Identitätsangst
„Der Mensch kann sich nicht nach sich selbst umdrehen und darum wird er nie wissen, wer er eigentlich ist, woher, wohin, warum. Und mit ihm wird es Gott nie wissen. Gott ist sich selbst Mysterium. Und wäre dies schließlich nicht das Letzte – was wäre dann die Welt? Eine Sphinx, die, gelöst, in den Abgrund stürzen müsste. Ihr tiefster Sinn wäre damit verloren – das Nieaussinnbare. Sie hätte jeden Grund verloren, weiter zu sein; denn der Welt Grund ist allein ihr Ziel. Wo aber ein Ziel erreicht ist, ist Tod und Ende. (…) Die Welt ist Gottes Suche nach Sich, nach Seinem Sinn, nach Seinem Grund. (…) Der Weg nach dem Sinn ist der Sinn des Wegs“(Morgenstern, Christian: Tagebuch eines Mystikers, in: Werke, III, München 1979, S. 77).
Identitätsangst ist die Angst um einen Selbstverlust, eine verselbständigte Lebensangst in der Selbstverlorenheit voneinander isolierter, in ihrer Ausschließlichkeit einander aufhebenden Wahrnehmungen. Für die Selbstwahrnehmung kann Wahrnehmung auch zu einer Bedrohung werden, wenn ihr Selbstwert mächtige Gefühle enthält, die sich nicht auf deren Empfindungen beziehen und vermitteln lassen. Diese Bedrohung verdoppelt sich im Verlauf ihrer Selbstverwertung, wenn sie auf Selbstgefühle treffen, in denen die Empfindungen mit Gefühlen vertauscht sind, die einen Selbstwert außer sich ausmachen, weil sie für sich eine abstrakte Wahrnehmungsidentität nötig haben und Angst bekommen, wenn ihre Wahrnehmungen hierfür zu eng und durch die Formate ihrer Selbstbeschränkung unkenntlich werden. Wo und wenn diese eine existenzielle Macht erfährt und als dieee in ihrer Struktur unerkannt bleibt (siehe Strukturalismus), Angsterscheint die strukturell bedingte Angst als Selbstverlust und wird zu einer Angst um die eigene Selbstgewissheit, um die Wahrheit der Selbstwahrnehmung, die durch den Trieb ihrer Selbstverwertung aufgelöst ist.
Identitätsangst ist von da her eine Form von Lebensangst, das Resultat einer Selbsttäuschung, die Angst einer verlorenen Selbstgewissheit durch eine Selbstvertauschung, welche die Wahrnehmung von ihren Empfindungen trennt und ihre Sinne nichtet, ihre Gefühle sinnlos macht, die unentwegt nach einer Identität streben, die es nicht wirklich geben kann. Hierdurch ist dem betroffenen Menschen die Erkenntnistätigkeit entzogen, ihm entfremdet, weil er "seine Sinne nicht mehr bei einander haben kann". Oft überfällt den Betroffenen diese Angst als Panikattacke, die sich scheinbar völlig grundlos ereignet. Es ist die Angst eines in einer erzieherischen Beziehung unerkennbaren Selbstverlustes unmöglich gewordenen Wahrnemungsidentität, die Angst, keine Wahrheit für sich mehr zu erkennen, was so erscheint, als ob die persönliche Identität zerstört wäre. Aber eine Identität als solche gibt es nicht, wie es auch keine Wahrheit als solche gibt. Sie kann nur in der Erkenntnis von Täuschung sein, ist unmittelbare Wahrheit, Einheit von Äußerem und Innerem. Das Identische existiert nur im Nichtidentischen, bestärkt sich in der Lebensäußerung der Menschen, indem sie sich in ihren Gegenständen auch als Mensch wahrhaben können, sich als Mensch erkennen in dem, was sie nicht mehr sind, weil es außer ihnen ist.
Angst ist hiergegen der totale Gegensatz, die absolute Ungegenständlichkeit, die Beengung des Lebens ohne erkennbare Bestimmung, durch abstrakte Seinsinhalte, die Wirkung haben, ohne ihren Grund zu erweisen. Werden solche Abstraktionen nicht selbst zum Gegenstand der Erkenntnis und von daher ihrer Kritik, so schließen sie die Wahrnehmung ihres Widerspruchs, Zweifel aus. Zweifel wird damit zum Selbstzweifel, zur Bezweiflung der Erkenntnistätigkeit. Ist dieser jedoch selbst ausgeschlossen und kann er nicht Gegenstand der Selbstbefragung werden, so wird aus dem Selbstwiderspruch eine Beengung der Identität als solche: Identitätsangst.
Identitätsangst ist die Angst in einem wesentlichen Selbstzweifel auf der Ebene der Wahrnehmung selbst, die bedrängte Erkenntnis im Selbstgefühl, die in ästhetischer Form eine Infragestellung vollzieht. Selbstzweifel muss nicht Angst machen, wo er Sinn hat, wo er also in Beziehungen von Menschen lebt. Die Bedrängnis entsteht nur in Verhältnissen, in welchen die Zweifellosigkeit als Notwendigkeit der Unbezweifelbarkeit Lebensbedingung ist, also in Scheinwelten. Wo Zweifel unmöglich ist, herrscht innere Verzweiflung. Identitätsangst ist deren Ausdrucksform und ist daher Lebensangst, die sich nicht mehr auf das Leben bezogen erkennen kann, weil ihr die Scheinhaftigkeit eines Lebenszur Lebensbedingung geworden ist, die in einem objektiven Selbstgefühl identifitziert, also unveräußerlichbar ist. Sie zu überwinden verlangt die Kritik ihrer Notwendigkeit, ihre theoretische wie praktische Hintergehung.