Befriedungsverbrechen

Aus kulturkritik


»Es ist hohe Zeit, nicht nur von den großen Kriegen zu sprechen, sondern auch von dem kleinen Krieg, der den Alltag verwüstet und der keinen Waffenstillstand kennt: von dem Krieg im Frieden, seinen Waffen, Folterinstrumenten und Verbrechen, der uns langsam dazu bringt, Gewalt und Grausamkeit als Normalzustand zu akzeptieren. Krankenhäuser, Gefängnisse, Irrenhäuser, Fabriken und Schulen sind die bevorzugten Orte, an denen dieser Krieg geführt wird, wo seine lautlosen Massaker stattfinden, seine Strategien sich fortpflanzen – in Namen der Ordnung. Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag. Was heißt das? Krankenhäuser und Pharmazeutika-Betriebe sind Quellen der Zerstörung …

Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns dieser Tätigkeit, nachdem wir uns ihre Implikationen und ihre Folgen bewusst gemacht haben, weiterhin mit Haut und Haaren verschreiben wollen oder nicht; ob wir uns an der Verdunkelung der Unfreiheit oder an ihrer Enthüllung beteiligen wollen; ob wir nach wie vor über die Schwachen, Ohnmächtigen, Unterdrückten, Ausgestoßenen anstatt endlich mit ihnen sprechen wollen.« (Basaglia & Basaglia-Ongaro, 1980, S. 54)

Befriedungsverbrechen ist ein Begriff, den Basaglia verwendet hatte, um den Gebrauch von Techniken der Befriedung vor allem in der Psychiatrie und anderen "sozialen Institutionen" des Staates zu beschreiben (siehe auch Antipsychiatrie). Es ist eine Herrschaftsform über Bedürfnisse, die selbst gewalttätig werden kann. Um die Gewalt hierfür inne zu haben, verlangt dies allerdings eine Macht, die meist dadurch erworben wird, dass die Befriedung als besonders effektiv für die wirtschaftliche und soziale Stabilität der Gesellschaft befunden und von daher auch als eine staatlichen Notwendigkeit sanktioniert wird - z.B. Polizeigewalt, "Ordnungsmacht" usw.. Es verlangt also die Definition dieser Notwendigkeit und die hiervon abgeleitete "Maßnahmen" die ihrer strukturellen Gewalt gegeben sind und diese vor allem im Verschluss ihrer Ausschließlichkeit wirksam sind (Fixierung, Aussonderung, Absonderung, Psychopharmaka).

"Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist." (Johan Galtung)

In den Grenzbereichen des bürgerlichen Rechts kann dies extrem ausgelegt werden, vor allem dann, wenn die "öffentliche Ordnung" oder die allgemeinen Rechtsformen als "gefährdet" angesehen werden. Leidträger sind dann vor allem die Randgruppen, welche für den Staat als aufwändig gelten, z.B. renitente Bürger, Obdachlose, Alte, "Psychisch Kranke" usw. Von daher hatte Franco Basaglia von einem Befriedungsverbrechen gesprochen, wenn Pfleger und Ärzte sich dazu hergeben, psychisch bedrängte und erregte Menschen all ihrer bürgerlichen Rechte zu berauben, sie zu fesseln und abzuspritzen, bis sie sich vollständig fügen, weil ihre Widerstandskräfte gelähmt sind (vergl. Franco Basaglia: "Befriedungsverbrechen: über die Dienstbarkeit der Intellektuellen"