Sozialdemokratie

Aus kulturkritik

"Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht." (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 20).

Die Sozialdemokratie stand am Anfang einer politischen Arbeiterbewegung, die eine "Befreiuung der Arbeit" (Lassalle) und eine solidarische Gesellschaft zum Ziel hatte. Sie begründete sich auf der Forderung nach einer "gerechten Verteilung des Arbeitsertrags", die ihre Vorstellung eines Sozialismus einlösen soll, in welchem Arbeit und Produkt gleichermaßen an die Gemeinschaft der Werktätigen verteilt wird. Dies hatte der Begründer der Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, im Artikel 3 des "Programms der deutschen Arbeiterpartei", aus dem die SPD hervorgegangen ist, als "Befreiuung der Arbeit" aus der Herrschaft des Kapitals so formuliert:

"Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrags." (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 18).

Inwieweit eine solche Verteilung durch eine "genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit " überhaupt eine Befreiung der Arbeit darstellt, hat Marx idahingegen kritisiert, dass schon jede Form der Marktwirtschaft solche Gerechtigkeit beinhaltet, weil sie nichts anderes als die Bewertung eines Produkts durch bloßen Vergleich, also durch Gleichstellung unterschiedlicher Produkte als Konsumtionsmittel beinhaltet, wie das auch beim Warentausch erfolgt, worin unterschiedliche Arbeitsquanta unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Eigentümlichkeit, also von ihrer politischen Beziehung bemessen werden.

"Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z.B. beruht darauf, daß die sachlichen Produktionsbedingungen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel. Der Vulgärsozialismus (und von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen Ökonomen übernommen, die Distribution als von der Produktionsweise unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen. Nachdem das wirkliche Verhältnis längst klargelegt, warum wieder rückwärtsgehn?" (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 22).

Sozialdemokratie will durch die Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit der Produktion durch Genossensschaften und der Produkte durch eine gesellschaftliche Institution den Arbeitsaufwand stetig mindern und die Gleichheit der Produktanteile optimieren, so dass damit möglich wäre, den Klassenkampf als Verteilungskampf, als Kampf um gerechten Lohn und bessere Arbeitszeiten innerhalb der bestehenden Produktionsverhältnisse zu einer Gesellschaft der Gleichen zu entwickeln, indem sie ein Anrecht auf Teilhabe an einem unverkürzten Arbeitsertrag bekämen. So wie es ja auch in Artikel 1 dieses Entwurfs heißt:

"Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern." (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 15).

Eine nur auf die Form der Verteilung von Arbeit gegründete Gesellschaft, die nicht auf die gesellschaftliche Form der Lebensverhältnisse (siehe hierzu Kommunalismus), sondern nur auf deren Arbeitsformen bedacht ist, kann selbst nur so abstrakt bleiben, wie sie schon ist. Marx stellt die Fiktion einer Gleichheit durch gleiche Rechte heraus, indem er auf die dem notwendig vorausgesetze Ungleichheit reflektiert:

"Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein." (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 20f).

Marx warf Lassalle vor, dass er seine genossenschaftliche Verteilungsvorstellung nur als sozialistische Phrase anbietet, mit der eine Überwindung des Kapitalismus behauptet, und doch nur die Tendenzen des Kapitalismus vernebelt, wie sie selbst schon seinem Betreiben entsprechen:

"Wie das Kapital die Tendenz hat, in der direkten Anwendung der lebendigen Arbeit sie auf notwendige Arbeit zu reduzieren und die zur Herstellung eines Produkts notwendige Arbeit stets abzukürzen durch Ausbeutung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit, also die direkt angewandte lebendige Arbeit möglichst zu ökonomisieren, so hat es auch die Tendenz, diese auf ihr notwendiges Maß reduzierte Arbeit unter den ökonomischsten Bedingungen anzuwenden, d.h. den Wert des angewandten konstanten Kapitals auf sein möglichstes Minimum zu reduzieren. Wenn der Wert der Waren bestimmt ist durch die in ihnen enthaltne notwendige Arbeitszeit, nicht durch die überhaupt in ihnen enthaltne Arbeitszeit, so ist es das Kapital, das diese Bestimmung erst realisiert und zugleich fortwährend die zur Produktion einer Ware gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verkürzt. Der Preis der Ware wird dadurch auf sein Minimum reduziert, indem jeder Teil der zu ihrer Produktion erheischten Arbeit auf sein Minimum reduziert wird." (Marx-Engels-Werke Bd.25, S. 97)

Es waren schon seit langem die Illusionen zum Kampf um "gerechte Verhältnisse", welche die Arbeiterbewegung daran gehindert hatten, ihre subversive Kraft zu entwickeln und durch ihre aus ihrem wirklichen Leben zu schaffenden Lebensformen sich zu einer Gesellschaft der Menschen zu organisieren (sieh hierzu auch Internationale Kommunalwirtschaft). Es blieb bei Appellen und politischer Gewalt, welche diese Entwicklung unverwirklicht hinterließ und den Mythos der Genossenschaft zur Volksgenossenschaft getrieben und deren Personalisierung zum Volksgenossen gesteigert hatte.

"Ich bin weitläufiger auf den "unverkürzten Arbeitsertrag" einerseits, "das gleiche Recht", "die gerechte Verteilung" andrerseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden, unsrer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andrerseits aber die realistische Auffassung, die der Partei so mühvoll beigebracht worden, aber Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts- und andre, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen verdreht.

Abgesehn von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen." (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 21f).