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Gespiegelt aus:

http://www.hellinger.com/deutsch/virtuelles_institut/grundlagen_voraussetzungen/verwandte_denkweisen.shtml

 

"Zustimmung zur Welt, wie sie scheint".

Der phänomenologische Erkenntnisweg

 

Interview mit Bert Hellinger am 16.06.1995 in Berlin. Die Fragen wurden gestellt von Wolfgang Lenk, Johannes Schmidt und Brigitte Zawieja.

 

Wahrnehmung und Intuition

FRAGE Ich würde gerne mit dir über die Hintergründe deiner Therapie reden und darüber, was es heißt, phänomenologisch wahrzunehmen. Oft erfaßt du ein Geheimnis, das fundamentale Änderungen bewirkt, ohne daß man es exakt definieren kann. Wie würdest du das beschreiben?

HELLINGER Wenn ich dich richtig verstehe, geht es dir um die Beschreibung des Erkenntnisvorganges.

Das erste ist, daß man es nicht mit dem Begriff der Intuition oder der Erfahrung einfangen kann. Es ist für mich sehr viel mehr. Die Intuition ist für mich ein blitzartiges Erfassen, ob und wo es weitergeht. Sie ist auf Zukunft gerichtet. Sie entsteht im Augenblick, ohne mein Zutun.

Meinen Erkenntnisvorgang nenne ich Wahrnehmung. Das ist etwas völlig anderes. Wahrnehmung heißt, daß ich mich einem Zusammenhang aussetze, zum Beispiel schaue, was passiert, wenn Leute sich auf ihr Gewissen berufen oder sagen, daß sie gewissenhaft handeln. Das ist ein sehr vielschichtiges Phänomen, das ich lange nicht durchschaut habe. Daher habe ich das jahrelang einfach auf mich wirken lassen, mit gesammelter Aufmerksamkeit, bis ich plötzlich wahrgenommen habe, was Gewissen wesentlich heißt.

Das Gewissen ist ein systemisches Gleichgewichtsorgan, mit dessen Hilfe jeder sofort wahrnehmen kann, ob er sich im Einklang mit dem System befindet oder nicht; ob er etwas tut, was ihm die Zugehörigkeit sichert, oder ob er etwas tut, was seine Zugehörigkeit gefährdet oder aufhebt. Es hat sich also herausgestellt, daß gutes Gewissen nichts anderes bedeutet, als: Ich darf noch dazugehören, und daß schlechtes Gewissen heißt: Ich muß befürchten, daß ich nicht mehr dazugehören darf.

Es wurde also aus einer Fülle von Phänomenen plötzlich das Wesentliche erfaßt. Das nenne ich eine phänomenologische Vorgangsweise. Sie hat also nichts zu tun mit vorgefaßten Konzepten, auch nichts zu tun mit der Absicht, etwas durchzusetzen, z. B. eine Idee oder Traditionen hochzuhalten. Es ist ein schlichter, gesammelter Vorgang, ohne Absicht und ohne Furcht.

 

Erkenntnis als Lebensvorgang

FRAGE Viele systemische Familientherapeuten haben ein etwas anderes Verständnis von Therapie. In ihrem Verständnis spielt das Erfinden von Wahrheiten, sie sagen Geschichten, eine wichtige Rolle, weil sie glauben, man könnte eine, in Anführungszeichen, objektive Wahrheit nicht entdecken. Die Arbeit hier zeigt, daß vielleicht mehr das Wort "finden" statt "erfinden" der richtige Begriff ist, zum Beispiel, wenn man sieht, daß etwas einfach da ist, wenn man eine Familie aufstellt.

HELLINGER Sobald man bei Erkenntnisvorgängen auf ein Absolutes zusteuert, liegt man schief. Erkenntnis ist ja ein Lebensvorgang, sie dient dem Leben. Erkenntnis entsteht aus einer Interaktion mit etwas, das ich aber nicht als solches zu erfassen brauche. Ich erfasse das Ergebnis der Interaktion. Und da kann ich zum Beispiel sehen, daß, wenn zwei sich dem gleichen Phänomen aussetzen und mit Bezug auf dieses Phänomen etwas erreichen wollen, der eine mehr erreicht als der andere. Wenn das Erkannte nur konstruiert wäre, könnte ich ja gar nicht unterscheiden, ob das Ergebnis mehr ist oder weniger.

