Uk2020

Aus kulturkritik

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Der nachfolgende Text ist eine Beschreibung der Argumentation in dem gleichnamigen Buch. (==> Verlagsinformationen hierzu <==)

220. Einleitung in eine Kritik der Sozialisationstheorie

Das unmittelbar soziale Verhältnis der Menschen als Menschen hat in den verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Beziehungen der Geschlechter und Generationen entwickelt, die sich besonders in der Gestaltung ihres Stammes- und Familienwesens darstellen. Sie richten sich von ihrer Natur her an den gesellschaftlichen Möglichkeiten der Lebensproduktion aus, wie sie im Entwicklungsstand ihrer Naturaneignung bestimmt sind. Beschreibungen von Eingeborenen naturwüchsiger Gesellschaften zeigen sehr eigenständige Kulturen in Sitten und Geräuchen des Geschlechtsverhaltens und der Sorge um die Nachkommen, in den Extremen von patriachaischen oder matriarchaischen Hegemonien oder Mischkulturen, in denen Verwandschaft nach den Möglichkeiten der Fürsorge bestimmt werden.

So beschreibt Wilhelm Reich z.B. die Verhältnisse bei den Trobriandern, den Eingeborenen der Trobriand-Inseln in Neu-Guinea, die Männer, Frauen und Jugendlichen vollständig eigene Lebenswelten zubilligten, die über Großfamilien verbunden waren und für ihn zum Vorbild für eine freie sexuelle Entwicklung wurden. Anders als in westlichen Gesellschaften werden die Kinder dort weggegeben, um bei nahen Verwandten aufzuwachsen, in der matrilinealen Kultur hauptsächlich in der mütterlichen Verwandtschaftslinie. Und Friedrich Engels zitiert einen Indianerstamm im Staat New York, der Eltern zwar als Paarungsfamilie ansieht, die verwandschaftliche Fürsorge aber hiervon gänzlich unterschieden abtrennt:

Der Irokese nennt nicht nur seine eignen Kinder, sondern auch die seiner Brüder seine Söhne und Töchter; und sie nennen ihn Vater. Die Kinder seiner Schwestern dagegen nennt er seine Neffen und Nichten, und sie ihn Onkel. Umgekehrt nennt die Irokesin, neben ihren eignen Kindern, diejenigen ihrer Schwestern ihre Söhne und Töchter, und diese nennen sie Mutter. Die Kinder ihrer Brüder dagegen nennt sie ihre Neffen und Nichten, und sie heißt ihre Tante. Ebenso nennen die Kinder von Brüdern sich untereinander Brüder und Schwestern, desgleichen die Kinder von Schwestern. Die Kinder einer Frau und die ihres Bruders dagegen nennen sich gegenseitig Vettern und Kusinen. Und dies sind nicht bloß leere Namen, sondern Ausdrücke tatsächlich geltender Anschauungen von Nähe und Entferntheit, Gleichheit und Ungleichheit der Blutsverwandtschaft; und diese Anschauungen dienen zur Grundlage eines vollständig ausgearbeiteten Verwandschaftssystems, das mehrere hundert verschiedne Verwandtschaftsbeziehungen eines einzelnen Individuums auszudrücken imstande ist. Noch mehr. Dies System ist nicht nur in voller Geltung bei allen amerikanischen Indianern (bis jetzt ist keine Ausnahme gefunden), sondern es gilt auch fast unverändert bei den Ureinwohnern Indiens, bei den drawidischen Stämmen in Dekan und den Gaurastämmen in Hindustan. Die Verwandtschaftsausdrücke der südindischen Tamiler und der Seneka-Irokesen im Staate New York stimmen noch heute überein für mehr als zweihundert verschiedne Verwandtschaftsbeziehungen. (Friedrich Engels - Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats MEW 21, S. 36f)

