Antiautoritäre Bewegung
"Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist....
Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden." (3. Feuerbachthes, MEW Bd.3, S. 535).
"We are fascist babies". So stand es auf mancher Klotür in den Wohngemeinschaften der sogenannten 68er Bewegung. Es war die Bewegung einer Generation, die auf den Trümmerfeldern politischer, geistiger, moralischer, seelischer und materieller Vernichtungsschlachten aufgewachsen war (siehe Rassismus), der Aufstand der Kinder, die sich als Mensch erst erfinden mussten, um nicht zu werden, was sie für ihre Eltern durch die autoritäre Charakteristik Ihrer Lebenshaltung waren. Diese kannten nur die Pflicht und die Not und die Notwendigkeit, den Schutt der Vergangenheit wegzuräumen und sich über deren Unsinn hinwegzusetzen. Das war keine Notwendigkeit, die wirkliche Not zu wenden vermochte. Nötig war eine gewaltsame Beendigung der Vergangenheit, die Befreiung aus der Erinnerung, eine Gewalt der Selbsttäuschung, die sich weiterhin - fernab von den wirklichen Lebensbedürfnissen der Menschen - um so mächtiger als bloßer Anspruch auf eine heile Welt durch Volk und Staat vermittelte, wie sie deren Grund zu verkennen suchte.
Ihre Kinder sollten als Hoffnungsträger auf eine Zukunft ohne Vergangenheit groß werden. Das konnte für sie keinen Sinn haben. Sie galten nicht als wirkliche Menschen, sondern als künftige Erwachsene, die endlich werden sollten, was den Eltern nicht gelungen war: Bedingungslos durchsetzungsfähig, klar ausgerichtet an den Strukturen der Macht, ordentlich und beflissen und einsatzbereit gegen alle Feinde des Guten – Untermenschen einer erst werdenden neuen Epoche. Gegen das Böse der Vergangenheit, das so trivial und banal entstanden und aufgetreten war (vergl. Hannah Ahrend: "Die Banalität des Bösen") und das sie deshalb kaum begriffen hatten, sollte nun das sogenannte Gute herangezogen und anerzogen werden.
So bewährte sich in einer bloß inhaltlich gewendeten Form die Maxime des Faschismus, besonders die Ideomen des Nationalsozialismus, weiterhin als die wahre Tugend des deutschen Wirtschaftswunders: Der Glaube und die Heilerwartung an das ganz Große, an das große Ganze, das nur durch Selbstlosigkeit erreicht werden kann. Da konnten sie nun alle gut mittun, die auch zuvor schon zur Stelle waren: Die Bürokraten, Lehrer, Richter, Philosophen (allen voran Martin Heidegger) und Wirtschaftsbosse (Flick & Co.). Für sie war endlich entstanden, was sie "eigenlich" schon immer erstrebt hatten.
In den 50ger Jahren wurde für den "Wiederaufbau" Deutschlands genau das bestens genutzt, was dessen Niedergang erbracht hatte – das deutsche Wesen: Fleiß, Selbstdisziplin und der Glaube an die Güte des politischen Staates, die rechte Gesinnung und die Verachtung der Andersdenkenden, der Kommunisten, Zigeuner, Juden, der Andersartigen schlechthin. Es war das Rettungsboot der entmachteten Generation des Faschismus, die den "verlorenen Krieg" beklagten und noch immer an dessen höheren Sinn glauben wollten. 68% der von der Entnazifizierung erfassten Bürger hätten weiterhin Adolf Hitler gewählt.
Totalitarismus herrschte nach wie vor – jetzt vor allem in den Wohngemächern der Kleinfamilien. Deren private Lebenswelten waren die Stätten der Zurichtung geblieben, an denen Gewalt gegen Leben verübt wurde, das nicht sein durfte was es war, und doch etwas sein musste, um an seinen höheren Sinn zu glauben – Widersinn schlechthin, ähnlich unbegreifbar wie der Nazismus, dem er entsprungen war. Ohne den deutschen Faschismus zu begreifen, konnte der Widersinn der Lebensbedingungen der Nachkriegsgeneration nicht verstanden werden. Aber Faschismus war unter solchen Bedingungen keine politische Haltung, die zu bekämpfen gewesen wäre, sondern pure seelische Gewalt.