Es gibt also eine Orientierung an etwas, das über die Konstruktion hinausreicht. In der Familienaufstellung sieht man zum Beispiel, daß die Teilnehmer wahrnehmen können, was in einem System vor sich geht, das sie nicht einmal kennen. Mit konstruktivistischen Konzepten kann man diesen Vorgang überhaupt nicht erfassen. Daß aber am Konstruktivismus etwas Wahres dran ist, daß man sehen kann, daß etwas nur konstruiert ist und dennoch viele darauf hereinfallen, auf Ideologien zum Beispiel, das ist unbestreitbar. Doch die Lösung und das Ziel bestehen ja gerade darin, daß man sich aus den Konstrukten löst und sich erlaubt, noch einmal, genauer wahrzunehmen, was ist.

 

Ordnung und Wirkung

FRAGE Was wirkt in deiner Art von Therapie? Was verändert sich mit Bezug auf das System, den einzelnen, seine Krankheit, seine Gesundung?

HELLINGER Zuerst will ich sagen, was ich unter einer Ordnung verstehe, denn die Wirkung ergibt sich aus dem Finden einer Ordnung. Wenn ich eine Ordnung finde, die richtige Ordnung finde - ich sage es mal in diesem krassen Sinn -, dann bewirkt das etwas Heilendes oder Lösendes in einem System.

Ordnung ist etwas Vorgegebenes. Ein Baum zum Beispiel entfaltet sich nach einer Ordnung. Sie ist ihm vorgegeben. Er kann aus dieser Ordnung nicht herausfallen, sonst ist er kein Baum mehr. So entwickelt sich auch der Mensch nach einer Ordnung. Und menschliche Systeme entwickeln sich nach einer Ordnung. Diese Ordnungen sind uns vorgegeben.

Aber manche sagen: Die Ordnung muß anders sein, als sie sie vorfinden, weil sie sich etwas anderes wünschen. Weltverbesserer zum Beispiel wünschen sich eine andere Ordnung, als die, die sie vorfinden. Und dann konstruieren sie eine Ordnung nach ihren Wünschen und beachten nicht, was die vorgegebene Ordnung ist. Die vorgegebene Ordnung ist etwas Verborgenes. Ich kann sie nicht ohne weiteres finden, geschweige denn erfinden.

Der Vorgang des Ordnungen-Findens spielt sich bei mir so ab, daß ich mich auf mich zurückziehe und dennoch, was vor mir ist, im Blick behalte. Doch so, daß ich ohne Absicht bin und ohne Furcht vor den Folgen. Wenn ich so bei mir gesammelt bin, bin ich in Verbindung mit etwas Größerem. Ich kann das nicht definieren. Ich nenne es manchmal Seele oder große Seele, etwas Geheimnisvolles, aus dem Kraft kommt. Wenn ich damit in Verbindung bin, erkenne ich Strukturen, die helfen oder die hindern.

Mit Bezug auf die Ordnung gilt für mich: Ordnung erweist sich in dem, was sowohl eint, als auch Entwicklung ermöglicht, beides. In einer Familie, in der sich jeder schlecht fühlt, wenn wir sie aufstellen, nehme ich an, daß sie in Unordnung ist. Dann suche ich die heilende, die lösende Ordnung. Wenn ich diese Ordnung gefunden habe, sehe ich, daß es eine Ordnung ist, die alle verbindet und jedem Entwicklung ermöglicht.

Man kann diese Ordnungen auf einer mehr oberflächlichen Ebene erkennen und mit ihnen arbeiten oder auf einer tieferen. Wenn zum Beispiel Ordnungen gefunden werden, die krank machen, und Ordnungen, die heilen, kann jemand auf einer relativ oberflächlichen Ebene damit arbeiten, weil er sie weiß. Dann arbeitet er aber nicht aus einer unmittelbaren Erkenntnis der Ordnung, sondern aus dem, was er darüber gehört hat oder schon früher erkannt hat. Er wendet sein Wissen an. Das ist eine Möglichkeit, wie ich mit dem Wissen um Ordnungen arbeiten kann. Doch damit bleibe ich in meiner Wirksamkeit begrenzt.