Die zwischenmenschlichen Verhältnisse haben sich in den Lebensburgen der der bürgerlichen Gesellschaft zu Liebesformen entwickelt, die unumstößlich wie eine Vertragsform sind, so dass sie die dem Privateigentum adäquate Kleinfamilie in ihrem Wohnraum zu sichern vermag. Daher erscheint es hier natürlich und sinnfällig, dass sie zu einem aus ihrem Wohnen, aus ihrer Gewöhnung bestimmten Verhältnis dazu beitragen müssen, dass sich die Persönlichkeiten ihrer Verhältnisse ohne Schaden darin auch fortbilden können. Es ist eine Selbstverständlichkeit ihrer Liebesbezieungen, dass sie sich füreinander einsetzen und einander auch hegen und pflegen, wo es privatim nötig erscheint, bevor dies gesellschaftliche Beachtung findet. Als Rollen der Liebespflicht sind sie lebenspflichtig geworden, meist definiert durch persönliche Eigenschaften wie z.B. Mutter, Vater oder Kind zu sein. Doch diese Rollen sind kulturbedingte Erfindungen, sind Eigenschaften, die nur in einer bestimmten politischen Kultur solche Eigenständigkeit haben. Es sind politische Formationen, die als Träger der Sozialisation auftreten, als menschlich notwendige Beziehung kultureller Werte erscheinen.

Man könnte daher meinen, dass Erziehung eine bewusst politische Angelegenheit sei, wenn man sie von der Seite bedenkt, dass darin kulturelle Werte vermittelt werden, die einen Menschen sozusagen gesellschaftfähig macht. Das ist wohl auch die weit verbreitete Auffassung der Sozialwissenschaften. Doch als rein politisches Verhalten der Erzieher zu ihren Zöglingen würde sie nicht gelingen, wenn sie nicht selbst ein sehr bestimmtes Lebensinteresse verfolgen würde, wenn sie nicht einer bestimmten Notwendigkeit in den zwischenmenschlichen Lebenswelten selbst entspräche. Ein rein politisch bestimmtes Verhalten gibt es überhaupt nirgends außer in den Institutionen der Politik selbst, in den Entscheidungsgorganen des politischen Willens. Das aber ist hier etwas gänzlich anderes. Politische Erziehung gibt es nicht, selbst wenn Erziehung politische Inhalte vermittelt. Sie hängt immer davon ab, wie die Menschen hierbei zu einander stehen, was immer auch ihre Inhalte sein mögen.

Subjektiv ist das erzieherische Verhältnis in unserer Kultur aus der Notwendigkeit bestimmt, sich in seiner Selbstwahrnehmung zu kontrollieren, um in zwischenmenschlichen Beziehungen die darin Gepflogenheiten auf sich selbst zu nehmen, sich daran zu gewöhnen und damit dem Inhalt nach diese Kultur in sich zusammen zu fassen. Erziehung bestimmt sich daher selbst aus einem Verhältnis, worin geborgenes Leben die ihm nötige Pflichten nicht nur kennenlernt, sondern sich ihren Inhalten beugt.

Die zwischenmenschlichen Verhältnisse der Selbstverwirklichung hatten ergeben, dass sich die Menschen in ihren Selbstwahrnehmungen aneinander bestimmt und hierfür Lebensräume geschaffen haben, in welchen sie sich in ihrer Selbstbestimmung geborgen fühlen. In dieser Geborgenheit haben sie einen Sinn errichtet, der sich aus der Ergebenheit in das Verhältnis der Selbstliebe unmittelbar nur vermittelst des Ausschlusses fremder Sinne entwickeln kann.

Dieser ausschließliche und hierdurch eingeschlossene Sinn kann aber nicht für sich sein, weil Sinn immer nur für und durch einen Gegenstand ist. Doch der Sinn zwischenmenschlicher Lebensräume kennt nur sich in diesen Bedingungen und erkennt von daher auch keine Wiklichkeit außer sich. Diese ist ihm notwendig fremd, da er sich aus den Gewohnheiten der Geborgenheit und des Verbergens ihr entfremdet hat. Er ist sozusagen in eine Symbiose mit seinesgleichen geraten, worin alles Äußere schon unmittelbar fremd ist.

Um hierbei sich überhaupt auf anderes zu beziehen, muss er eigens gesellschaftlich zugerichtet werden. Er muss dazu erzogen werden, sich auf eine ihm fremde Wirklichkeit zu beziehen. Dass eine Gesellschaft unter Geldverhältnissen nicht wirklich ist, zeigt sich hier unmittelbar an den Menschen selbst: Dort, worin sie sich geborgen haben, können sie nicht wirklich ohne Erziehung gesellschaftlich werden - es sei denn, sie umgehen solche Selbstbergungen (vergleiche hierzu meine Schrift Wider die Erziehung (1986), ein Bericht über das Kinderhaus an der Spervogelstraße in München).