Die Veröffentlichung der Privaträume wurde für die davon betroffene Generation daher zu einer Notwendigkeit der Selbstbildung und der erste Grund ihrer Politisierung, der Kern ihrer Radikalität. Ihr war ein tiefes Misstrauen gegen die Opferrolle ihrer Eltern zu eigen, deren politische Generatoren sich wieder aufrüsteten, die Welt zu bekehren. Nicht nur, dass sie von den Vernichtungseinrichtungen der von ihnen gewählten Faschisten "nichts gewusst haben" wollten, machte sie unglaubwürdig, sondern dass sie ungebrochen den Ungeist transportierten, der die Ungeheuerlichkeiten des deutschen Faschismus ermöglicht hatte, störte den Frieden im eigenen Haus, den Frieden der Familien. Ihre zwanghafte Unberührbarkeit von ihrer eigenen Geschichte verriet die erregte Gewalt ihrer Güte, ihre Sucht nach einem Auskommen im trauten Heim gegen eine Welt, die sie nicht mehr verstanden. Ihre Moral war nicht nur politische Legitimation, sondern auch Züchtigung jedweden Aufbegehrens, politische und psychische Gewalt in einem ... Wilhelm Reich nannte es "Zwangsmoral". Und das machte den Autor einer psychoanalytischen Strömung, der in Deutschland bis 1964 völlig vergessen war, wieder interessant.
Der deutsche Faschismus war nicht von ungefähr entstanden. Aber er ließ sich auch nicht einfach und unmittelbar als Produkt ökonomisch oder ideologisch bestimmter Politik begreifen. Nach seinem Untergang im Bombenhagel der Alliierten bemühten sich viele zutiefst erschrockene Theoretiker um die Erklärung seiner Entstehung. Aber lange bevor der Nazismus sich politisch formierte, hatte Wilhelm Reich schon ausführlich über dessen subjektive Wesenszüge gearbeitet. Im Jahr 1933, im Wahljahr Adolf Hitlers, war von ihm unter anderem auch die Schrift "Massenpsychologie des Faschismus" herausgekommen. Diese Schrift wurde auch zu einer der Grundlagen der "antiautoritären Bewegung.
Reich bearbeitete darin ein psychologisches und auch ein theoretisches Problem der Marxrezeption: Wie kann es sein, dass Menschen ihr Verlangen nach Freiheit aufgeben, sich stattdessen sogar an ihrem Objektsein begeistern können, dass sie sich einer Politik beugen und sie sogar wählen, die ganz offen nur ihre Disziplinierung und Unterordnung unter die Übermacht des Staates will. Wie können erwachsene Menschen einer Gewalt zustimmen, die sie "säubern" und gleichschalten und artig machen will und die Vernichtung von Andersartigkeit in der Metapher der Unartigkeit betreibt? Wie können sie sich wie kleine Kinder hinter einem Führer kuschen, der behauptete, dass durch solche Vernichtung das Heil der Menschen erst wirklich erreicht werde und dass man hierfür auf alles verzichten müsse, was das eigene Leben bereichert?
Sigmund Freud hatte hierauf schon 1920 eine fatale Antwort gegeben: Es sei der Todestrieb der Menschen, die menschliche Natur, die solches möglich mache. Wilhelm Reich stellte sich hiergegen wie auch gegen die Auffassung der KPD, dass es alleine bürgerliche Ideologie sei, welche die totale Unterordnung erheische. Ihm ging es um eine neue Verortung der Ideologiebildung zwischen subjektiven und objektiven Substanzen, zwischen Selbstwahrnehmung und ökonomischer Existenz.
