Holocaust

Aus kulturkritik

"In seinem 1971 erschienenen schmalen Buch "Unmeisterliche Wanderjahre" hat Jean Améry die ersten Schocks und die anhaltenden Verwirrungen geschildert, in die er durch seine Begegnung mit Deutschland gestürzt worden war und die auch der studentische Aufbruch der 1960er-Jahre und die neue Linke nicht zu beschwichtigen vermochten. Von dem, was sich damals als Antifaschismus gerierte, war Jean Améry nicht zu beeindrucken gewesen, ebenso wenig durch die Theorien der Frankfurter Schule, in denen das Grauen, das er am eigenen Leibe erfahren hatte, zu denken versucht worden war. "Die realen Greuel", schreibt der Holocaust-Überlebende Améry, "bei denen sich niemand aufzuhalten brauchte, wenn in angestrengter Begriffssprache doziert wurde, bekamen etwas Märchenhaftes, Greuelmärchen. Die abstrakte Reflexion nahm ihnen ihre Schrecken. In den Seminaren wurde der Schrecken transsubstantialisiert." Theodor W. Adorno selbst warf er vor, "den heraufrückenden Generationen Intellektueller nebst dem schneidenden Vokabular auch das fleckenreine linke Gewissen" zu verschaffen. Jede Metapher, jede Philosophie versagte in den Augen Amérys, wenn es um die Darstellung der erfahrenen Schmerzen ging." (SPIEGEL 1976)

Der Holocaust bezeichnet die deutsche Vernichtungsmaschinerie, die in der Zeit des Dritten Reiches (siehe Nationalsozialismus) zur industriellen Ausrottung des Lebens von Juden, Homosexuellen, Kommunisten, Sintis und "Geisteskranke" (siehe auch Euthanasie) errichtet wurde. Der Massenmord wurde ideologisch und logistisch langfristig vorbereitet und planm��ig durchgef�hrt. Einzigartig in schlechtester Bedeutung des Wortes bleibt hierbei die ungeheuerliche Planungs- und Verwaltungsmaschine, die f�r sich, und v�llig unbeteiligt an menschlciher Wirklichkeit, einen gigantischen Massenmord an Menschen organisiert, geplant und durchgezogen hat, die anderen Glaubens (z.B. Juden), anderer Kultur (z. Sintis), politischer Ausrichtung (z.B. Kommunisten) oder Lebensart (z.B. Homosexuelle, Behinderte) waren. In Europa gab es allerorten zwar auch sonst die Verfolgung und Vernichtung von Juden und Sonderlingen, nirgendwo jedoch wurde deren Ausl�schung so kalt und kalkuliert betrieben, wie durch die deutsche Vernichtungsmaschine. Der Massenmord war so schlicht und sachlich organisiert, dass er in der Tat und im vielf�ltigen Sinne des Wortes unglaublich war. Es ist eines der Merkmale des Faschismus, eine strenge Sortierung der Welten so stringent durchzuziehen, dass sie aus dem konkreten Leben heraus faktisch nicht nachvollziehbar und gerade deshalb durchf�hrbar ist. Der Judenhass, der in antisemitischen Rede- und Verhaltensweisen in Europa und Asien seit Jahrhunderten besteht, wurde im Holocaust von den Nationalsozialisten genutzt, um ein verbrecherisches Restaurationsprogramm des deutschen Kapitalismus durchzupeitschen.

Dem Holocaust geht der Niedergang des deutschen Kapitalismus voraus, der durch Hitler nach der Weltwirtschaftkrise wiederbelebt werden sollte: Die Schuldenaufnahme im Ausland (besonders in Russland) sollte nicht beglichen, sondern durch Kriegseroberungen getilgt werden und zugleich sollte der Krieg in einem durch Reparationsleistungen v�llig geschw�chten Land durch unentgeldliche Arbeit, durch Zwangsarbeit erm�glicht werden. F�r letztere war die Nutzung kultureller Stigmatisierung (die Andersartigen sollen sich durch Arbeit f�r das Reich n�tzlich machen) vorausgesetzt. Dies ist nicht durch �konomische Realit�ten, z.B. Angst vor Arbeitslosigkeit und durch "gew�hnliche" Ausbeutung der Arbeitskraft verwirklichbar, sondern durch Todesbedrohung: Alles "lebensunwerte Leben" wurde in dieses Kalk�l einbezogen und der Tod zum Ma� der Erpressbarkeit. Wer nicht sterben musste, weil er noch arbeitsf�hig war, "durfte" dies "f�r das Reich" in Arbeit umsetzen. "Arbeit macht frei", das war der zynische Spruch, der �berall den Zugang in die Konzentrationslager, die Arbeitslager der Nationalsozialisten, vermittelte. Tats�chlich war er das Spruch eines ungeheuerlichen Kalk�ls: Wer schon der nationalen Kultur nicht entsprach, der sollte sich n�tzlich machen, bevor er seinem "Schicksal" als Undeutscher in den Tod zu folgen hatte. Eine Chance hatte er nicht. Es war der Mord des reinen Profits der Auspressung von diskriminierten Menschen und zugleich eine Bedrohung aller B�rgerInnen, die sich der nationalsozialistischen Gesinnung gegen�ber nicht willf�hrig zeigten.

