Randgruppen
„So übel war's in Deutschland nie, Trotz aller Zeitbedrängniß – Glaub' mir, verhungert ist nie ein Mensch In einem deutschen Gefängniß. Es blühte in der Vergangenheit So manche schöne Erscheinung Des Glaubens und der Gemüthlichkeit; Jetzt herrscht nur Zweifel, Verneinung. (Heinrich Heine: "Ein Wintermärchen", 1844)
Randgruppe ist ein Begriff für die Lage von Menschen, die aus dem Reproduktionsverhältnis (Lohnarbeit oder selbständige Arbeit) herausgefallen sind oder schon garnicht hereinkommen konnten (z.B. Sozialhilfeempfänger, Behinderte, chronisch Kranke - dauerhaft Arbeitslose). Unter Randgruppe wird also ein Lebensbereich von Menschen zusammengefasst, mit denen nicht mehr gerechnet wird, d.h. die weder zur Produktion noch zur selbständigen Reproduktion hinzugezogen werden. Inzwischen bilden hiervon die einen eigenen Arbeitsmarkt, die mit 1 Euro-Jobs in "soziale Tätigkeiten" einbezogen werden. Sie haben die doppelte Funktion, die sozialen Reproduktionskosten zu mindern und zugleich die Androhung einer aufgezwungenen Arbeit zu verkörpern.
Randgruppen sind vom gesellschaftlichen Produktionsprozess abgesonderte Menschen, die entweder durch die Lage des Arbeitsmarktes oder durch die Anforderungen der Kultur - meist durch beides in einem - dauerhaft nicht mehr funktional sein können. Oft wird behauptet, dass sie dies als ihr Leben so gewählt hätten, also nicht anders leben wollten (siehe Wille). Diese Behauptung ist ein Widersinn in sich, unterstellt sie doch, dass Leben wählbar ist wie ein Arbeitsplatz oder Nichtarbeitsplatz und dass eine solche "Wahl" nichts mit dem gesellschaftlichen Leben zu tun habe.
Innerhalb der Kultur sind Randgruppen objektiv zur Erhaltung der Existenzangst nötig, die eine wesentliche subjektive Bedingung der Lohnarbeit ist - nicht als Einsicht in die Notwendigkeit, durch Arbeit sein Leben zu produzieren, sondern als Angst, nichts zu sein außer der Arbeit. Randguppen sind das Produkt der so produzierten Lebensangst und zugleich ihre Verwahrung. Durch Subkulturen werden jenseits der bürgerlichen Kultur (also jenseits von Familie, Gemeinde u.ä.) Zustände des Lebens, die sich nicht auf ihre Herkunft rückbeziehen lassen, fixiert und in ihrer disfunktionalen Selbstbeziehung belassen - solange sie sich nicht gesellschaftlich äußern. Da sie nicht mehr als Potential des Arbeitsmarktes gelten, bleibt ihre Abschottung und Individualität staatlich ausdrücklich erwünscht und wird vorwiegend in Selbstbetreuung kanalisiert. Hier deckt sich Individuation mit Individualisierung als Teufelskreis einer sozialen Abwärtsspirale.
Eine große Gruppe am Rande der Gesellschaft, die keine Randgruppe ist, sind Ausländer, die einen beträchtlichen Teil der Arbeitskraft ausmachen, welche zugleich kulturell und politisch jenseits des ökonomischen Verhältnisses bestimmt ist. Hier wird kulturelle Ausgrenzung zum Wesen einer neueren Art von Ausbeutung.