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Der Kampf um die Persönlichkeit

 

Die Menschen kommen zwar als Junge oder Mädchen auf die Welt; - nicht aber als Persönlichkeit. Man wird auch lange schauen müssen, um eine »Persönlichkeit« bei Naturvölkern oder in weniger reichen Ländern aufzustöbern! Sie ist das Produkt unserer Kultur.

Wer eine Persönlichkeit ist oder hat, der fühlt sich indes gerne so geboren. Er hält es für seinen Genius, dies abgeschlossene Besondere, dieser exclusive Mensch zu sein.

Persönlichkeit gibt es aber nur dort, wo sich Personen selbst zur Substanz werden können, wo sie sich als Person haben, wo sie sich von ihren Lebensverhältnissen abheben können, wo sie meinen können, sie seien selbst und für sich Maß und Ziel ihres Lebens.

Eine Persönlichkeit ist der Mensch, der von seiner Gesellschaftlichkeit absehen kann. Persönlichkeit ist das sich als unmittelbarer Mensch dünkende Wesen einer privat existierenden Person.

In den bürgerlichen Rechten ist die Persönlichkeit, die entfaltete Person, höchstes Gebot, eigentliches Ziel der bürgerlichen Juristerei. Dort wird die »Freiheit der Person«, das »Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit« gefeiert; – und nicht nur die Juristen, auch die Geschäftsleute, die Wohlständigen und die Wohltäter werden einiges hiervon haben. Wer von seinen Beziehungen auf andere Menschen absehen kann, der kann seine Freiheit, seine persönliche Entfaltung und seine Rückbeziehung auf sich selbst als seinen Lebensinhalt ansehen. Die ganzen bürgerlichen Lebensstrukturen, die bürgerliche Kultur, ist identisch mit der Lebensweise der realen Privatperson, der Persönlichkeit: Familie, Gemeinde und Nation.

Aber nicht jeder kann eine Persönlichkeit haben. Die »Freiheit der Person« ist nicht die Freiheit von Menschen in freier Gesellschaft; – sie ist das Gegenteil: die Freiheit jener, die sich in dieser Gesellschaft unabhängig, d.h. beziehungslos fühlen können: die Freiheit jener, die ihr Wirken und ihre Wirklichkeit nicht erkennen müssen. Von seiner Beziehung auf andere Menschen kann aber nur der absehen, auf den alles bezogen ist, weil er etwas besitzt, auf was sich alle beziehen müssen: Geld. An und für sich kann es eine Persönlichkeit nur als Geldbesitzer geben (vgl. den 2. Teil dieser Serie im Türspalt Nr. 8). Persönlichkeit wäre also so nur ein Synonym von Geldbesitz.

Aber Persönlichkeit ist nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen und auch nicht nur das idealisierte Bild, was man sich im bürgerlichen Recht, in der bürgerlichen Kunst oder im bürgerlichen Staat vom Menschen macht, - sie ist dort, wo man Geldbesitz voraussetzen kann auch die wirkliche Identität des privat existierenden Bürgers schlechthin. In Wirklichkeit gibt es zwar keine Persönlichkeit, aber es gibt dort, wo man vermittels seines Besitzstands gesellschaftlich integer ist, zugleich die Macht, den Zwang zur privaten Integrität.

Deshalb haben die meisten Menschen das Problem mit ihrer Persönlichkeit. Eine komplette Sparte der Psychologie kümmert sich darum: die Persönlichkeitspsychologie. Dort soll all das ausgelotet, beobachtet, gemessen und sogar gewogen werden, was eine Persönlichkeit ausmacht. Der Mensch hat für die Persönlichkeitspsychologie zwar keine Eigenschaften, aber umso mehr Fähigkeiten, Daseinsweisen seiner Eigenschaften: Eigenheiten. So hat sie schon einiges zusammengetragen, um diese nutzbar zu machen. Da werden die Eigenheiten gemessen, faktorisiert und schließlich zu einem »unverwechselbaren Persönlichkeitsprofil« gebracht, um die »optimale Verwendung« einer Person herauszufinden. Da eben das bürgerliche Leben sowas ähnliches wie der Nürburgring ist, behalten die Psychologen auch Recht: ohne Profil fliegt man aus der Kurve.

