Bürger hätten weiterhin Adolf Hitler gewählt.

Totalitarismus herrschte nach wie vor – jetzt vor allem in den Wohngemächern der Kleinfamilien. Deren private Lebenswelten waren die Stätten der Zurichtung geblieben, an denen Gewalt gegen Leben verübt wurde, das nicht sein durfte was es war, und doch etwas sein musste, um an seinen höheren Sinn zu glauben – Widersinn schlechthin, ähnlich unbegreifbar wie der Nazismus, dem er entsprungen war. Ohne den deutschen Faschismus zu begreifen, konnte der Widersinn der Lebensbedingungen der Nachkriegsgeneration nicht verstanden werden. Aber Faschismus war unter solchen Bedingungen keine politische Haltung, die zu bekämpfen gewesen wäre, sondern pure seelische Gewalt.

Die Veröffentlichung der Privaträume wurde für die davon betroffene Generation daher zu einer Notwendigkeit der Selbstbildung und der erste Grund ihrer Politisierung, der Kern ihrer Radikalität. Ihr war ein tiefes Misstrauen gegen die Opferrolle ihrer Eltern zu eigen, deren politische Generatoren sich wieder aufrüsteten, die Welt zu bekehren. Nicht nur, dass sie von den Vernichtungseinrichtungen der von ihnen gewählten Faschisten "nichts gewusst haben" wollten, machte sie unglaubwürdig, sondern dass sie ungebrochen den Ungeist transportierten, der die Ungeheuerlichkeiten des deutschen Faschismus ermöglicht hatte, störte den Frieden im eigenen Haus, den Frieden der Familien. Ihre zwanghafte Unberührbarkeit von ihrer eigenen Geschichte verriet die erregte Gewalt ihrer Güte, ihre Sucht nach einem Auskommen im trauten Heim gegen eine Welt, die sie nicht mehr verstanden. Ihre Moral war nicht nur politische Legitimation, sondern auch Züchtigung jedweden Aufbegehrens, politische und psychische Gewalt in einem ... Wilhelm Reich nannte es "Zwangsmoral". Und das machte den Autor einer psychoanalytischen Strömung, der in Deutschland bis 1964 völlig vergessen war, wieder interessant.

Der deutsche Faschismus war nicht von ungefähr entstanden. Aber er ließ sich auch nicht einfach und unmittelbar als Produkt ökonomisch oder ideologisch bestimmter Politik begreifen. Nach seinem Untergang im Bombenhagel der Alliierten bemühten sich viele zutiefst erschrockene Theoretiker um die Erklärung seiner Entstehung. Aber lange bevor der Nazismus sich politisch formierte, hatte Wilhelm Reich schon ausführlich über dessen subjektive Wesenszüge gearbeitet. Im Jahr 1933, im Wahljahr Adolf Hitlers, war von ihm unter anderem auch die Schrift "Massenpsychologie des Faschismus" herausgekommen. Diese Schrift wurde auch zu einer der Grundlagen der "antiautoritären Bewegung.

Reich bearbeitete darin ein psychologisches und auch ein theoretisches Problem der Marxrezeption: Wie kann es sein, dass Menschen ihr Verlangen nach Freiheit aufgeben, sich stattdessen sogar an ihrem Objektsein begeistern können, dass sie sich einer Politik beugen und sie sogar wählen, die ganz offen nur ihre Disziplinierung und Unterordnung unter die Übermacht des Staates will. Wie können erwachsene Menschen einer Gewalt zustimmen, die sie "säubern" und gleichschalten und artig machen will und die Vernichtung von Andersartigkeit in der Metapher der Unartigkeit betreibt? Wie können sie sich wie kleine Kinder hinter einem Führer kuschen, der behauptete, dass durch solche Vernichtung das Heil der Menschen erst wirklich erreicht werde und dass man hierfür auf alles verzichten müsse, was das eigene Leben bereichert?

Sigmund Freud hatte hierauf schon 1920 eine fatale Antwort gegeben: Es sei der Todestrieb der Menschen, die menschliche Natur, die solches möglich mache. Wilhelm Reich stellte sich hiergegen wie auch gegen die Auffassung der KPD, dass es alleine bürgerliche Ideologie sei, welche die totale Unterordnung erheische. Ihm ging es um eine neue Verortung der Ideologiebildung zwischen subjektiven und objektiven Substanzen, zwischen Selbstwahrnehmung und ökonomischer Existenz.

Obwohl Reichs theoretische Entwicklung in einem Fiasko endete, muss seinem politischen und menschlichen Engagement eine vielfältige Wirkung zuerkannt werden. Die detaillierte Beobachtung repressiver Sozialisation und ihrer notwendigen Beziehungsform als Kleinfamilie hatte zur Sprache bringen können, was in den Privatnischen und Zellen der bürgerlichen Gesellschaft geborgen und verborgen wurde. Immerhin hatte auch seine Freudkritik Probleme der Psychoanalyse angerührt, die sie als Anpassungspraxis einer repressiven Gesellschaftsstruktur herauszustellen verstand.

Politisch wurden seine Beschreibungen dort genutzt, wo Selbstunterdrückung kultiviert war und sich in autoritären Charakterstrukturen niederschlug. In den 30ger Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie für die Arbeiterjugend äußerst hilfreich und ermöglichten Verbesserungen ihrer Kultureinrichtungen. Seine "Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (ZPPS)" eröffnete die erste Sexpol-Bewegung schon während der Nazizeit. In der Studentenbewegung hatten dieselben Beschreibungen zur Anerkenntnis eines "subjektiven Faktors" in der Politisierung geführt, der in Bezug zu den objektiven Verhältnissen begriffen werden konnte. Und schließlich hat die Frauenbewegung durch seine Freudkritik und seine Ausführungen zu mutterrechtlichen Gesellschaftsformen und den Verhältnissen in der patriarchalischen Kleinfamilie viel Material bekommen.

In den studentischen Kommunen wurden auf der Grundlage Reich'scher Begrifflichkeiten die Wunden der Faschistenkinder bis zum Exzess dargestellt und vermittelt. Sie litten vor allem unter Identitätsstörungen, sexuellen Konflikten, Arbeitsstörungen und Sinnkrisen. Es zeigte sich tatsächlich (z.B. in den Berichten der Berliner Kommune II), dass die Überwindung sexueller Verspannungen ein ungeheures Reservoir an Spontaneität und Produktivität freilegen konnte, die sich damals im direkten Gegensatz zu den Borniertheiten der öffentlichen Kultur verhielten. Von da her traf Reichs Darstellung von Sexualität und Hemmung zu und spielte eine zentrale Rolle in der persönlichen Emanzipation der ersten Nachkriegsgeneration, die sich in diesem Gegensatz auch politisch verstehen konnte. Aber ohne diesen muss man die persönliche Befreiung nicht unbedingt als politisch ansehen. Sie geschah auch nicht wirklich durch "freien Sex", was immer das Wort auch bedeuten mag. Solche formalisierte Freiheit wurde leicht zu einer weit sublimeren Repression, die allerdings erst später in Berichten der freien Kommunen (z.B. der Kommunen-Kommando-Gesellschaft des Otto Mühl) reflektiert wurde.