Wenn ich dagegen etwas in der Tiefe erreichen will, muß ich mich sehr viel tiefer sammeln. Diese Sammlung geht auf eine leere Mitte hin. Dann bin ich mit etwas Heilendem in Verbindung, das ich nicht erklären kann. Es zeigt sich aber an der Wirkung. Wenn ich das so Erfaßte mitteile, sehe ich sofort an der Wirkung, ob ich wirklich in Verbindung war oder nicht. Ob das zum Beispiel eine Bewegung auslöst im anderen oder ob es nur Neugierde auslöst, oder Einwände und Fragen. Man kann also verschiedene Ebenen unterscheiden.

 

Zustimmung zur Welt, wie sie erscheint

ein weiterer Artikel zu "Zustimmung zur Welt, wie sie scheint"

FRAGE Ich komme nochmals auf die Ordnungen zu sprechen. Ich habe den Eindruck, das ist der Punkt, wo deine Arbeit am meisten mißverstanden wird und dir der Vorwurf gemacht wird, du seist dogmatisch. Ich persönlich erlebe es nicht so. Für mich bist du ein glaubhafter Empiriker, weil du phänomenologisch vorgehst. Aber ich erlebe auch, daß diese Arbeit eine Haltung der Feinfühligkeit und der Wertschätzung erfordert. Ich bin überrascht, jetzt auch bei diesem Seminar, mit was für einer Ruhe und inneren Sammlung du das durchhältst. Denn oft entstehen sehr belastende Situationen, was man auch im Publikum merkt. Woher nimmst du die Kraft für diese Haltung? Wie hältst du dich in dieser inneren Sammlung und in dieser Klarheit der Wahrnehmung?

HELLINGER Die Ruhe kommt wie die Wahrnehmung aus der Zustimmung zur Welt, wie sie erscheint, also ohne die Absicht, sie zu verändern. Das ist im Grunde eine religiöse Haltung, weil sie sich einfügt in ein größeres Ganzes, ohne sich herauszunehmen, es besser zu wissen, oder einen besseren Ausgang erreichen zu können, als ihn die tiefen Kräfte von sich aus ansteuern. Deswegen ist für mich die Grundhaltung, daß ich allem zustimme, wie es ist. Wenn ich etwas Schönes sehe, dann ist es für mich Teil der Welt, der ich zustimme. Und wenn ich etwas Schlimmes sehe, stimme ich auch zu. Sowohl als auch. Das ist es, was ich Demut nenne: die Zustimmung zur Welt, so wie sie erscheint. Erst diese Zustimmung ermöglicht es mir, genau wahrzunehmen. Sonst werde ich durch meine Konstrukte, ich sage es einmal so, oder meine Absichten oder meine Ideologien an der Wahrnehmung gehindert.

Noch etwas ist dabei zu beachten, nämlich daß die Ordnung sich nicht deutlich zeigt, sondern von Augenblick zu Augenblick anders erscheint. In ihr ist etwas Vielfältiges, eine Fülle. Sie kommt nur punktuell ans Licht. Deswegen ist die eine Familienaufstellung anders als die andere, obwohl sie sich vielleicht von der Grundsituation her ähnlich sind. Was ich nun in diesem Augenblick wahrnehme, das sage ich auch. Manche meinen dann, das sei eine allgemeine Aussage oder eine allgemeine Wahrheit. Das ist es eben nicht. Es ist eine Wahrnehmung von etwas, das im Augenblick so ans Licht kommt. Sie gilt für diesen Augenblick und ist in diesem Augenblick auch völlig einsichtig. Wenn ich das jetzt loslöse von der augenblicklichen Wahrnehmung und daraus eine Lehre mache, dann erscheint es dogmatisch.

 

Ganzheitliche Wahrnehmung

FRAGE Wenn man soviel gibt und soviel nimmt, wie kann man sich da als Mensch abgrenzen?

HELLINGER Der Therapeut kann das, wenn er sich bei dieser Arbeit auf eine höhere Ebene begibt, man könnte auch sagen: auf eine tiefere, das spielt hier keine Rolle. Aber das Bild von der höheren Ebene ist schöner. Wenn ich auf einem Berg bin und um mich schaue, brauche ich mich gegen nichts abzugrenzen. Ich sehe, was vor mir liegt, bin Teil des Ganzen und brauche mich nicht abzugrenzen. Bei der Fülle braucht man sich nicht abzugrenzen. Doch wenn ich mich zu nahe an etwas heranbegebe oder etwas Fremdes auf mich nehme, bin ich nicht mehr einer, der nur zuschaut. Dann ist die Abgrenzung schwer.