Eine Persönlichkeit kann nur das besonders starke Individuum haben. Und das ist ein Mensch, der sich durchsetzen kann, der das erreichen kann, was er will, – ein Mensch der »in diesem unserem Lande« eben gut leben kann. Und weil er es kann, hält er es auch für sein Können.(S. III/41) Was mit diesem Begriff für solche Fähigkeiten aber geleugnet wird, das sind die vielen Beziehungen, die erst eine Persönlichkeit gebildet haben, Beziehungen, Lebensinhalte, Lebensbedingungen, die sich ein Mensch angeeignet hat, um als Persönlichkeit zu sein. Eine Persönlichkeit wird nicht erst von der Psychologie in isolierte Fähigkeiten zerlegt, sondern ist wirklich die isolierte Fähigkeit, die Fähigkeit und Eigenheit, die übrigbleibt, wo die Geschichte und Bildung vieler Menschen vergangen ist. Eine Persönlichkeit ist eben nichts anderes als die Fähigkeit, in einer bestimmten Form der Selbstbezogenheit existieren zu können, in einer Existenz jenseits aller wirklichen und sinnlichen Bezogenheit da zu sein. Eine Persönlichkeit erhält sich nur durch andere, aber als Persönlichkeit existiert ein Mensch in einer Beziehung ohne Sinn für andere. Persönlichkeit ist die zur Privatperson geworden Beziehung, geronnene Sinnlichkeit menschlicher Eigenschaften. Und deshalb leugnet auch die Psychologie als Anwalt dieser Persönlichkeit den wirklichen und gesellschaftlichen Sinn menschlicher Beziehung, der darin verschwunden ist.

Schon vom bloßen Hinschauen wissen wir, daß kein Sinn aus sich selbst gebildet ist – kein Auge wäre ohne das Licht, kein Mann ohne Frau, kein Verlangen ohne Gegenstand. Selbst die Natur würde es nicht geben, denn die Tiere sind nicht so heruntergekommen, wie die Menschen in den Augen der Psychologie; – kein Nest, kein Ameisenhaufen, keine Bienenwabe hätte entstehen können, wenn auch die Viecher eine Persönlichkeit hätten. Der Persönlichkeitsbegriff sieht selbst von allem ab, was das organische Zusammenwirken ausmacht. Durch ihn soll es natürlich erscheinen, daß sich Menschen in ihrer Ausschließlichkeit voneinander verwirklichen, daß sie als einzelne, »frei konkurrierende Wesen« ihre private Erfüllung haben. Was sie aber zu einem menschlichen, d.h. gesellschaftlichen Leben zusammengetragen, gefügt und entwickelt haben, und woraus sie sich wiederum als einzelne Menschen begründen, davon wird hier ausdrücklich abgesehen. In der Persönlichkeit wird die menschliche Entwicklung der Individuen zur individuellen Entwicklung des Menschen verkehrt.

Aber in der Tat: Wo Geld herrscht, da leben die Menschen wirklich verkehrt, da erscheint ihnen nämlich ihr Verhältnis zueinander wirklich aus ihnen selbst begründet. Und ihr wechselseitiges Ausschließen, die Beziehung im Ausschluß und die ausschließliche Beziehung zugleich ist ihr wirkliches Lebensverhältnis. Dies ist das allgemeine Verhältnis, worin sich die Menschen hierzulande gegenübertreten.

Diese Beziehung erscheint zwar als freies Sich-Beziehen einzelner Menschen. In Wirklichkeit gehen sie aber diese nicht freiwillig ein. Durch die Formen, welche die Lebensverhältnisse der Menschen hier ausmachen, sind sie dazu gezwungen, frei, d.h. unabhängig, also ohne wirklichen Bezug zu existieren (vergl. Teil 2). Jeder einzelne Mensch ist deshalb auch von vornherein vereinzelt; – Monade in einem ungeheueren Raum. Ohne andere Menschen fühlt er sich als nichts und unter anderen ist er sich seiner nicht gewiß. Dieser Zwiespalt selbst zwingt ihn zu einer Gesellschaft, die von vornherein sein Mittel sein muß, damit er im Nachhinein erkennen kann, was er darin war. Er fühlt sich zu anderen Menschen getrieben. – Gesellschaftlicher Zwang erscheint so nicht mehr als Gewalt, sondern als innere Notwendigkeit: als Trieb.(S. III/42)

