Antipsychiatrie

Aus kulturkritik

Die Antipsychiatrie der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde im wesentlichen von Psychiatern wie David Cooper, Ronald D. Laing oder Thomas S. Szasz vertreten. Letzterer leitete die historische Entwicklung der Psychiatrie aus der Hexenverfolgung ab und legte die moderne psychiatrische Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bloß sowie die psychiatrische Lehre als größten wissenschaftlichen Betrug des 20. Jahrhunderts. Die „Antipsychiater“ machten deutlich, dass es für psychiatrische Diagnosen keine objektiven klinischen Kriterien gibt und sogenannte Schizophrenien lediglich Versuche sind, unter unerträglichen Familienbedingungen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen psychisch zu überleben. Unterstützt von den politischen Intentionen der Studentenbewegung, jedoch dem patriarchalischen Denken (z.B. Szasz) oder akademischer Besserwisserei verhaftet, schufen sie die Grundlagen der neueren Entwicklung der Psychiatriekritik.

Den Schwung der Psychiatriekritik nutzten sozialpsychiatrische ReformerInnen („Auflösung der Großkliniken“), die von der sogenannten demokratischen Psychiatrie des Italieners Franco Basaglia inspiriert wurden, um das System der Psychiatrie zu verdoppeln: Die Anstalten wurden verkleinert und baulich renoviert, psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern eingerichtet, Rechtsverstöße weiterhin toleriert und Behandlungsschäden – selbst beim Elektroschock – ausgeblendet sowie ein umfassendes, Langzeitschäden begünstigendes System der Gemeindepsychiatrie neu geschaffen.

Angesichts der fortschreitenden Organisierung von Psychiatriebetroffenen und der Konkretisierung der von ihnen – auch gemeinsam mit humanistisch orientierten Professionellen – entwickelten alternativen Konzepte gerät eine auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie in die Gefahr, sich trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu entwickeln. Die bloße Kritik an psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen, und mögen diese noch so drastisch sein, wird den Interessen und Problemen vieler Betroffener, die in ihren Nöten mangels Alternativen in der Psychiatrie Hilfe suchen, nicht mehr gerecht, wenn Alternativkonzepte und Organisationsformen der neuen, humanistischen Antipsychiatrie ignoriert werden (siehe antipsychiatrische Selbsthilfe).

Peter Lehmann (Antipsychiatrieverlag)