In der geisteswissenschaftlichen Literatur wird Erziehung gerne mit Lernen gleichgesetzt und aus den Begriffen der Lerntheorie die Begriffe der sogenannten Erziehungswissenschaften abgeleitet. Mit Lernen hat Erziehung aber überhaupt nichts zu tun; Lernen ist ein Prozess der Neugierde und daher jedem Menschen zu eigen, besonders dem Kind. Die einfachsten Erfahrungen, z.B. auch Urlaubserlebnisse oder Jobveränderungen haben mit Lernen zu tun, ohne dass es eines einzigen Erziehungsaktes bedarf. Lernen ist das Gegenteil von Erziehen, denn es gelingt wesentlich nur aus sich heraus und bedarf höchstens der Information über Umstände, Umwelt oder Bedingungen des Lernens. Solche Anleitungen sind nicht mal als Teile des Lernprozesses, somdern selbst lediglich als Anforderung der Umstände in bestimmten Lebensräumen zu verstehen. Wo z.B. Eltern ihren Kindern vormachen, wie etwas zu bewältigen ist, beweisen sie sich selbst weltlich, weil diese Bewältigung in der Welt gelingen muss. Und auch in der Auseinandersetzung in den Konflikten des Zusammenlebens der Generationen können sie offen ihre Lebensweise im Unterschied zu der ihrer Kinder oder Eltern darstellen und austragen (z.B. auch über Ordnung, Fernsehen, Gewaltprobleme, Sexualität usw.). Sobald hier Erziehung ins Feld geführt wird, wird dieser Verhalt energisch entstellt.

Auch wird Erziehung nicht nur mit Pädagogik, sondern gerne auch mit Sozialisation umschrieben. Sozialisation meint so etwas wie das Wachsen in eine Gesellschaft hinein und meint zugleich die Vergesellschaftung von Menschen. Dies ist eigentlich zweierlei, denn wachsen kann nicht, wer vergesellschaftet wird. In der Vergesellschaftung wird einem Menschen sein gesellschaftliches Sein bereits abgesprochen. Von daher zeigt der Begriff selbst schon, dass er eine Ideologie von Privatraum ist, aus welchen die Menschen zu ihrer Gesellschaft gezogen werden müssen. Das hat wirkliche Gründe.

Jede Lebensburg ist die Verwirklichung der Abgrenzung, der Selbstunterscheidung und der Selbstbehauptung, die zum einen Geborgenheit im Verborgenen gegen die Öffentlichkeit gab, zugleich aber auch eine allgemeine Pflicht setzt, sich darin selbst zu erfüllen, eigene Welt nicht nur zu erleben, sondern sie auch zu erzeugen und zu erhalten. Die Notwendigkeiten der bürgerlichen Selbsterhaltung erscheinen daher nun als natürliche Lebensnotwendigkeiten. Ihre Herkunft aus ihrem sinnlichen Abstraktionen hat sich in der Lebensburg vollständig in Liebe aufgehoben und verkehrt sich daher nun in eine Liebesmacht, zu einer Macht der Selbstlosigkeit, die als Naturprinzip sich angesichts der Lebensnotwendigkeiten wie eine Pflicht durchsetzt. Das Leben selbst erscheint nun abhängig von einer Natur, die aus sich heraus sich in solchen Verhältnissen nicht zu verwirklichen vermag. Die Menschen erscheinen sich nun von Natur aus ohnmächtig und so machen sie sich nun von Natur aus selbstlos. Sie müssen füreinander von Natur aus Sorge tragen, um in den Verhältnissen ihrer so geborgenen Liebe zu überstehen und verpflichten sich zur Erfüllung ihrer Lebenspflichten aus Liebespflicht.

Und das ist für die Erkenntnis sehr verhängnisvoll. Es erscheint nun lebensnotwendig, die Selbstbergung zu sichern. Die Welt der persönlichen Liebe hat sie für ihr Heil nötig und bildet sich nur in solch heiler Welt fort und muss sich darin auch zusammenhalten und zusammenfassen.

Die Selbstbehauptung des privaten Glücks kann allerdings nicht mehr selbst liebend sein. Sie erfährt dies als Notwendigkeit ihrer Liebe als Lebenspflicht der Liebenden, die so selbstlos sind, wie sie darin ihre Liebe erneuern und gewinnen können. Darin erscheint die Selbstlosigkeit als Liebesgewinn und die Pflichterfüllung wird so zum sublimen Selbstgewinn durch andere, durch die letztendliche Erfüllung der Lebensbergung in der Lebensschuldigkeit. Dieses Prinzip verlangt nicht nur Liebe, sondern ist zugleich deren Selbstaufopferung. Es ist ein höchst kompliziertes Verhältnis, welches in der Abtrennung vom öffentlichen Leben entstanden ist: Liebe ist nötig, um ihre Selbstaufopferung in der Erfüllung der Lebenspflichten zu gewährleisten. Innerhalb der Gemäuer der Lebensburg wird Liebe selbst zu einem Moment der Pflichterfüllung des Lebens nötig: Notwendige Liebe, die sich opfert, um zu sein. Das stellt alles auf den Kopf, was bisher Liebe als Ausdruck eines in bestimmter Weise bezogenen Selbstgefühls und Gefühls gewesen war.