Der Trieb zur Persönlichkeit oder die Ohnmacht der Liebe

Wo das Verlangen des Menschen nach dem Menschen keine Gesellschaft findet und daher auch nicht gesellschaftlich verwirklicht wird, da verbleibt es im einzelnen Menschen als Hunger. Hunger enthält das bloße Verlangen nach Stoff, nach dem Dasein anderer Menschen für sich. Was im Verlangen noch Ausdruck derselben Beziehung ist, die sich darin verwirklicht, ist im Hunger die bloße Negativität, die Beziehung durch den Mangel an einer Beziehung: die durch den Mangel beherrschte Beziehung. So wie der wachsende Hunger den Geschmack, den Sinn für einen Gegenstand, bis über den Ekel hinaus überschreiten kann, so geht die Gier nach Menschen über jeden Sinn für das menschliche Leben hinaus. Der Hunger nach menschlicher Beziehung ist der Trieb, der nur durch andere Menschen befriedigt werden kann. Wo die Menschen in ihrem Verlangen ihre Beziehung erkennen, wird durch den Trieb das Verlangen zugleich abstrakt: zum Sinn der Beziehung selbst, zum Verlangen nach menschlichem Sinn überhaupt, nach Haut, nach Haar und Geschlecht (vgl. Teil 2).

Die Wahrheit eines selbstbezogenen Lebens tritt hier hervor: Es ist nicht das Leben, das sich auf sich selbst gründet, weil es durch sich selbst auch begründet ist; – es ist ein Leben durch andere. Man kann sich zwar auf sich selbst beziehen, aber man kann nicht davon leben.

Selbstbezogenheit ist kein Für-sich-Sein. Sie findet nur in Gesellschaft statt; sie glänzt vor Geselligkeit, Freundlichkeit und Gütlichkeit. Die Menschen treten sich aber darin nicht als bestimmte Menschen mit bestimmten Sinnen und eigener Geschichte gegenüber, sie begegnen sich als wechselseitiges Mittel ihrer Selbstverwirklichung, als Mittel ihrer Triebe. Sie haben im Verlangen nach anderen nicht andere Menschen, sondern den abstrakten Menschen im Sinn.

Und da erkennen sie sich auch nur in dieser Wahrnehmung: sie nehmen sich als das wahr, als das sie sich auch wahrhaben: als Mensch schlechthin. Sie verwirklichen diese Beziehung als ihre »zwischenmenschliche Beziehung«; – Beziehung zwischen Menschen. Das ist keine Beziehung der Menschen selbst: zwischen den Menschen gibt es nur Sache. In der zwischenmenschlichen Beziehung ist daher auch die Beziehung der Menschen versachlicht: menschlicher Umgang; – das Herz für jeden.

Die »zwischenmenschliche Beziehung« ist die Beziehung in der Form, worin sich die Menschen wahrnehmen: in der Art und Weise ihres Da-seins erfüllt sich der Sinn ihrer Beziehung. Wie jemand da ist, so wird er wahrgenommen. Umgekehrt aber ist er auch nur so verwirklicht, wie er wahrgenommen wird. Was er tut, worin er sich verhält und was er bewirkt, das wird allein in der Weise wahr, in welcher er wahrgenommen wird. Die Verwirklichung dieser Wahrnehmung als zwischenmenschliche Beziehung ist daher die Entwirklichung des Verhaltens zu anderen Menschen. Jedermann ist darin Subjekt und Objekt seiner Wahrheit: Wahr-genommener als (S. III/43) Wahr-nehmender; - die Wahrheit selbst bleibt hinter diesem Verhältnis (2).

Unter den genannten Bedingungen aber ist die Wahrnehmung tatsächlich zur Anschauung geworden und als solche getrennt von Ihrer Tätigkeit. Sie ist in die reine Leidensform versetzt. Wer etwas wahrnimmt kann wirklich meinen, daß er es eben nur anschaut. Derweil ist er von dem Gewordensein und Werden des Gegen-Stands praktisch und sinnlich unberührt. Aber während er von da her Wahrheit in der Form seiner Anschauung nimmt, wird ihm der Sinn des Gegenstands zugleich fremd, dem Bewußtsein entzogen. Ihn gibt es, aber er wird nicht erkannt. Somit wird durch die Wahrnehmung dem Erkennen der Sinn und den Sinnen der Stoff genommen. Was vom Gegenstand der Wahrnehmung daher zum reinen Stoff herabgesetzt wird, wird andererseits für die Sinne zum reinen Geist. Der Geist in dieser Abgetrenntheit vom Stoff existiert ausschließlich seelisch und der Stoff ausschließlich sachlich.

