Möglichkeitsdenken
"Der Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem hat zum Gehalt, dass Individualität noch nicht ist und darum schlecht, wo sie sich etabliert. Zugleich bleibt jener Widerspruch zwischen dem Begriff der Freiheit und deren Verwirklichung auch die Insuffizienz des Begriffs; das Potential von Freiheit will Kritik an dem, was seine zwangsläufige Formalisierung aus ihm machte" (Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp 1982, S. 153f).
Nach dem von Marx erklärten Emde der Philosophie, die nichts anderes als Interpretation der bestehenden Gegebenheiten ist, rüstet sich Adorno zu ihrer Rettung durch einen Taschenspielertrick einer negativen Interpretation, die er gegen das "versöhnliche Denken" einer Analyse der Absraktionen des herrschenden und also durch seine Gewohnheiten mächtigen Lebens stellt. Aus dem Jenseits seiner Positionen gewonnen erscheint sein Denken als Spekulation des Möglichen, das als "Einspruch gegen den Mythos" der Aufklärung sich vom "Gerüst des Vorentschiedenen" (ebenda) als Inhalt aller "wahren Erkenntnis" abhebt. Indem sich Adorno als ein Philosoph des Möglichen gegen die Wirklichkeiten der Gegenwart aus dem Jenseits ihrer Verhältnisse zu verhalten sucht vermittelt er die besonderen Reize seiner Ungewissheiten, hinter denen sich alles Mögliche verstecken lässt – vor allem eine unendlich abstrakte Identität der Dichter und Denker.
Wo wirkliches Denken unmöglich wird, tritt ein Möglichkeitsdenken an seine Stelle. Es entsteht also nicht aus sich heraus – z.B. aus eigener Fantasie – sondern als Produkt einer Zwiespältigkeit im Belieben eines sich äußerlichen Zwecks, der wandelbare Ziele vorstellen kann, sofern sie mehrere Möglichkeiten – möglichst gleichzeitig im vorbestimmten Lebensraum – eröffnen können. Ein solches Denken bewegt sich zwischen Möglichkeiten des Denkens, die es in Wahrheit für sich nicht wesentlich unterscheidet und sich deshalb auch nicht entscheiden muss. Möglich ist im Grunde alles, was der eigenen Wahrnehmung – vor allem der Selbstwahrnehmung – entspricht, da alles als bloßes und abstraktes Mittel angesehen wird, das alleine durch seinen Nutzen dem Denken Gegenstand ist (siehe Pragmatismus) und höchstens der Information hierüber bedarf, um darin erfasst zu sein.
Das Möglichkeitsdenken nimmt vom Möglichen, was es brauchen kann, ohne es als Teil eines Gegenstands anzusehen (siehe hierzu negative Dialektik). Es hat auf diese Weise an etwas Teil, das ihm als Ganzes wesenlos gilt und gleichgültig ist und von ihm daher auch zur Unwesentlichkeit bestimmt ist. Der Gegenstand dieses Denkens ist darin negiert und zugleich unterworfen, also negatives Subjekt - ohne als Objekt erkannt zu sein. Solches Denken muss daher auch über die Gegenständlichkeit, über Objektivität, hinwegtäuschen, die es wahrnimmt, muss gegenständliche Wahrheit leugnen.
Das Denken, was in sich, also in seinem Inhalt ohne Beziehung auf seinen Gegenstand ist, auf diesen nur bestimmungslos - also der reinen Form nach - bezogen ist, begründet sich praktisch darin, Möglichkeiten zu nutzen, die nicht wirklich in Beziehung stehen, wohl aber bestimmte Wirkung haben. Im Prinzip ist das Möglichkeitsdenken der Pragmatismus, der sich zum Konstruktivismus emanzipiert hat, der also implizit behauptet, dass die Menschen im Einzelnen wie auch allgemeindie Welt nach ihrem Bilde gestalten könnten, wenn man sie hierin nur frei ließe und ihre Selbstentfaltung als Weltentfaltung begreifen würde und die auch zum Durchsatz bringe. Das täuscht vor allem darüber hinweg, dass dies nur durch Geld allgemein vorgestellt werden kann und somit die Geldentfaltung, bzw. das Wertwachstum zu einem Menschenbild macht, zu einer Ideologie der flexiblen Persönlichkeit. Es ist das Denken des Liberalismus, der aus den Möglichkeiten des Nutzens seine ideellen Freiheitsprinzipien schöpft, und hierdurch zugleich die sachliche Bindung, die existenzielle Abhängigkeit der Menschen von ihrem Besitz verabsolutiert. Die Wirklichkeit solcher Beziehung gibt es nur durch Geld. Letztlich ist daher das Möglichkeitsdenken die Denkform des Geldbesitzes.