Kenntnis

Aus kulturkritik

"Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Vorstellungen wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird in der Wissenschaft von der Erde zum Himmel gestiegen. D. h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, ... ; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. ... Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. ... Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen." (Karl Marx, MEW 3, Seite 26*f)

Jedem Verstand geht eine Kenntnis voraus, jede Erkenntnis gründet darauf. Erst die Kenntnis macht es möglich, etwas anderes als sich selbst zu verstehen und zu erkennen, was sich entdecken lässt, wo etwas widersinnig geworden ist. Wovon man Kenntnis hat, da hat man Sinn für etwas, das einfach so da ist (siehe Dasein), wie es auch durch die sinnliche Tätigkeit der Menschen in und durch ihre Natur geworden war und also auch menschlich ist. Von daher ist diese Beziehung unmittelbar, ein Wissen um etwas, was man im Sinn hat, auch ohne dass es der Wahrnehmung schon wirklich gegenwärtig sein muss, dass alles letztlich natürlich ist, was wir empfinden, fühlen, was wir also durch die Natur unserer Sinne wahrnehmen können - eben weil und sofern wir dafür einen Sinn haben.

Man meint, sich aus Erfahrung zu kennen, aber eigentlich kennt man sich und andere schon vor aller Erfahrung; man kennt einen Sinn auch, weil man ihn hat, bevor man seine vielfältigen Beziehungen und Zusammenhänge erkennen konnte, sei es ein Sinn für Geräusche, Farben, Empfindungen, Geschmack usw. Ein Kind kennt seine Mutter, bevor es auf die Welt gekommen ist und es "weiß" von daher auch schon, was ihm zugewendet wird und wonach es sich auch wenden muss, wenn es einen Mangel verspürt. Von daher ist Kenntnis eine innere Gewissheit, eine Wahrheit vor aller Wahrnehmung, eine sinnliche Beziehung, die in den Sinnen selbst sich schon vor aller Wahrnehmung wahr hat, gegenwärtig ist und auch schon ohne seine Zeit und Gegenwart, also zeitlos die Gegenstände seiner Wahrnehmung zumindest als Sinnesgestalt erkennen zu können, weil es durch sich schon Sinn ist und also auch den Sinn für ihre Wahrheit hat. Das macht die unbestimmte Verbindlichkeit der Menschen auch über ihre gegensätzlichen Kulturen hinweg aus, die schöpferische Kraft ihrer Weltgeschichte, das verbindende Wissen um ihre Schmerzen und Genüsse. Ohne diese könnten wir keine "fremde Kultur", keine Musik, kein Verlangen, fühlen und Beziehen verstehen, das sich nicht sprachlich instrumentell mitzuteilen vermag,

Diese Kenntnis ist die unbedingt natürliche Substanz der Sinnbildung ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten, wie sie sich im Lernprozess des Lebens entwickeln. Die Kenntnis ihrer Natur ist von daher auch schon in diesem Bildungsprozess ein Wissen um die Natur der Wahrnehmung und ihrer Erfahrung, die Gegenwärtigkeit ihrer Intelligenz (siehe auch natürliche Intelligenz). Sinne können sich nur durch ihre Kenntnis von sich auch auf sich selbst beziehen, weil sie immer schon erleben, empfinden und fühlen, was sie von sich und für sich finden und haben, worin sie also schon tätig sind und waren, auch wenn ihr Leben der Erkenntnis manchmal und unter bestimmten Bedingungen sinnlos erscheinen mag (siehe auch Scheinwelt).