FRAGE Nachdem ich die Arbeit von dir gesehen habe, frage ich mich, wie viele Sinne du eigentlich hast. Und ganz speziell frage ich: Was kannst du anderen mit auf den Weg geben, um ihre Sinne ähnlich zu schulen?

HELLINGER Die Sinnesorgane müssen bei dieser Arbeit sowieso offen sein. Aber darüber hinaus gibt es so etwas wie eine ganzheitliche Wahrnehmung. Die ganzheitliche Wahrnehmung wird möglich, indem ich allem einen Platz gebe, also nichts ausklammere. In der Familienaufstellung gebe ich jedem einen Platz in meinem Herzen, auch denen, die als böse dastehen oder als der Täter oder vor denen andere Angst haben oder Ekel. Ich gebe auch ihnen einen Platz. Dann bin ich mit einer Ganzheit in Verbindung, ich erlebe das als eine Ganzheit.

Auch sehe ich einen Menschen immer als Teil eines größeren Ganzen. Wenn ich mit ihm therapeutisch arbeite, rede ich eigentlich nicht zu ihm als Person oder zu seinem Ich, sondern ich rede zu seiner Seele, dort, wo er mit etwas Größerem verbunden ist. Das bewirkt dann viel mehr, als wenn ich mich auf das Vordergründige begrenze.

Wie man schulen kann? Man schult die ganzheitliche Wahrnehmung. Daraus ergibt sich alles andere ganz leicht.

 

Die äußerste Grenze

FRAGE Ich würde gerne noch einmal auf die Frage zurückkommen, was wirkt. Mir ist aufgefallen, daß du den Patienten sehr viel zumutest und bis zum äußersten gehst. Und mir ist aufgefallen, daß du an einem bestimmten Punkt abbrichst, damit es sich weiterentwickelt, entfaltet, die Kraft wirkt. Kannst du näher beschreiben, warum und wie du das machst?

HELLINGER Ja. Ich schreite mit einem Patienten oder Klienten das ganze Feld der Folgen seines Verhaltens ab oder von Folgen der Schicksale in seiner Familie. Ich grenze es nicht ein auf etwas Glückliches oder Leichtes, sondern ich schaue auch das Schwere an, gerade das Schwere. Und ich gehe mit ihm an die Grenze, wo er und sein System gefährdet sind. Ich begleite ihn dahin, mutig, ohne Angst. Das heißt im Endeffekt, ich schaue auch der Möglichkeit ins Auge, daß er stirbt oder daß etwas schlimm ausgeht. Das schreite ich mit ihm ab nach jeder Seite. Dann habe ich das ganze Feld der Wirklichkeit dieses Systems erfaßt. Wenn das abgeschritten ist, weiß ich, wo die Grenzen sind und was innerhalb dieses Feldes möglich oder unmöglich ist.

Wenn der Patient die Grenzen kennt, gibt es für ihn die Möglichkeit von Veränderungen. Erst so nimmt er wahr, was möglich ist, im Schlimmen wie im Guten, und das gibt ihm Kraft. Mit dieser Kraft sucht man nun die Lösung, die möglich und für alle am besten ist. Manchmal ist die Lösung, daß man zustimmen muß, daß man an der äußersten Grenze auch dem Ende zustimmen muß und es keine andere oder leichtere Lösung gibt. Aber meistens ist noch eine andere Lösung möglich. Die kann ich jetzt viel eher erreichen, wenn ich mit dem Klienten an die Grenzen gegangen bin, als das vorher mit ihm möglich gewesen wäre. Er sieht jetzt seine Möglichkeiten und Grenzen und findet eher den ihm gemäßen Weg.

 

Ordnung und Liebe

FRAGE Ich würde gerne eine Frage stellen zur "Liebe". Du hast auch im Verlauf des Seminars gesagt, wenn man die Liebe verliert, kommt das System in Unordnung, wenn man die Liebe anerkennt und wiederfindet, kann das System wieder in Ordnung kommen. Was geht da eigentlich vor?

