Ethik

Aus kulturkritik
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"Jede philosophische, ethische und politische Idee ... hat eine Tendenz, zum Kern einer neuen Mythologie zu werden, und ist einer der Gründe, weshalb das Fortschreiten der Aufklärung auf bestimmten Stufen dazu tendiert, in Aberglauben und Wahnsinn zurückzuschlagen .... Theorien, die eine kritische Einsicht in historische Prozesse darstellen, haben sich oft in repressive verwandelt, sobald sie als Allheilmittel verwandt werden. Philosophie ist weder Werkzeug noch Rezept." (Max Horkheimer, "Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen", S.32)

Ethik (griechisch êthos=sittlicher Charakter) will ein sittliches Verständnis des menschlichen Handelns formulieren, das die menschliche Zivilisation erhält, bewahrt und befördert. Sie will hierfür grundsätzliche Regelungen diskutieren, wie sie z.B. durch die "Zehn Gebote" aus der Bibel vermittelt wurden. Als Begründung einer Sittenlehre soll sie vor Zerstörung bewahren, an das Wesen des menschlichen Seins gemahnen, das ihm zugrunde liegt, den Mißbrauch des Lebens verhindern (z.B. Klonen, pränatale Selektion). Und wenn es in Not geraten ist, soll Not wendendes Handeln an dem gemessen werden, was es allgemein für das menschliche Leben bedeutet. Und gerade dies macht sie auch zu einem Problem wenn sie hierbei Lebenswerte entwickelt, z.B. als nationalsozialistische Ethik in der Unterscheidung von "menschlichem Leben" und "unwertiges Leben". Von daher ist Ethik von den Sitten abhängig, wie sie in den verschiedenen Epochen und Kulturen gesellschaftlich entwickelt sind. Eine hiervon unabhängige Ethik kann es in Wahrheit nicht geben, kann also die "Wahrheiten des Lebens", den Geschichtsprozess der menschlichen Sinbildung und der hierzu notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht ersetzen. Ethik hat noch keinen Krieg verhindert, weil sie auf beiden Seiten im Sinn der eigenen Kultur denkt und selbst wo sie z.B. das Leben von Soldaten oder Kriegsgefangenen (Genfer Konvention) schützen will, versagt sie kläglich, wenn die Kriegstaktik nach Tötung der Feinde verlangt, um die eigenen Leute zu retten. Es ist das Prinzip des Krieges und Ethik wird zu einer gewaltigen Täuschung, wenn sie vorgibt, solche Notwendigkeiten auszuschalten.

Ethik gibt sich auch gerne als Zielführung und Anleitung zu einem "guten und glücklichen Leben", zeitlos und unabhängig von ihrer Kultur, in der Begründung von Lebenswerten, z.B. als eine Lehre vom guten Menschsein, welche meist auf der Basis des praktischen Humanismus oder einer Religion die Grundlagen zur Bewertung einzelner Lebensakte für Entscheidungen und Urteile als Maßstab ihrer Güte bereitstellt - z.B. den "Wert des ungeborenen Lebens". Dann besteht Ethik aus Lebenswerten, die durch Sittlichkeit und Vernunft hinreichend begründet gelten. Sie werden aber auch durch Wissenschaft oder Glaube, manchmal beides in einem aufgestellt und werden darin leicht zur Lehre einer Gesinnungsart (siehe z.B. Antisemitismus, Rassismus), wenn sie ihre eigenen Kriterien und Methoden hierfür benutzen (z.B. interkulturelle Vergleiche oder Schädelvermessungen). Es gibt zweifellos überhistorische Notwendigkeiten des Lebens wie z.B. der Notwendigkeit seiner körperlichen und geistigen Unversehrtheit. Doch diese sind schon immer relativiert durch den geschichtlichen Prozess seiner Fähigkeiten und Eigenschaften - nicht zuletzt durch den Entwicklungsstand seiner Produktivität.

Ethik impliziert aber auch ein menschliches Selbstverständnis, das sich in allgemeinen Reflektionen über das Menschsein - meist aus der Philosophie oder Theologie - begründet, aus denen heraus Seinsinhalte des Lebens für wesentlich erkannt sein sollten, meist aber nur als Interpretation des Lebens vorgestellt sind. Eine bürgerliche Ethik setzt sich darin durch, indem sie dies ontologisch definiert und damit meist abstrakte und daher relativ beliebige Beziehungen ihrer Wirklichkeit erhält, weil diese durch Ontologie immer verwesentlicht wird.

Darin unterscheidet sich Ethik im wesentlichen auch von einem Bewusstsein, das seine Gegebenheiten und deren Geschichte einerseits als seine Selbstverständlichkeit kennt und sich anderseits als Wissen des Seienden sich vergewissern muss, sich also hierzu auch notwendig praktisch verhält. Während Ethik sich aus Interpretationen und Vorstellungen über das wahre Menschsein begründet, kann Bewusstsein nur im Verhältnis des Seins wahr sein, im Unterschied zu einer Ethik also auch als falsches Bewusstsein scheitern.

Als Moral wird Ethik positiv begriffen und betreibt daher das Gegenteil von dem, was sie soll. Da wird sie zu einer Direktive, die einen eigenen Zweck verfolgt, ein allgemeines Sollen durchzusetzen sucht, das sich dem einzelnen Wollen überordnet, sich also jenseits wirklicher Willensbildung positioniert und entwickelt. Moralische Ethik betreibt, was sie verhindern will: Sie mißbraucht die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung durch eine abstrakte Antwort, in der sich diese von selbst auflöst und dem zugute kommt, was eben längst abstrakt und allgemein herrscht. Moralische Ethik zerstört die Auseinandersetzung, die solche Herrschaft evoziert und ist von daher deren einzigartige Reaktion die das erstrebt, was ein Fortkommen aus ihren Widersprüchen unmöglich macht. Sie richtet es gegen sich selbst, macht es unendlich ist daher immer eine Reaktion, die wirklichen Fortschritt verhindert.