Würden die Psychologen Wahrnehmung als Tätigkeit, als Wahr-Nehmung von stofflichem Geist in geistigem Stoff, als Erkenntnis begreifen, dann müßten sie ihre Psychologie bekämpfen. Dann hätten sie ja auch wirklich was zu tun! Wo nämlich die Wahrnehmung als wirkliches Verhalten erkannt wird, da steht man auch wirklich vor der Wirkung eines Verhaltens der Wahrnehmung; vor dem ganzen Hintersinn der Anschauungen, der Macht ästhetischer Gebilde und endlich vor der wirklichen Ohnmacht der Menschen in solcher Gesellschaft. Man hat dann das wahr, was andere wahrnehmen! die Abstraktion des Menschen zum Kult der Menschlichkeit, zum Gegenstand der Wahrnehmung. Es ist aber die Ideologie der Psychologen, vergegenständlichte Wahrnehmung als natürlich und den Gegenstand der Wahrnehmung daher auch als voraussetzungsloses Wesen der Natur anzunehmen. Eben weil sie selbst nur ihre Anschauung verwirklicht sehen wollen, geben sie dieser jene Gegenständlichkeit, die wahrzunehmen sein soll. Aber ein Gegenstand ist immer ein Produkt, ist immer Produziertes, Gewordenes, gegen-stehendes Sein vergangener Tätigkeit. Aber das darf für die Psychologie eben gerade nicht gelten! Dort ist Gegenstand nur Mittel.

In der Abtrennung von ihrem Sinn setzt sich die Wahrnehmung vor allem ihren Gegenstand selbst. Wo ein Mensch wahrgenommen wird, da ist er ein Gegenstand und wird als Mittel des Wahrnehmens erfaßt. Durch ihn kommt die Wahrnehmung erst wirklich auf sich selbst, auf ihren Zweck. Er ist Objekt der reinen Anschauung und wird als solcher unmittelbar objektiv, wie subjektiv er hierbei auch sein mag. Das reine, das untätige Wahrnehmen setzt Subjektives unmittelbar objektiv, erzeugt subjektive Objektivität. - Und das ist ihre einzige Tätigkeit.

So kann auch gerade der, welcher wahrnimmt, sich seine Anschauung zur Lebenstatsache, zur objektiven Aussage machen. Wo man nicht mehr wissen muß, was man tut, da muß der andere nicht mal wirklich existieren, über dessen Leben befunden ist. Er muß nur in irgendeiner Form, z.B. als Gefühl, als Geistererscheinung oder als Spannung vorkommen.

Der Wahrnehmung ist in dieser Form der Gegenstand ohne Geschichte, ohne Grund, Sinn und Gewordensein gegeben. Sie macht das Leben erst wirklich zur Sache der Erfahrung, denn in dieser Gegenständlichkeit ist es alles für sie, - sie aber nichts für es. Deshalb sind die Menschen durch ihre Wahrnehmungen schon voller Leben, bevor sie gelebt haben. Da schert es auch nicht mehr, daß es fremdes Leben ist. Das Leben kann damit theoretisch so unendlich werden wie der Streit um das richtige Fernsehprogramm. Praktisch allerdings wird es öde und voller Todesahnung. Es ist in seiner eigenen Form gefangen, in der Form der Erkenntnis: Formierte Erkenntnis.

Indem Menschen in der Wahrnehmung so für sich zu leben scheinen, weil sie dort tatsächlich für sich leben können, nehmen sie an einem Lebensverhältnis teil, das anderen zum Zwang wird - jenen, die hierdurch zur fortwährenden Lebensäußerung getrieben werden, jenen also, die wirklich erkennen müssen, weil sie Wirkliches erleiden. Ihnen wird das ganze Verhältnis auf andere entzogen, während sie ihren Teil zu erbringen haben. Während sie fortwährend als Sinn für andere existieren müssen, haben sie an ihrer eigenen Wirklichkeit nur aus der Brunnenperspektive Teil: das Licht ist veräußert. Wo die Wahrnehmung den Tag bestimmt, da wird die Erkenntnis zur Nacht.