HELLINGER Bevor ich näher darauf eingehe, möchte ich noch einmal zurückkommen auf die Ordnung. Was wir als Werte bezeichnen oder als Sinn, ist etwas, das der Ordnung dient, also dem, was der Einheit und der Weiterentwicklung dient. Deswegen kommt die Ordnung immer zuerst. Alles andere steht im Dienst dieser Ordnung. Ich kann also nicht über Werte die Ordnung verändern wollen, weil ich sage: Das ist der höchste Wert, deswegen muß sich die Ordnung jetzt nach diesem Wert richten. Nein, umgekehrt. Der Wert richtet sich nach der Ordnung. Auch die Liebe richtet sich nach der Ordnung. Sie steht im Dienste der Ordnung.

Der höchste Ausdruck der Liebe ist, wenn ich dem anderen seine Zugehörigkeit bestätige oder, genauer, wenn ich anerkenne, daß er das gleiche Recht auf Zugehörigkeit besitzt wie ich. Dabei mute ich ihm zu, daß auch ich das gleiche Recht auf Zugehörigkeit in Anspruch nehme wie er. Aus dieser gegenseitigen Bestätigung entwickelt sich ein tiefes Gemeinschaftsgefühl. Das ist dann die Liebe, die löst.

Darunter wirken noch andere Arten der Liebe, zum Beispiel die Bindungsliebe. Die Liebe, die aus der Bindung kommt, bewirkt, daß ein Kind, weil es die Größenzusammenhänge noch nicht erfaßt, sich an seine Mutter klammert oder an seinen Vater und auf jeden Fall bei ihnen bleiben will, auch wenn sie schon tot sind. Daraus entsteht dann die Dynamik: "Ich folge dir nach in den Tod." Das ist aber eine Dynamik, die für das System schlimm ist, weil ja, wenn einer weggeht, auch noch ein anderer geht, statt daß der wenigstens bleibt. Wenn aber das Kind anerkennen kann, daß der Vater in ihm noch weiterlebt, obwohl er tot ist, daß es also dennoch mit ihm verbunden ist und er mit ihm, dann ist der Vater in seinem Recht auf Zugehörigkeit, auch wenn er tot ist, bestätigt. Dann kann das Kind sein Recht, daß es dazugehören darf, auch ihm zumuten mit Liebe und ihn bitten: "Sei freundlich, wenn ich noch bleibe", oder wie immer der Satz dann im einzelnen lautet.

 

Freiheit

FRAGE Ich frage noch einmal nach der Wirksamkeit deiner Arbeit. Sie kommt in letzter Zeit sehr stark an die Öffentlichkeit, ich könnte auch sagen, ins grelle Licht der psychotherapeutischen Profession. Je mehr das geschieht, um so mehr entsteht auch das Bedürfnis nach Evaluation von dem, was du tust. Wenn man Gespräche führt mit Kollegen, kommen immer wieder Zweifel und Fragen auf über die Wirksamkeit deiner Arbeit. Da werden Dinge gesagt, wie: Ja, das ist eindrucksvoll; das geht tief; das ist in gewisser Weise wie ein psychotherapeutischer Schnellschuß aber es ist ja völlig ungeklärt, was es für eine Wirkung hat. Was im Moment mit deiner Arbeit passiert, ist auch, daß sie ein Stück weit in ein anderes großes System miteinbezogen wird. Die Frage ist, ob dieses andere System dir gerecht wird. Trotzdem entsteht auch in mir das Bedürfnis, nach ein, zwei Jahren eine Überprüfung dieser Arbeit vorzunehmen, um zu sehen, wie sie wirkt. Gibt es eine Möglichkeit dazu, oder ist es eine Anmaßung, oder können wir dem eigentlich nicht gerecht werden? Es ist ähnlich wie in der Hypnotherapie, wo man innere Bilder modifiziert oder versucht, sie zu modifizieren, und dann den Prozeß im Unterbewußten laufen läßt, aber dann sich irgendwann auch die Frage stellt: Hat es eine Wirkung, hat es keine?

