Antipsychiatrische Selbsthilfe
Im Mittelpunkt der neuen, humanistischen Antipsychiatrie, der die antipsychiatrische Selbsthilfe zuzuordnen ist, steht die Forderung nach nutzergetragenen bzw. -kontrollierten Alternativen zur Psychiatrie, Förderung von Selbsthilfe und rechtlicher Gleichstellung mit normalen Kranken, d. h. Verbot von psychiatrischer Zwangsbehandlung. Die neue Antipsychiatrie im deutschsprachigen Raum wurde im Wesentlichen in der antipsychiatrischen Selbsthilfeszene in Berlin entwickelt. Tina Stöckle stellte diese undogmatische und humanistische Bewegung in ihrem richtungsweisenden Buch „Die Irren-Offensive – Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieüberlebenden“ (Berlin: Antipsychiatrieverlag 2005) dar. Deutlich wird: das griechische „Anti“ bedeutet mehr als einfach nur „gegen“. Es heißt auch „alternativ“, „gegenüber“ oder „unabhängig“. So ist die moderne, humanistische Antipsychiatrie von Widerspruchsgeist und der grundlegenden Erkenntnis erfüllt, dass
(1) die Psychiatrie als naturwissenschaftliche Disziplin dem Anspruch, psychische Probleme überwiegend sozialer Natur zu lösen, nicht gerecht werden kann,
(2) ihre Gewaltbereitschaft und -anwendung eine Bedrohung darstellt und
(3) ihre Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen verstellt.
Statt dessen engagieren sich ihre Mitglieder für
(1) den Aufbau angemessener und wirksamer Hilfe für Menschen in psychosozialer Not,
(2) ihre rechtliche Gleichstellung mit normalen Kranken,
(3) ihre Organisierung und die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen,
(4) die Verwendung alternativer psychotroper (die Psyche beeinflussender) und weniger giftiger Substanzen und das Verbot des Elektroschocks,
(5) neue – mehr oder weniger institutionsabhängige – Formen des Lebens mit Verrücktheit und Andersartigkeit sowie
(6) Toleranz, Respekt und Wertschätzung von Vielfalt auf allen Ebenen des Lebens.
Schlagwort der antipsychiatrischen Selbsthilfe ist „Geld & Rechte!“ Außer um das Verbot der Zwangsbehandlung, die rechtliche Absicherung von Vorausverfügungen und die vollständige Einbindung in psychiatriepolitische Entscheidungsgremien auf allen Ebenen geht es um die Organisierung eigener Räume und Beratung von Betroffenen für Betroffene unter dem Motto »Recht auf psychopharmakafreie Hilfe«, betroffenen-kontrollierte Forschung und Fortbildung, den Aufbau eines unabhängigen, nicht zensierbaren Kommunikationssystems und eigener Organisationen und die Umwidmung psychiatrischer Gelder zugunsten nutzerkontrollierter Alternativprojekte statt eines weiteren Ausbaus der Gemeindepsychiatrie.
In der 2004 in Vejle (Dänemark) verabschiedeten „Deklaration von Vejle“ für ein konstruktives Miteinander in den eigenen Reihen empfehlen die großen demokratischen Betroffenenverbände, Vielfalt zu respektieren, Minderheiten aktiv zu integrieren und jede Form von Diskriminierung zu bekämpfen, die Arbeit all derer anzuerkennen, die die Behandlung in psychosozialen Einrichtungen ernsthaft verbessern oder Alternativen zur Psychiatrie aufbauen wollen, jedes einseitige Verständnis psychischer Probleme abzulehnen, ehrenamtliche Arbeit wertzuschätzen, die Notwendigkeit bezahlter Arbeit zu erkennen und angesichts der umfangreichen und vielfältigen Aufgaben nach Verbündeten zu suchen sowie einzufordern, dass unter Beteiligung von Betroffenen psychosoziale Dienste für Psychiatriebetroffene geschaffen werden, die ihnen die bürgerlichen Rechte einer demokratischen Gesellschaft zugestehen.
Freunde der Zwangspsychiatrie und Pharmaindustrie (incl. der von ihnen gesponserten Angehörigen- und Selbsthilfegruppen) stehen der modernen, nutzergetragenen Antipsychiatrie erbittert gegenüber. In den deutschsprachigen Ländern wird die neue Antipsychiatrie unterstützt von Medizinern wie Marc Rufer (Zürich), Peter Stastny (Wien & New York) und Josef Zehentbauer (München).
Peter Lehmann (Antipsychiatrieverlag)