Eine Beziehung in und durch die Wahrnehmung ist daher eine vertraxte Beziehung: Die Menschen nehmen sich als das wahr, als was sie sich wahr haben. Sie sehen hierin von vornherein von ihrem Gewordensein und Werden ab; sie existieren darin ohne Tätigkeit. Menschliche Tätigkeit ist zwar in dem enthalten, was man wahrhat, aber es existiert nicht als Tätigkeit, sondern in geronnener Form: als das unbedingte, bedingungslose Gegenüber dessen, was man zu erkennen sucht. In der Wahrnehmung erscheint die menschliche Tätigkeit und Geschichte nur in ihrer Abstraktion, als Dasein von Menschen mit Eigenschaften, die dieses Dasein zu einem Verhältnis werden lassen. Die einzelnen Personen können sich daher gar nicht als bestimmte Menschen begreifen. Ihnen erscheint ihr persönliches Dasein durch andere gegeben, daher als Überpersönliches, als unmittelbar menschliches Leben und ihr menschliches Dasein erscheint ihnen als Leben ihrer Persönlichkeit.

Indem sich die Menschen so wahrnehmen, nehmen sie zugleich anderes Leben auf, ohne Sinn für dieses zu haben oder ihn innerhalb dieser Wahrnehmung überhaupt bilden zu können. Anderes Leben ist für die Wahrnehmung eben der Stoff, den sie zugleich als ihre Bedingung wahrhat, - das Mittel, durch welches die Wahrnehmung auch nur Wahrnehmung bleibt. So ist die Bedingung ihrer Beziehung zugleich auch deren einziger Sinn.

In dieser Beziehung sind die Menschen in eigene Welten voneinander getrennt; jeder bezieht sich auf den andern, um sich vermittelst des andern auf sich selbst zu beziehen. Jeder ist Welt für sich, und die Welt ist ohne ihn. Was die Menschen als ihre persönliche Wirkung haben, ist ihnen keine menschliche Wirklichkeit, und die menschliche Wirklichkeit ist ihnen kein persönliches Wirken. Aber dennoch müssen sie in der Wahrnehmung immer über sich hinausgreifen, um auf sich zurückzukommen. Sie sind in Wahrheit bei sich, indem sie außer sich sind.

Diese Selbstwahrnehmung ist nichts anderes als die Form, worin Triebe befriedigt werden, die Gestalt, in welcher der Zwang zum Einigsein, zur Vereinigung wirkt. Der Trieb tritt zwar als innere Gewalt auf, aber er verkörpert äußere Gewalt; -und deshalb kann er überhaupt nur in der Wahrnehmung selbst existieren: Selbstwahrnehmung als die Wahrnehmung anderer(3).

Der Trieb ist nun nicht einfach ein geschlechtliches Ereignis, sondern umfaßt alle Sinne, in welchen sich die Menschen einig sein müssen, um als einzelne Persönlichkeit leben zu können. Und da der Trieb nur in ihnen wirkt, ist ihnen ihre Wirklichkeit hierin auch vergangen. Im Trieb werden die Menschen zu den Beziehungen gezwungen, die sie in der Wirklichkeit verloren haben. Deshalb erscheint ihnen dieses Müssen zugleich auch als ihr Wollen. In der Befriedigung kommen sie ja immerhin auf sich zurück und erleben und finden sich als Moment dieser ihnen entfremdeten Kraft.

So selbstverständlich man daher seinen Trieben nachgeht, so stark werden sie auch. Allerdings haben sie ihre Kraft gerade nicht aus den Menschen, die sich darin gefallen: sie stellen ja weltliche Gewalt dar. Und weil diese Gewalt in ihnen als Drang wirkt, erzeugen die Triebe in der Wahrnehmung dann auch unmittelbar Angst vor eben dieser Welt, der sie entstammen, wenn sie nicht befriedigt werden. Der innerlich erscheinende Trieb, das zur Abstraktion geronnene Verlangen des Menschen nach dem Menschen erzeugt sein Gegenteil: Angst vor der Welt (4). In dieser Angst wird ihre Geschichte wahr und zur wirklichen Gewalt gegen jene, die an der Welt nicht teilhaben können, weil und solange sie den Trieben gehorchen müssen.