Aus solcher Ethik ergibt sich praktisch lediglich eine Moral, worin die Menschen ihr Verhalten verstehen und worauf sie sich beschränken sollen. Von dieser Seite her wird Ethik zwangsläufig reaktionär, indem sie sie sich von den Inhalten des Bewusstseins abspaltet und dieses zu bestimmen sucht.

Angesichts barbarischer Verhältnisse und Willkürlichkeiten erscheint Ethik oft als einziges Mittel, die Anliegen des Menschseins allgemein zu formulieren. In einer Ethikkommission wird beispielsweise diskutiert, wieweit Genforschung und Genmanipulation gehen darf. Kein Wunder, dass dort die gesamte Industrie hochrangig vertreten ist. Niemand wird sich die Definition des richtigen und guten Menschseins von anderen bestimmen lassen, denn das Gute kann auch sehr nützlich sein. So ist eine Ethikdiskussion sehr schnell selbst der Streit, den sie aufheben sollte.

Ethik bestimmt sich als allgemein postiver Wert und setzt somit ihren eigenen Ausgangspunkt entweder durch eine Ontologie oder ein Prinzip. An ihrer Position wird die Negation ausgerichtet, also alles, was ihr entgegensteht und was sie von ihrem Wert her bewertet. Ihr implizites Ziel ist die Verwirklichung eines guten Menschen durch Veröffentlichung von verbindlicher Moral und durch die Grundlegung für Gesetze, die sie befördern.

Doch Gesetze sind Beschränkungen, die sich aus der Lebenspraxis der Menschen und deren Geschichte ergeben. Man braucht nicht unbedingt die Position eines Menschenbildes, um Verbote zu formulieren: "Du sollst nicht töten. Du sollst keinen Menschen klonen. Du sollst keinen Schaden an Leib, Leben oder Natur zufügen. Du sollst deine Nahrung nicht verderben." u.dgl. mehr. Man mag solche Gebote vernünftig, moralisch oder ethisch bezeichnen; aber vor allem sind sie praktisch notwendig, nicht aus Vernunftsgründen, sondern im Erkenntnisprozess des Lebens selbst, durch welchen ich nicht ohne Natur und nicht ohne andere Menschen sein kann und mich selbst nur als das kenne, was ich im Bezug auf diese erkenne. Gebote, welche aus dieser Selbsterkenntnis hervorgehen (z.B. dass ich andere Menschen schützen muss, wie mich selbst), formulieren dieses als Selbstverständnis wenden so auch meine Not, wenn sie als allgemeine Notwendigkeit begriffen sind und umgesetzt werden. Hierzu bedarf es nur des Wissens dieser allgemeinen Beziehung und der Mittel für ihre Absicherung. Eine ethische Wertung jenseits dieser Beziehung verkehrt sie selbst zum Anwendungsfall ideeller Allgemeinheiten, die immer als Vorstellung eines So-Sein-Sollens, als Ideologie, als Bewusstseinsform der Beherrschung daher kommen und sich als herrschendes Bewusstsein gegen die Wirklichkeit komplexer menschlicher Beziehungen richtet.

Menschliches Selbstverständnis ist aus der menschlichen Geschichte selbst erwachsen und in der Auseinandersetzung mit ihr mehr oder weniger tief in das sinnliche und kulturelle Gedächtnis der Menschen als praktische Selbstverständlichkeit eingegangen. Sie entwickelt sich im Anliegen der Verständigung über das menschliche Leben, nicht aus der Vernunft von Abstraktionen. Eine positive Begriffsbestimmung dieses Lebens ist vor allem dadurch problematisch, als sie diese als Ontologie und damit als ontisches Prinzip anwendet. Geschichte, die darin entsteht, kann nur die Geschichte einer Wesensbehauptung sein und keine wesentliche Geschichte. Hiergegen hatte sich schon Immanuel Kant gewandt, als er dieses Problem mit seinem kategorischen Imperativ zu lösen versuchte.

So notwendig Gebote und Gesetze sind, welche die Beschränkung von menschenfeindlicher Willkür gewährleisten sollen, so fragwürdig ist Ethik als Position einer theoretischen Menschlichkeit. Schon die Praxis von Ethikkommissionen zeigt deren Funktion als Beschwichtigungsinstrument gegenüber knallharten politischen und wirtschaflichen Interessen. Tatsächlich steht hier einzig ein Appell an das Gute wie dessen Theologie dem Verwertungstrieb der multinationalen Industrie entgegen und verschleiert so auch dessen Wirklichkeit. Mehr als blanke und allgemeine Gesetze bewirken können, erreicht die praktische Kritik an dieser Industrie, ihrem Finanzwesen und ihrer Produktion.

Eine Kritik bedarf keiner theoretischen Position sondern ist in ihren praktischen Lebenszusammenhängen selbst positiv, wenn auch in der Negation wirklich. Hiergegen ist Ethik, je nach der Art ihrer ontischen Reduktion auf einen Lebenswert, relativ beliebig anwendbar, z.B. auch zur Bestimmung des Lebensunwerts zur Weitergabe an die Euthanasie oder als Begründung eines "Kampfes der Kulturen" (siehe Huntington) durch die Menschenrechte. Es ist eine einfache Wahrheit: Das so etablierte "Gute" funktioniert nur, wenn es das "Böse" niedermacht. Und dann ist es eine Frage der rechten Gesinnung, ob man zu den "Guten" gerechnet wird.