Gerade dort, wo sie besonders innig wird, wird sie zu einer sehr formellen Lebensbestimmung, die zudem sehr naturwüchsig erscheint. Was zum Leben nötig ist, ist nicht mehr nur existenznotwendig, sondern vor allem zur Erhaltung der Liebenden und Geliebten vonnöten. Es geht also nicht um die Sachen der Existenz, sondern um die Bewahrung und Entwicklung des Seelenlebens, um die Fortbestimmung dessen, was geliebt wird. Da ist viel zu tun, wird doch gerade das beständig von der öffentlichen Welt angegriffen, herabgewürdigt oder abgewertet. Die heile Welt wird zum Hort einer allgemeinen Lebensverpflichtung, die sich durch die Lebensburg ergeben hatte.

So erzwingt darin die Lebenspflicht die Tätigkeit einer Liebe, die nicht wirklich sein kann, aber als Trägerin des Lebensraums liebend wirkt. Ihr wesentlicher Grund ist die Lebensbedrohung, in welcher sich der eingeschlossene Sinn fühlt und seine Bemühung in eine Lebensfürsorge wendet. Das verlangt allerdings Hingabe im weitesten Sinn des Wortes: Selbstlosigkeit für das Gemeine, welches als Liebesgemeinschaft erlebt wird. Selbstlosigkeit bewirkt keine Entfaltung, sondern Reduktion, Konzentration des abstrakten Sinnlichkicht durch Selbstkontrolle, Selbstbehauptung und Sebstverleugnung.

Die wesentliche Pflicht in solchem Verhältnis ist die wechselseitige Erziehung der Partner und der gemeinsamen Kinder, Nachfolger und Anvertrauten: Sie müssen in diese Pflicht hineingezogen werden, um darin aufzugehen. Darin scheint der isolierte Sinn aufgehoben und wird zu einem Gemeinsinn, zu einem Familiensinn.

Die Selbstwahrnehmung wird hierdurch von diesem Sinn wie von einer seelsichen Macht bestimmt: Sie muss sich nach den Gegebenheiten eines Lebensraumen richten, den die Menschen durch ihre Liebesbeziehungen gegründet hatten. Indem die selische Bestimmung hierdurch eine objektive Bestimmung wird, müssen die Menschen sich unter deren Allgemeinheit auch entsprechend zurichten; es werden z.B. Eheverträge geschlossen, eine eigene Lebenskultur des Privaten Lebensraums geschaffen und Kinder hiernach erzogen und anderes mehr.

Dies allerdings bindet die Sinne an ein objektives Liebesverständnis und trennt eigene Sinnlichkeit hiervon ab. Als ausgeschlossener Sinn wird der Eigensinn von der Wahrnehmung überhaupt abgetrennt. Dies schafft die Grundlagen für die Entfremdung der eigenen Sinnlichkeit, die sich nurmehr in der Pervertierung und Entrückung fortbilden kann. Das erste Resultat solcher Verhältnisse, wie sie in der Sozialisation zwangsläufig betrieben werden, ist die mehr oder weniger ausgeprägte Perversion des Sinnzusammenhangs einer erzieherischen Beziehung. Der erzogene Sinn kann sich wesentlich nur in seiner Perversion lebendig finden. Doch viele Menschen verzichten allerdings vorzeitig darauf, dieses Leben zu erlangen und betreiben es eher in abgeschwächter Form, in den Pervertierungen des sogenannten Alltagslebens, im Neid und der Zwietracht der Abhängigkeiten, der üblen Nachrede, der Verleumdungen, dem Rassismus usw. Das Übel wird zum tragenden Mittel einer unendlich bestimmten Selbstveredelung, die alleine in der Negation der Wirklichkeit ihres Wahrnehmungsgegenstand gelingen kann.

Weiter mit Buch II: 221. Die Lebenspflicht