Die Welt selbst hat hierfür ihre Lösung. Sie hat den Raum, in welchem diese abstrakte, abgetrennte innere Gewalt zur geregelten Außenwelt kommt. Wo subjektives Leben objektiv verlaufen soll, da muß eben objektives Dasein subjektiviert werden. (S. III/44)

Die Verwirklichung des Triebs in der Vereinigung von Menschen, in der Erfüllung des Zwangs zum Einigsein und die Aufhebung der Angst, die hierbei aufkommt, gründet jene Lebensverhältnisse, die unsere Kultur im wesentlichen ausmachen: Ehe und Familie.

In der Angst ist die Herkunft der Regung abgeschlossen und daher auch verschlossen. Im Unterschied zur Furcht, welche noch gegenständliche Angst Ist, ist die seelische Angst die selbständige, körperlose Erkenntnis von Gewalt als ein Bedrängungsgefühl, das völlig voraussetzungslos auftritt und lediglich Situationen (nicht offene Gewalt) zum Anlaß hat. Es ist die geistige Form der Erkenntnis von innerer Gewalt, die zu ihr im Kampf steht.

Angst ist das negierte Triebleben und tritt an den Menschen auf, die aufgrund ihrer »Lebenslage« deren Gewalt als Macht gegen sich erfahren müssen, an Menschen also, die in der Gewalt der Triebe stehen und zugleich noch im Gegensatz zu ihnen stehen (also Herrschaft erkennen können). Wird diese Angst wirklich - und das heißt auch körperlich - erkannt, so ist die Revolutionierung des »Seelenlebens« begonnen: aus dem Leiden wird Tätigkeit, - Widerstand gegen psychische Herrschaft. Und da letztlich jede Angst Existenzangst ist - entsteht so auch Widerstand gegen die herrschenden Existenzformen. Ein Mensch, welcher den Sinn seiner Angst nicht erkennt, ist zum ohnmächtigen Fühlen und Lieben gezwungen. Ihm wird sein Körper zur eigenen Tücke: wo er sich regt, da muß er verneint werden.

Die Aneignung des eigenen Körpers ist daher überhaupt nur die Erkenntnis des zur Angst vergeistigten Körpers, die Angst vor körperlicher Herrschaft, vor verkörperten Willen. Solche Aneignung ist daher zugleich die Begeisterung des Körpers in der Entgeisterung der Angst!

Dies begründet die Notwendigkeit, Innere Bewegungen der Menschen anzuerkennen, weil diese wirklich erkannt werden müssen. Die Kritik an der Psychologie geht bis dahin, wo sie Innenwelten als natürliche Wesenheiten hinstellt, und die Psychologie wird darin überwunden, daß diese als Notwendigkeit des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft erkannt werden: als ihr innerer Mangel, ihre Krise; – Überlebensnotwendigkeit der Menschen in einer Welt, die nicht menschlich gestaltet ist.

Das Wissen, daß der Mensch durch äußere Kräfte zu getrennten inneren Erfahrungswelten gespalten wird, legt ja auch die Gegenkraft bloß: kollektiver Widerstand gegen aufgezwungene Lebensverhältnisse. Dahin kann es die Psychologie selbst nicht bringen: Sie soll ja heilen (vgl. in diesem Türspalt [9/82]: Die Heilserwartungen der Psychiatrie). Es besteht zwar bisher vielerlei Kritik an der Psychologie durch den Verweis, daß Psychisches letztlich Weltliches sei und es daher gar keinen Gegenstand der Psychologie gibt. Hier geht es um das Gegenteil: Indem wir den Gegenstand der Psychologie anerkennen, erkennen wir sie gerade nicht an: wir bekämpfen sie durch weltliches Wissen des Seelischen; – denn wer den Gegenstand leugnet, der macht dasselbe, was er zu kritisieren meint: Er leugnet gegenständliches Leben. Tatsächlich hat sich das weltliche Leben hierzulande weitgehend in den Menschen vergegenständlicht. Und wir haben es daher auch mit dieser Wirklichkeit zu tun.