HELLINGER Ich halte dieses Bedürfnis, daß man sehen will, welche Wirkung diese Arbeit hat, für legitim. Andererseits ist es so, daß jemand, der diese Arbeit bewerten will, sie selber gemacht haben muß. Wer das selber macht, bekommt ja schon in der Arbeit eine Rückmeldung und kann dann abschätzen, was hilft und was nicht hilft. Die wichtigste Rückmeldung bekommt man sofort bei der Aufstellung. Da kann man sofort sehen, was sich verändert hat im Gefühl, im Blick, in der Stimmung, in der Kraft, etwas zu tun. Was aber einer damit macht, kann der Therapeut nicht bestimmen. Deswegen ist die Evaluation nach einiger Zeit nicht wirklich verläßlich, weil die vielen anderen Faktoren, die dann mit hineinspielen, nicht berücksichtigt werden können. Wenn zum Beispiel die Treue des Kindes zu seinen Eltern noch einmal durchbricht und der Patient doch lieber stirbt, als daß er die Lösung annimmt, könnte man meinen, die Therapie war nicht erfolgreich. Aber das stimmt ja nicht. Der Patient bleibt frei und kann sich auch ganz anders entscheiden, unabhängig von der Therapie.

 

Demut

FRAGE Welche Rolle spielen für dich die Demut und bestimmte Demutsgebärden oder Körperhaltungen, und wie bist du darauf gekommen? Denn es ist offensichtlich, daß es verschiedene Demutsgebärden auch in den Religionen gibt, zum Beispiel das Hinknien oder das Sich-so-ganz-Niederbeugen.

HELLINGER Ich habe diese Gebärden abgelesen aus konkreten Verläufen, ohne Bezug zu irgendwelchen Religionen. Das erste, was ich abgelesen habe, war, daß die leichte Verneigung des Kopfes nach vorne Energie im Rücken hochsteigen läßt, daß also die Haltung des Nach-oben-Schauens den Energiefluß hindert. Wenn einer den Kopf leicht nach vorne neigt, fließt Energie, und er kommt mehr in Kontakt mit der Erde.

Wenn das jemand vor seinen Eltern macht, und er verbeugt sich noch tiefer, dann bringt er die ursprüngliche Ordnung zur Geltung, nämlich daß die Eltern groß sind und er klein ist. Die tiefste Verneigung geht bis auf den Boden, und der Satz, der sie begleitet, heißt: "Ich gebe dir die Ehre." Eine solch tiefe Verneigung geschieht in der Regel vor Vater und Mutter, vielleicht noch vor Großeltern, aber selten vor sonst jemandem. Sie ist äußerste Demut. Das Merkwürdige dabei ist, daß in dem Augenblick derjenige, der sich dem aussetzt, sich anschließend neben seine Eltern stellen kann auf gleiche Höhe, ohne Anmaßung.

© 2003 Bert Hellinger International

 

"Zustimmung zur Welt, wie sie erscheint"

Bert Hellinger, Psychoanalytiker, Psychotherapie, Systemtherapie, über die phänemonologische Vorgehensweise.

16. April 1999, Pressekonferenz auf der Arbeitstagung "Ein Wind läßt viele Drachen steigen" in Wiesloch.

 

Wahrnehmung und Intuition

Die phänomenologische Vorgehensweise kann man nicht mit dem Begriff der Intuition oder der Erfahrung einfangen. Sie ist für mich sehr viel mehr. Die Intuition ist ein blitzartiges Erfassen, ob und wo es weitergeht. Sie ist auf Zukunft gerichtet. Sie entsteht im Augenblick, ohne mein Zutun.

Den phänomenologischen Erkenntnisvorgang nenne ich Wahrnehmung. Das ist etwas völlig anderes. Wahrnehmung heißt, daß ich mich einem Zusammenhang aussetze, zum Beispiel schaue, was passiert, wenn Leute sich auf ihr Gewissen berufen oder sagen, daß sie gewissenhaft handeln. Das ist ein sehr vielschichtiges Phänomen, das ich lange nicht durchschaut habe. Daher habe ich das jahrelang einfach auf mich wirken lassen, mit gesammelter Aufmerksamkeit, bis ich plötzlich wahrgenommen habe, was Gewissen wesentlich heißt. Dann habe ich aus einer Fülle von Phänomenen plötzlich das Wesentliche erfaßt. Das nenne ich eine phänomenologische Vorgangsweise. Sie hat also nichts zu tun mit vorgefaßten Konzepten, auch nichts zu tun mit der Absicht etwas durchzusetzen, z. B. eine Idee oder Traditionen hochzuhalten. Es ist ein schlichter, gesammelter Vorgang, ohne Absicht und ohne Furcht.

