Avantgardismus
"Aber ach! Jeder Zoll den die Menschheit weiterrückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu teuer? Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebensoviel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte?"
(Heinrich Heine: Reisebilder, Reise von München nach Genua, Kap. XXX)
Avantgardismus beruht auf einem Vorsprung, der z.B. in einem Wissen oder einer politischen Haltung sich darstellt und durch dessen Vermittlung sich selbst beenden würde. Darüber hinaus werden avantgardistische Positionen zu einm Herrschaftswissen, das sich innerhalb der herrschenden Formen gegen seine Inhalte zu verwirklichen sucht und somit selbst zu einer Herrschaftsform werden kann, wenn er seinen kritischen Ansatz selbst als politische Machtposition etabliert, seine Kritik der Politik im avantgardistischen Kader politisch verdoppelt und entleert. Eine Kaderpartei bezeichnet einen bestimmten Parteityp in autoritären, insbesondere sozialistischen oder faschistischen Regimes und in der Politikwissenschaft einen bestimmten Parteityp des 19. Jahrhunderts (siehe hierzu auch die Kaderparteien des Linksfaschismus).
Der Avantgardismus ist dann ein Bewusstsein, das sich für eine Gruppe oder Partei von Vorreitern für die Entwicklung einer geistigen Strömung einsetzt. Die Avantgarde bezieht ihre Position entweder aus einer besonderen Sensibilität für Zeitströmungen, also durch eine frühe Erkenntnis dessen, was in Gang gekommen ist und bald "en Voge" sein wird - oder aber sie besteht aus Fantasten, die sich eine Zukunft nur vorstellen, die sie als Reiz besonderer "Lebensbegabung" den Menschen vorstellen und vorführen, um sie zu solcher Lebensweise zu verleiten (siehe hierzu auch reaktionärer Marxismus).
In der Politik wurde Avantgardismus als Theorie genutzt, mit der die Umkehrung von Verhältnissen durch die Elitebildung von Vorreitern oder Klassenkämpfern aus den unterdrückten Klassen angeleitet und vollzogen werden soll. Dies hat links wie rechts zu fatalen Entwicklungen in der Geschichte geführt, weil der avantgardistische Gedanke dann reaktionär werden muss, wenn er sich nicht unmittelbar in der gesellschaftlichen Gruppe in der Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen auflöst, an denen er entstanden ist. Das bringen politische Vorstellungen so mit sich, sobald sie sich den realen Auseinandersetzungen entzogen haben. Das hatte dereinst schon Karl Marx thematisiert:
"Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt." (K. Marx, Dt. Ideologie, MEW 3, 35)
Eine wirkliche Bewegung ist sowohl eine Geschichte der Wirklichkeit, die ihre Objektivität als Zustand für die Menschen wahr hat, wie sie auch eine Bewegung der Menschen als Subjekte in dieser ist, die ihr wirkliches Leben darin finden, dass sie diesen Zustand aufheben.
Bewegungen brauchen eine Organisationsform, in der die Menschen Wege suchen, um sich aus der Formbestimmung ihres Lebens zu befreien, sich hiergegen zu emanzipieren und sich hierfür versammeln und ihre Kraft bilden und zusammentragen können (siehe politische Partei). Aber ihre wirkliche Geschichte braucht keine Avantgarde, die ihr vorsagt oder vorführt oder in Auftrag gibt, was zu tun sei. Sie liegt offen zutage, wenn ihre Beweggründe ent-deckt, ihre Ursachen und Wirkungen in ihren Wesensgründen erkannt sind. Es geht dabei nicht um etwas wesentlich Neues, sondern um eine Form, in der das Alte überhaupt wirklich leben und existieren kann.
"Es wird sich ... zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt." (MEW 1, S. 346)