Individualisierung
"Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren und ein abstrakt - isoliert - menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. kann bei ihm daher das menschliche Wesen nur als "Gattung", als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlichverbindende Allgemeinheit gefaßt werden." (6. FeuerbachtheseMEW Bd.3, S. 533 bis 535)
Individualisierung meint die auf ihr Individuelles Dasein reduzierte Persönlichkeit, also auf die Selbstbezogenheit des bürgerlichen Individuums reduzierte Beziehung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Positiv (siehe auch Positivismus) beschreibt dieser Begriff die hervorgehobene Verselbständigung des Indviduums gegen kollektivistische Haltungen. Allerdings setzt ein Individuum immer schon Gesellschaft voraus, weil es den Menschen nicht als Individuum geben kann (siehe auch Evolution). In jedem Individuum steckt das Ganze der Gesellschaft. Individualisierung ist die Umkehrung hiervon: der Aufhebungsprozess von Individualität durch gesellschaftliche Formbestimmung des Individuums, zum Beispiel �ber die Heraussonderung von Individuen aus ihrer Gesellschaft durch gesellschaftliche Kategorien, die das Individuum bewerten (z.B. Psychische Krankheit), ohne sich auf es gesellschaftlich zu beziehen. Sie bedeutet die Isolation eines Teils aus dem gesellschaftlichen Ganzen. Oft findet er auch als Privatisierung statt, in welcher gesellschaftliche Funktionen durch Verwertunginteressen ersetzt werden.
"Je größer, je ausgebildeter also die gesellschaftliche Macht erscheint innerhalb des Privateigentumsverhältnisses, um so egoistischer, gesellschaftsloser, seinem eignen Wesen entfremdeter wird der Mensch." Karl Marx in Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) (Marx-Engels-Werke Bd.40, S. 454)
Der bürgerliche Zwiespalt zwischen Individuum und Gesellschaft, wie er durch die Isolation der Nützlichkeit seiner Bezogenheiten und der Allgemeinheit des Verwertungszusammenhangs bestimmt ist, stellt sich auch kulturell unmittelbar als Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Bereicherung dar. Weil diese Beziehung gegenständlich nicht existiert, weil die Gesellschaft selbst als Gesellschaft der Arbeitsteilung absolut ist, sind die Vermittlungen auch zwischen den Menschen nur durch die Einverleibung ihrer Anwesenheit möglich.
"Ein jeder Mensch will gleichzeitig teilnehmen und gleichzeitig in Ruhe gelassen sein. Und da das eigentlich nicht möglich ist, beides, ist man immer in einem Konflikt. Man macht hier die Tür zu, um wieder allein zu sein, in dem Moment, wo man die Tür zumacht, ist einem gleichzeitig auch bewußt, dass es falsch ist, dass es wieder eine falsche Handlung ist, weil man es im Grund nicht will; weil man erstens einmal weiß, dass das Alleinsein viel unanangenehmer ist, aber andererseits können S'nix machen. Mit einer Frau zusammen können S' ja nicht Bücher schreiben oder halt blöde, letzten Endes, das geht ja net. Und mit einem Mann z'samm', der geht Ihnen auch auf die Nerven, weil das auch nix anders ist, also das Zusammensein, das ist alles sehr kritisch und schwierig." (Kurt Hofmann Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard - dtv - 1991 )