Die Wahrnehmung setzt voraus die Zustimmung zur Welt, wie sie erscheint, also ohne die Absicht, sie zu verändern. Das ist im Grunde eine religiöse Haltung, weil sie sich einfügt in ein größeres Ganzes, ohne sich herauszunehmen, es besser zu wissen, oder einen besseren Ausgang erreichen zu können, als ihn die tiefen Kräfte von sich aus ansteuern.

 

Ordnung und Wirkung

Sobald man bei Erkenntnisvorgängen auf ein Absolutes zusteuert, liegt man schief. Erkenntnis ist ein Lebensvorgang und dient dem Leben. Die Wirkung für das Leben ergibt sich aus dem Finden einer Ordnung. Wenn ich die richtige Ordnung finde – ich sage es mal in diesem krassen Sinn – dann bewirkt es etwas Heilendes oder Lösendes in einem System.

Ordnung ist etwas Vorgegebenes. Ein Baum z.B. entfaltet sich nach einer Ordnung. Sie ist ihm vorgegeben. Er kann aus dieser Ordnung nicht herausfallen, sonst ist er kein Baum mehr. So entwickelt sich auch der Mensch nach einer Ordnung. Und menschliche Systeme entwickeln sich nach einer Ordnung. Diese Ordnungen sind uns vorgegeben. Die vorgegebene Ordnung ist etwas Verborgenes. Ich kann sie nicht ohne weiteres finden, geschweige denn erfinden.

Ordnung erweist sich in dem, was sowohl eint, als auch Entwicklung ermöglicht, beides. In einer Familie, in der sich jeder schlecht fühlt, wenn wir sie aufstellen, nehme ich an, daß sie in Unordnung ist. Dann suche ich die heilende, die lösende Ordnung. Wenn ich diese Ordnung gefunden haben, sehe ich, daß es eine Ordnung ist, die alle verbindet und jedem Entwicklung ermöglicht.

 

Noch etwas ist dabei zu beachten, nämlich daß die Ordnung sich nicht deutlich zeigt, sondern von Augenblick zu Augenblick anders erscheint. In ihr ist etwas Vielfältiges, eine Fülle. Sie kommt nur punktuell ans Licht. Deswegen ist die eine Familienaufstellung anders als die andere, obwohl sie sich vielleicht von der Grundsituation her ähnlich sind. Was ich nun in diesem Augenblick wahrnehme, das sage ich auch. Manche meinen dann, das sei eine allgemeine Aussage oder eine allgemeine Wahrheit. Das ist es eben nicht. Es ist eine Wahrnehmung von etwas, das im Augenblick so ans Licht kommt. Sie gilt für diesen Augenblick und ist in diesem Augenblick auch völlig einsichtig. Wenn ich das jetzt loslöse von der augenblicklichen Wahrnehmung und daraus eine Lehre mache, dann erscheint es dogmatisch.

 

Ganzheitliche Wahrnehmung

Die Sinnesorgane müssen bei dieser Arbeit offen sein. Aber darüber hinaus gibt es so etwas wie eine ganzheitliche Wahrnehmung. Sie wird möglich, indem ich allem einen Platz gebe, also nichts ausklammere. In der Familienaufstellung gebe ich jedem einen Platz in meinem Herzen, auch denen, die als böse dastehen oder als der Täter, oder vor denen andere Angst haben oder Ekel. Ich gebe auch ihnen einen Platz. Dann bin ich mit einer Ganzheit in Verbindung, ich erlebe es als eine Ganzheit.

Auch sehe ich einen Menschen immer als Teil eines größeren Ganzen. Wenn ich mit ihm therapeutisch arbeite, rede ich eigentlich nicht zu ihm als Person oder zu seinem Ich, sondern ich rede zu seiner Seele, dort wo er mit etwas Größerem verbunden ist. Das bewirkt dann viel mehr, als wenn ich mich auf das Vordergründige begrenze.

© 2003 Bert Hellinger International