Krankheit

Aus kulturkritik

"Der menschliche Leib ist von Natur sterblich. Krankheiten können daher nicht ausbleiben. Warum wird der Mensch erst dem Arzte unterworfen, wenn er erkrankt, und nicht, wenn er gesund ist? Weil nicht nur die Krankheit, weil schon der Arzt ein Übel ist. Durch eine ärztliche Kuratel wäre das Leben als ein Übel und der menschliche Leib als Objekt der Behandlung für Medizinalkollegien anerkannt. Ist der Tod nicht wünschenswerter als ein Leben, das bloße Präventivmaßregel gegen den Tod? Gehört freie Bewegung nicht auch zum Leben? Was ist jede Krankheit als in seiner Freiheit gehemmtes Leben? Ein perpetuierlicher Arzt wäre eine Krankheit, an der man nicht einmal die Aussicht hätte, zu sterben, sondern zu leben. Mag das Leben sterben: der Tod darf nicht leben. Hat der Geist nicht mehr Recht als der Körper? Allerdings hat man dies oft dahin interpretiert, daß den Geistern von freier Motion die körperliche Motion sogar schädlich und daher zu entziehen sei." (MEW 1, Seite 59)

Krankheit ist ein Mangel an Lebenssubstanz durch deren unbeschränkten und pausenlosen Verbrauch, der einen Organismus als Ganzes in seinen Lebensverhältnissen bedrängt und ihn wuchern lässt und hierfür seine Kräfte für sich aufzehrt, in einen Kreislauf der Entkräftung geraten ist. Sie entsteht in der Kränkung des individuellen Lebens, ist wesentlich gegen das Leben des Individuums gerichtet, ist sich selbst widersprechendes Leben, gehemmtes Leben, das sich in einer Nichtung befindet, die in den Todübergehen kann. Sie entsteht im Siechtum eines Lebensprozesses, der sich nicht mehr zu seiner Natur verhalten kann, weil er darin schon zu alt oder auch von ihrer Widersprüchlichkeit beherrscht ist. Krankheit ist die Erschöpfung, welche daraus resultiert und Körper und Geist bestimmt (siehe auch Leib-Seele-Problem).

An sich aber ist sie die Reflexion eines Andersseins, das nicht werden kann, dessen Wachstum unmöglich ist, weil es sich fremd ist (siehe Entfremdung) und von daher das gewohnte Leben bedroht. Sie begründet sich durch ein ungewöhnliches, ein außernormales Sein und durchgreift eine Lebenswelt, die diesem nicht gewachsen ist (siehe Normalität). Quantitativ mag dies aus Überlastung entstehen oder durch ein Unvermögen, Fremdes von Eigenem zu scheiden (z.B. Immunschwäche) oder durch Angriffe seitens der Umwelt (z.B. Viren, Bakterien, Feinstaub, belastete Nahrung), qualitativ jedoch ist Krankheit nur durch die ihr vorausgesetzten Gewohnheiten begründet, die sich in einem normativen Kulturverständnis äußert, worin Krankheit und Gesundheit auch nur je nach Gewohnheit unterschieiden werden. Hierin ist zwar Objektivität, insofern der menschliche Körper natürliche Grenzen hat und z.B. nicht jeden Stoff, nicht jede Kraftanstrengung usw. ertragen kann. Aber diese wird mit dem Krankheitsbegriff selbst nicht erwiesen. Eine Diagnose ist von daher immer nur relativ objektiv und sehr abhängig von der Analyse, aus der sie sich zu erklären hat, zu begründen hat, was sie für krank, also für nicht gesund hält. Doch immer verweist eine Krankheit den Kranken in eine objektive Rolle, mit der er nur für seine Gesundung Subjakt sein kann.

"Im Spital ist der Kranke Subjekt seiner Krankheit, d.h. es handelt sich um einen Fall; in der Klinik geht es nur um ein Beispiel: Hier ist der Kranke ein Akzidenz seiner Krankheit, das vorübergehende Objekt, dessen sie sich bemächtigt hat." (Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. [1973])

Gesundheit ist ein Ideal, das aus der Krankheit entstanden war, wo sie nicht von selbst wieder ins Leben findet, wo Leben in der Hemmung lebt und nicht so natürlich sein kann, dass es an einem Ideal der Gesundheit überhaupt bemessen werden muss. Ein perpetuierlicher Arzt ist ein Gesundheitsberater und Gesundmacher, der sich gegen die Krankheit als Kämpfer verhält, als Lebensbeistand, der die Ideale kennt und vermittelt. Und natürlich ist das nur möglich, weil es Krankeit gibt und jeder Mensch auch immer wieder mal krank wird und den Belastungen seiner Lebenswelt erliegt - eben weil es Krankheit als Beschädigung seiner gesellschaftlichen Funktionalität auch gibt (siehe auch Medizin). Und je mächtiger die Lebensnotwendigkeiterscheinen, je belasteter die Menschen in diesen Funktionen sind, desto zentraler wird das Lebensideal der Gesundheit des Lebens. Je weniger es also seine Natur in seiner Freiheit äußern kann, desto mehr wird Gesundheit zu seiner Natur idealisiert, zur Gesundheitsideologie.

Krankheit besagt vor allem: Was anderswo Teil des Gesunden ist oder werden kann, ist hier krank; es ist das Siechtum innerhalb einer bestimmten Kultur. An und für sich ist Krankheit also die Kritik einer bestimmten Kultur, ihrer Dekadenz oder ihres Hochmuts oder dergleichen, deren Grund auf anderes Sein verweist, also auch zeigen kann, dass der "Kranke" nach einem anderen Leben verlangt. Wiewohl Krankheit ihrem objektiven Gehalt zufolge auch den Tod von Individuen oder ganzer Kulturen (als Seuche) zur Folge haben kann, so ist sie qualitativ nicht tödlich und nicht von einem Lebensbegriff her bestimmbar. Vielleicht macht Krankheit die ganze Evolution aus; vielleicht besteht die Evolution selbst aus einer Folge von Revolutionen, welche in den Krankheiten einzelner Arten und Kulturen entstanden waren.»Was ist jede Krankheit als in seiner Freiheit gehemmtes Leben?«"LexTexte">Natürlich ist es für die einzelnen Menschen innerhalb einer bestimmte Kultur immer nützlich, gesund zu sein. Aber solange die Medizin Krankheit nicht als lebendes Aufbegehren in sich aufnimmt, wird sie immer nur rekonstruktiv und niemals kritisch, also selbstbewusst sein und den Stoffwechsel lediglich in seine gewohnte Bahn bringen, ohne die Stoffe in Frage zustellen. Der Appell an die Gesundheit, die Vorschreibung und Hervorkehrung eines gesunden Lebens, kann zwar Siechtum artikulieren und in bessere Formen bahnen, nicht aber wirkliche Lebensänderung auf Dauer erreichen, solange die Gründe der Krankheit nicht zum Gegenstand gesellschaftlicher Veränderung werden.