Die Ehe oder der Kampf um die Liebe

Die Menschen erzeugen ihr Leben nicht nur stofflich, sondern zugleich sinnlich. Aber Stoff und Sinn sind keine verschiedenen Substanzen. Der Sinn ist genauso stofflich wie der Stoff sinnlich ist. Ebenso wenig sind Arbeit und Liebe voneinander getrennte Lebensäußerungen. Arbeit ist genauso sinnlich, wie Liebe Arbeit ist. Die Sinnbildung und die Erzeugung menschlicher Produkte sind dem Inhalt nach identisch: Eine Sache, die lieblos erzeugt ist, erzeugt auch Menschen, die in ihrer Liebe versachlicht sind. Die Bildung eines Menschen und die Erzeugung menschlicher Gegenstände, die Tätigkeit der Begattung und die Tätigkeit der Gattung existieren immer im gesellschaftlichen Verhältnis und erneuern und entwickeln Mensch und Welt. Sowohl die Organe des Menschen, sein Vermögen, seine Fähigkeiten, seine Sprache und seine Güter sind gesellschaftliche Produkte, gesellschaftliche Natur, die sich in der Menschheitsgeschichte gleichermaßen entfaltet wie in der Geschichte des einzelnen.

So kann sich auch ein Mensch nur dort erkennen, wo er sich auch gestaltet hat, und er kann sich nur gestalten, wo er sich erkennen kann: Im wechselseitigen Verhältnis der Menschen selbst, in ihrer Gesellschaft. Und so natürlich dieser Prozeß ist, so gesellschaftlich ist er auch. Kein Rad wurde erfunden, ohne daß seine Bewegung erkannt war.

In der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen Liebe und Arbeit nicht nur als voneinander getrennte Wesenheiten, sondern auch als voneinander getrennte Lebensbereiche: In der Arbeit sind die Menschen dort nur außer sich, in der Liebe nur bei sich. So kann sich kein Mensch in seiner Arbeit vergesellschaften, und in der Liebe kann kein gesellschaftlicher Mensch gebildet werden. Die Arbeit erzeugt nicht gegenständliches Leben, sie vermittelt den arbeitenden Menschen nur ihr Auskommen über die Lohnarbeit; und Liebe kann keinen menschlichen Sinn und keinen sinnlichen Menschen erzeugen; sie erzeugt Menschen, für die sie keinen Sinn hat, weil sie Sinne bezeugt, die dem Menschen entrissen sind.

Ehen werden zwar aus Liebe geschlossen; – das heißt aber nicht, daß Liebe als Ehe existiert. In der Ehe gewähren sich die Menschen ihre Zuneigung und erfüllen darin die von ihrer Gesellschaft ausgeschlossene Sinnlichkeit durch ihre Triebbefriedigung. Das ist zwar eine Form von Liebe, aber keine, die gestaltet oder bildet, - sie ist Liebe in negativer Form. Sie setzt die Bildung der Menschen voraus und reproduziert das, was sie

gewesen waren. Es ist die leidende, gewährende und sorgende Zuneigung, in welcher die Ängste und Schmerzen dieser Existenz erträglich erscheinen: wechselseitige Aufopferung in dieser vergemeinschafteten Not. Die Ehe ist die in sich gebundene Lebensnot, in welcher sich die Eheleute liebend aufbereiten. Hierin muß jeder in der Tat für den andern da sein, und er will es auch, solange ihm die Überwindung seiner Lebensnot selbst als Glück erscheint.

Deshalb finden in der Ehe die Menschen gerade dort ihr Glück, wo sie sich verloren haben. Was ihre Auseinandersetzung, ihre Angst, ihre Arbeit, eben alles, was sie erkennen konnten, war, wird in der Ehe zum Dasein für einen andern Menschen bis zur Selbstaufopferung in gütlicher Gemeinschaft. Die Ehe ist in der Tat die höchste Form der Triebbefriedigung. Und diese ist daher zugleich auch die Autorität des Ehelebens.

