Barbarei
"Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zu viel Zivilisation, zu viel Lebensmittel, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie vielseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert." (Originaltext Manifest der Kommunistischen Partei, 1847/48, Karl Marx und Friedrich Engels MEW 4, Seite 467)
Barbarei entsteht aus der Gewalt des Mangels in einer Notwendigkeit, die sich nicht aufheben lässt, weil ihr Reichtum sich in einer schlechten Unendlichkeit zu sich selbst verhält und hierdurch seiner Substanz entzogen ist. In der bürgerlichen Gesellschaft kann dies durch Krisen des Finanzkapitals entstehen, wenn es die Grundlagen seiner realen Wirtschaft zerstört hat (siehe auch Feudalkapitalismus). Die sozialistschen Revolutionen, die ganz im emanzipatorischen Bewusstsein der Befreiung vollzogen wurden, sind immer dann selbst in Barbarei aufgegangen, wo sie die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung strukturell aufgelöst haben, ohne ihre Notwendigkeiten zu bewältigen, was ihre Mangelwirtschaft zum Versagen des ganzen gesellschaftlichen Systems geführt hat. Dann wird eine ganze Gesellschaft nur durch Gewalt gehalten, ohne dass sie die gesellschaftlich notwendigen Grundlagen schaffen kann.
Barbarei ist letztlich der Begriff, der die Zerstörung einer Kultur besagt, den Niedergang der entwickelten gesellschaftlichen Sinne und Sinngebungen, die Auflösung aller Sitten und Gebräuche und deren Rechtsformationen. Als Barbaren wurden ursprünglich unverständlich sprechende Völker bezeichnet (griechisch: "bárbaros"). Barbarei meint daher eine Rohheit, die uneingeschränkt um sich greift, weil in ihr keinerlei Verständigung mehr möglich ist. Allgemein versteht man darunter einen unmenschlichen Zustand in einer Gruppe oder Gesellschaft, in welchem sich der Prozess einer Zerstörung ihrer Kultur verselbständigt hat. Darin haben die sie konstituierenden Bestimmungen sich in ihr Gegenteil verkehrt: Sie verbrauchen sich, nichten sich selbst und sind von daher zur Bestimmung einer Selbstvernichtung geworden. Die Umkehrung verläuft durch die Abstraktion ihrer Kräfte (siehe Krise), die ihren Grund im Sog ihrer Negation (siehe Nichts) verloren haben und sich nun substanziell selbst aufbrauchen, von der Nichtung schließlich zur Gewalt, zur Vernichtung übergehen, um hieraus Substanz für sich zu erzwingen.
Barbarei setzt voraus, dass es Bestimmungen gibt, welche die konkreten Beziehungen in Gesellschaften oder Gemeinschaften zerstören und diese als Verhältnis der Geschichtsauflösung fort treiben, zur Abstraktion ihrer Geschichte selbst werden lassen, zu einer ewigen Wiederkehr ihrer Momente im Zirkelschluss unendlich sich fortbestimmender Krisen (siehe schlechte Unendlichkeit), zur "Farce der Geschichte", zur Selbstaufgabe ihres Fortschreitens durch Verneinung und Ausschluss ihrer Widersprüche und Konflikte (siehe Ausschlusslogik).
Der Zustand der Barbarei entsteht durch die abstrakte Begründung von Gewalt als Notwendigkeit eines Ganzen, das sich selbst als Heil bestimmt, um heil zu werden. Von dem her ist es die Selbstrettung einer abstrakten Allgemeinheit, welche Barbarei verursacht. Darin wird beschworen, was gemieden werden soll und gemieden, was beschworen wird (siehe z.B. den sogenannten "Kampf der Kulturen"). Bezogen auf einen ganzen Prozess, also logisch genommen, folgt dies einem Prinzip, das den Niedergang der Zusammenhänge als Fortschritt der Macht begeht (sieheVernichtungslogik), die über die Begriffssubstanz ihrer Logik hinausgreift, weil sich deren Dasein erschöpft hat. So verwirklicht sich alleine das Nichtigsein und Nichtigsetzen der Zusammenhänge des Ganzen, das wechselseitige Sein durch das Nichtsein des anderen, die absolute Abstraktion gegen das Leben selbst. Barbarei ist die verselbständigte Zusammenhanglosigkeit als mächtiger und wechselseitiger Vernichtungsakt - solange, bis nichts mehr von dem ist, was das Verhältnis begründet hat. In der Barbarei ist die Wechselseitigkeit der Vernichtung sowohl impliziert wie aufgelöst. Sie ist das finale Prinzip der Realabstraktion, das seine Realität schon aufgehoben hat, Verwertung, die keinen Wert mehr zu erzeugen vermag und von daher ihre eigene Substanz durch Aufzehrung verwertet.
Gesellschaften münden dann in Barbarei, wenn ihre Form das darin praktizierten und verwirklichten Leben überwältigt (siehe Formbestimmung), wenn sie dem Leben als leere Macht vorkommt, das sich darin nicht mehr erkennen kann, weil es darin verkehrt erscheint. Dann wird die Form zum Prinzip von dem, was nicht ist und Nichts ist, absolute und leere Abstraktion, welche nur die Verwahrlosung des Seins bewirken kann.
In diesem Sinne ist auch die Prognose von Karl Marx zu verstehen, dass der Kapitalismus zur Barbarei führt, wenn er nicht in Sozialismus übergeht. Keine Prognose hat über eine so lange Zeit hinweg sich bewahrheitet, wie diese. Am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft war die Industrie und das darin entwickelte Kapital noch förderlich zur Entwicklung einer Gesellschaft, die sich aus ihrer Naturbefangenheit weitgehend emanzipieren konnte. Jetzt ist es umgekehrt: Wo das Kapital herrscht, treibt es die Gesellschaft nur noch zu ökonomischer, kultureller und politischer Verwahrlosung.
Die bürgerliche Philosophie rüstet sich seit dem 19. Jahrhundert (besonders durch Schopenhauer und Nietzsche) auf einen finalen Kampf der Menschheit, um der Macht gegen die Ohnmacht die Gewalt des Fortschritts zuzusprechen (siehe Sloterdijk). Sie hat sich damit in ihrer Selbstentfremdung verfangen, denn dieser Fortschritt ist - wie die ökonomischen Schriften von Marx eindringlich belegen und seit 150 Jahren bewahrheiten - das Prinzip der Barbarei.
Seit der Zeit, wo die Umkehr der Geschichte zum Faschismus kenntlich wurde, hat die Menschheit ein Ausmaß an Grauen und Grausamkeit hervorgebracht, die bis dahin undenkbar war. Die Herrschaft des Todes im Faschismus hatte die tödlichen Figurationen der Wirklichkeit absolut gemacht und ihre Reflexion sich unterworfen (siehe hierzu Freud und Adorno). Das war ein wesentlicher Grund für die Lähmung der Linken. Zugleich hat die Etablierung eines sozialistischen Staatswesens nicht die innere Kraft eigener Bildung gefunden, weil die Weltmärkte und die politischen und militärischen Gewalten es nicht zuließen - auch und gerade in der Zeit des westlichen Faschismus. Heute gibt es keinen Grund mehr, warum die Menschen der Todesmacht der derzeitigen Geschichte, dem Kapital, nicht entgegentreten können - außer dem Kapital selbst.
"Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: dass das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint, dass die Produktion nur Produktion für das Kapital ist, und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind." (MEW 25, 260).