Obwohl Reichs theoretische Entwicklung in einem Fiasko endete, muss seinem politischen und menschlichen Engagement eine vielfältige Wirkung zuerkannt werden. Die detaillierte Beobachtung repressiver Sozialisation und ihrer notwendigen Beziehungsform als Kleinfamilie hatte zur Sprache bringen können, was in den Privatnischen und Zellen der bürgerlichen Gesellschaft geborgen und verborgen wurde. Immerhin hatte auch seine Freudkritik Probleme der Psychoanalyse angerührt, die sie als Anpassungspraxis einer repressiven Gesellschaftsstruktur herauszustellen verstand.
Politisch wurden seine Beschreibungen dort genutzt, wo Selbstunterdrückung kultiviert war und sich in autoritären Charakterstrukturen niederschlug. In den 30ger Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie für die Arbeiterjugend äußerst hilfreich und ermöglichten Verbesserungen ihrer Kultureinrichtungen. Seine "Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (ZPPS)" eröffnete die erste Sexpol-Bewegung schon während der Nazizeit. In der Studentenbewegung hatten dieselben Beschreibungen zur Anerkenntnis eines "subjektiven Faktors" in der Politisierung geführt, der in Bezug zu den objektiven Verhältnissen begriffen werden konnte. Und schließlich hat die Frauenbewegung durch seine Freudkritik und seine Ausführungen zu mutterrechtlichen Gesellschaftsformen und den Verhältnissen in der patriarchalischen Kleinfamilie viel Material bekommen.
In den studentischen Kommunen wurden auf der Grundlage Reich'scher Begrifflichkeiten die Wunden der Faschistenkinder bis zum Exzess dargestellt und vermittelt. Sie litten vor allem unter Identitätsstörungen, sexuellen Konflikten, Arbeitsstörungen und Sinnkrisen. Es zeigte sich tatsächlich (z.B. in den Berichten der Berliner Kommune II), dass die Überwindung sexueller Verspannungen ein ungeheures Reservoir an Spontaneität und Produktivität freilegen konnte, die sich damals im direkten Gegensatz zu den Borniertheiten der öffentlichen Kultur verhielten. Von da her traf Reichs Darstellung von Sexualität und Hemmung zu und spielte eine zentrale Rolle in der persönlichen Emanzipation der ersten Nachkriegsgeneration, die sich in diesem Gegensatz auch politisch verstehen konnte. Aber ohne diesen muss man die persönliche Befreiung nicht unbedingt als politisch ansehen. Sie geschah auch nicht wirklich durch "freien Sex", was immer das Wort auch bedeuten mag. Solche formalisierte Freiheit wurde leicht zu einer weit sublimeren Repression, die allerdings erst später in Berichten der freien Kommunen (z.B. der Kommunen-Kommando-Gesellschaft des Otto Mühl) reflektiert wurde.
Die viel zitierte "sexuelle Revolution" der antiautoritären Bewegung beruht indes weniger auf wilden Sexualpraktiken als auf der Erkenntnis, dass Sexualität in der Gesamtheit menschlicher Bedürfnisse nur dann vollständig aufgeht, wenn sie in der Vielfalt ihrer Lebensäußerung akzeptiert und bejaht wird wie jedes andere Bedürfnis. Zur Verbreitung dieser Erkenntnis bedurfte es allerdings keiner politischen Aktivität. Dazu genügten schon die Filme von Oswald Kolle.
Politische Wirkung hatte Reich auf anderen Ebenen. Alexander Sutherland Neill, ein langjähriger Freund von ihm, gründete auf seiner Theorie die erste antiautoritäre Schule Summerhill, die zu einer der bekanntesten Einrichtungen antiautoritärer Erziehung wurde und heute noch ist. Auch Kinderläden und Kinderhäuser übernahmen viele seiner Denkanstöße, vor allem, was repressive Erziehung betraf. Sie stellten das Kind endlich als vollständigen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Beziehungen, weil sie der inneren Verknechtung von Menschen entgegenwirken wollten und die kindlichen Lebensverhältnisse als eigentümliche Welt der Kinder mit eigenen Konflikten und Entwicklungschancen anerkannten. Daher sollten vor allem auch wirkliche Beziehungen der Kinder jenseits der Kleinfamilien möglich sein, was durch die Beteiligung der Eltern an den Kinderläden geschehen konnte.