Wer nämlich seinem Trieb gehorchen muß, für den ist der Gegenstand seiner Befriedigung mächtig. Nur durch ihn kann er von seinem Drang befreit werden. Das erste, was ein triebhaftes Verhältnis setzt, ist der Zwang zur Anpassung an den Gegenstand der Befriedigung. Die Macht des Triebs existiert eben als die Unterwerfung an seine Erfüllung. Und in der Ehe wird diese Unterwerfung gemeinsam praktiziert. Deshalb erzeugt das Eheleben auch zugleich die Pflicht, Teilhaber am erfüllten Eheleben zu sein.(S. III/45)

Aber gerade deshalb bleiben sich die Eheleute auch ihre Liebe schuldig. Man kann seine Triebe nur befriedigen, wo man sich vereinigen kann. Die einzige Einigkeit ist ein Zwang zum Eheleben - und mancher ist darüber auch noch glückselig. So besteht die Arbeit in der Ehe im wesentlichen darin, schon in der Wahrnehmung jene Einigkeit zu schaffen, die in der Vereinigung schließlich auch erfüllt sein muß. Seltsame Gepflogenheiten schleichen sich deshalb ein, um dieses Glück zu erreichen: Da bauen die Männer nicht nur Häuser, sondern Eigenheime mit allem Popanz ihrer Traulichkeit, Häuslichkeit und Wärme. Frauen setzen sich Masken auf, in welchen ihr Gesicht seine Wirklichkeit verlieren und ihr Körper die Jahre seiner Bildung abstreifen soll.

So stellt sich schnell heraus, daß ihr Verhältnis selbst zur Sache geworden ist. Nicht nur Mittel oder Lebensmittel; - es ist selbst ein Sinn füreinander, der hier geschaffen wird. Aber nicht als Sinn eines Menschen für einen anderen, sondern als Umstand, als Lebensraum vereinigter Herzen. Die Eheleute haben mit ihrer Beziehung nicht nur ihre Wahrnehmung voneinander; – sie haben ihre vergemeinschaftete Wahrnehmung füreinander. Ihre Auseinandersetzung geht über sie selbst und ist zugleich ihre Bewegung in diesem auserkorenen Raum.

Indem sie sich so um ihre Zweisamkeit sorgen, errichten sie ein Bollwerk ihrer Einsamkeit. Wie soll auch die Schuld, in der sie zueinander stehen, dadurch eingelöst sein, daß sie sich Träume und Figuren schaffen? Triebe können eben nur befriedigt werden, sie erfüllen aber nicht die Liebe, die darin unterstellt ist. Im Gegenteil: Im Akt der Befriedigung, in der Erfüllung des Einigseins, geschieht ihre Aufhebung: Sie hat sich ja nur den Raum gegeben, den sie sich unterstellt hatte. Damit aber ist auch alle Bewegung untergegangen.

In dem Maße, wie die Menschen sich mit ihrer verselbständigten, abstrakten Sinnlichkeit vereinigen, füllen sie sich mit den fremden Inhalten, die sie alleine dafür schaffen, um in einem Lebensraum existieren zu können, in welchem sie sich vereinigen können. Deshalb stoßen sie sich in ihrer Vereinigung zugleich ab; jeder kämpft für sich um die Liebe, die der Ehe vorausgesetzt ist, dem Verlangen nach Erkenntnis seiner im anderen Menschen, nach wirklichem Leben. Hier aber ist die Liebe der bloßen Sinnlichkeit geopfert. In der Ehe hat sie ihren Geist aufgegeben.

In der Ehe kann die Ehe nicht gelingen. In dieser bloßen Form müßten die Eheleute aneinander scheitern. Ihr Verlangen, vom anderen erkannt zu werden und Erfüllung zu finden, ihre Forderungen aneinander, ihre Bezichtigungen und Zweifel offenbaren, was sie sich schuldig bleiben.

Aber gerade weil ihnen ihre Sinne so ungegenständlich geworden sind, verlangen sie jetzt nach einem Gegenstand, nach ihrem eigenen und privaten Produkt. In der Abtrennung von aller gegenständlichen Welt kann dieses Produkt nur als anderer Mensch, als neue Person auf die Welt kommen.

Die einzige Gegenständlichkeit, die diese Liebe in privater Form haben kann, ist die Erzeugung anderer Menschen als eigene Kinder. Darin nun wird auch in Wahrheit die Pflicht erfüllt, die die Autorität des Triebs zum Untergang bringt und zur Autorität der Eltern über ihre Kinder werden läßt. In der Erzeugung neuer Menschen wird die Welt der Personen erst wirklicht vermenschlicht, menschliche Persönlichkeit. Und erst dann ist die Welt der Persönlichkeit zugleich wirklich persönliche Welt: Familie.

(S. IV/48)

 

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