Die Technik der Vernichtung war vollkommen angewandte Maschinerie mit einer hochdimensionierten Ideologie des absoluten Kapitals versehen, Menschenverachtung aus Profitgier bis zur Vernichtung, und vollkommene Kultur, Menschenabsonderung in absoluter Lebensenthauptung. Das ganze Programm wurde von Technokraten wie z.B. Eichmann, in stumpfsinniger Lebensverachtung durchgezogen. Die Konzentrationslager waren so platziert, dass sie der Kriegsindustrie dienlich waren. Dort wurden von den Arbeitsf�higen Verkehrswege und Waffen produziert; die Schwachen wurden umgebracht. Beides war geplant und gewollt. Ihre Vernichtungsraten wurden wie eine Sachlistung behandelt, welche die Vernichtung von "lebensunwerten" Menschen ebenso abhandelte, wie ihre Verwertbarkeit. Beides war f�r den Nationalsozialisten gegen�ber dem Undeutschen dasselbe. Das ist die eigentliche Ungeheuerlichkeit des "Undenkbaren": Die Gleichzigkeit von Kapitalisierungsinteressen und Menschenverachtung war das einzigartige Deutsche. Judenverfolgung und -vernichtung gab es auch in anderen L�ndern, nirgends aber mit dieser Kapitabornierten Ver�chtlichkeit. Deutschland war eben auch in Notzeiten ein "re�ches Land": Reich an "Menschenmaterial". Und dies ist letzlich die Bedingung f�r jede Restauration von Kapitalismus.

Der Holocaust war f�r die Kulturtheorie nach dem Dritten Reich zum Sinnbild der Unfassbarkeit faschistischer Unmenschlichkeit, das absolut Amoralische, zu dem es Menschen gebracht hatten, Gipfel der Barbarei. Er stand auch f�r die Ungeheuerlichkeit eines Machtapparats, die zu verstehen sich dem Denken verbieten sollte, das "Undenkbare" (Adorno, Horkheimer), das keiner Erkl�rung mehr f�hig sei. Es ginge nur noch darum, alles zu tun, "damit Auschschwitz nicht sich wiederhole" (Adorno). Dieses implizite Denkverbot der Moralit�t formulierte allerdings nur die Abwendung des Intellekts vor der Geschichte, die er zuvor auch nicht zu begreifen vermochte. In dieser Abwendung wird es auch f�r Taten nicht wirksam, sondern schmeichelt eher dem Selbstgef�hl des Moralisten, der bereit war, seinen Lebensgenuss dem Ged�chtnis an den Holocaust zu opfern ("Nach Ausschwitz l�sst sich keine Sonate mehr genie�en"). Das "Undenkbare" l�sst sich aber nicht nur denken, es muss auch gedacht werden. Wir k�nnen auch heute nicht sicher sein, dass Politik damit arbeitet, "Undenkbares" zu planen und durchzuf�hren, wenn es f�r den Systemerhalt notwendig scheint.

Mit dem Holocaust wurde die Gleichzeitigkeit kultureller und kapitalistischer Bestimmungen zum Grund f�r eine Ausrottungsstrategie, die dem deutschen Kapitalismus einen Neuanfang bescheren sollte, indem er die Menschen mit Kulturmitteln disziplinierte, um sie zu verwerteten, ohne vollst�ndig f�r ihre Reproduktion aufzukommen. Dies war das prinzipiell Neue. Hitler hatte nach dem ersten Weltkrieg aus der einfachen Anschauung eines Mannes, der "nichts mehr zu verlieren hatte", einen Plan entwickelt, mit dem er alles gewinnen wollte: Wiederaufbau und Fortentwicklung der deutschen Infrastruktur mit Mitteln aus dem Ausland, das sich die Fehler seiner Reparationspolitik eingestehen musste, und Machtentfaltung in bis dahin unbekannter Dimension, um "die deutsche Art" weltbestimmend und unangreifbar auszubreiten. Dies beides machte den spezifisch deutschen Faschismus aus und wurde letztlich im Holocaust umgesetzt.