"Diese Betrachtungsweise ist nicht voraussetzungslos. Sie geht von den wirklichen Voraussetzungen aus, sie verläßt sie keinen Augenblick. Ihre Voraussetzungen sind die Menschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern in ihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen. Sobald dieser tätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten." (Karl Marx, MEW 3, Seite 27)

Im Verhältnis zu dieser Kenntnis, die auch das Bewusstsein schon vor aller Erfahrung hat, ergeht Erkenntnis als eine subjektive Bildung ihrer Geschichte, worin sich Menschen ihrer wirklichen Tätigkeiten und also ihrer Naturmächtigkeit erinnern, sich aus ihren Gewohnheiten heraussetzen, weil sie Vergangenes reflektieren, um Gegenwärtiges zu erkennen und hieraus Neues zu schaffen (siehe auch Arbeit). Dies macht ihre Sinnbildung aus und ist zugleich ein Heraustreten aus dem bloßen Kennen und Meinen, und das Hineingehen in die Gewissheit einer Beziehung, in die Wahrheit ihrer Gegenstände, Es ist somit wesentlich für die Beziehung des Menschen auf sich in der Findung und Befindung seiner Selbstgewissheit, seiner Empfindung und seiner Selbsterkenntnis, die auf der Beziehung zu seinen Gegenständen, zu anderen Menschen, zu seiner Natur und zu seinen Sachen beruht, wie sie seiner lebendigen Geschichte zu entnehmen und darin auch zu erkennen sind.

"Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen. Diese Abstraktionen haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert. Sie können nur dazu dienen, die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern, die Reihenfolge seiner einzelnen Schichten anzudeuten. Sie geben aber keineswegs, wie die Philosophie, ein Rezept oder Schema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können. Die Schwierigkeit beginnt im Gegenteil erst da, wo man sich an die Betrachtung und Ordnung des Materials, sei es einer vergangnen Epoche oder der Gegenwart, an die wirkliche Darstellung gibt. Die Beseitigung dieser Schwierigkeiten ist durch Voraussetzungen bedingt, die keineswegs hier gegeben werden können, sondern die erst aus dem Studium des wirklichen Lebensprozesses und der Aktion der Individuen jeder Epoche sich ergeben. Wir nehmen hier einige dieser Abstraktionen heraus, die wir gegenüber der Ideologie gebrauchen, und werden sie an historischen Beispielen erläutern.

Wir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um "Geschichte machen" zu können." (Karl Marx, MEW 3, Seite 27 f.)

Erkenntnis kann von daher weder objektiv und auch nicht einfach subjektiv sein, kann sich nicht aus einer vermeintlichen Subjektivität heraustreiben wie ein Pilz aus dem Boden. Sie bildet sich in der Unruhe des Lebens unentwegt durch ihre Gegenstände und das Verhalten zu ihnen. Von daher ist es vor allem die Liebe, welche hiervon Kenntnis hat und die Menschen erkennen lässt, was sie sind. Eine solche Beziehung kann also nur wirklich und praktisch sein, weil alles Lebendige durch seine Tätigkeit Wirkung hat und hierdurch auch in ihrer Kultur gegenständlich ist.

Erkenntnis ist die herausgearbeitete Kenntnis einer durch Vertiefung der Wahrnehmung anwesender Zusammenhänge erkennbar gemachten abwesenden Beziehung. Sie ist eine Sinnestätigkeit des Denkens im Wachen oder im Traum, mit oder ohne Bewusstsein, Wille oder Absicht. In der Erkenntnis verdichtet sich der Sinn von Beziehungen aus ihrer Wahrnehmung - wie man sie und sie sich auch schon kennt - zu einem Gedanken, worin deren Form überwunden ist, worin der Inhalt frei und unbedingt erscheint, in seiner Bedeutung erfasst ist. Erkenntnis ist daher unbedingt, hat also keine Bedingung außer sich, wohl aber einen Gegenstand, der ihr in Zeit und Raum, also geschichtlich vorausgesetzt ist und den sie in und durch sich bewahrheitet, wenn sie eine wahre Erkenntnis ist. Von daher ist Erkenntnis zwar immer geschichtlich, nicht aber durch Raum und Zeit begründet. In ihrem Denken greift sie über das Vorausgesetzte ihrer Gedanken, über Raum und Zeit hinaus, hat aber das Zeitlose noch außer sich, substanziell von sich unterschieden. Wo sie als Gedanke jedoch die Wirklichkeit erreicht, substantiviert sie sich darin. Sie verwirklicht sich durch ihre Gedanken, wo die "Wirklichkeit zum Gedanken drängt" (Marx in MEW 1, S. 386)